Protokoll der Sitzung vom 28.09.2006

In der Frage der sonderpädagogischen Förderung gibt es also zwei Pole: Entweder man löst alle bestehenden Sondereinrichtungen auf und beschult ausschließlich integrativ, oder man installiert ein differenziertes System wie wir in Deutschland, welches aus sich heraus eine Eigendynamik entwickelt, ständig zu wachsen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es mag Sie erstaunen, aber ich habe Ihren Antrag mit sehr viel Wohlwollen gelesen. Wenn ich den Tenor Ihres Antrages richtig verstehe, möchten Sie die bestehenden Förderangebote bündeln und erweitern und an die Förderschulstandorte anbinden. Dieser Ansatz wird auch von den Fachleuten der sozialpädagogischen Förderung gefordert und kann meiner Meinung nach auch die Angebotspalette von Diagnostik, Therapie und Unterstützung vor Ort verbessern. Von daher haben Sie auch uns an Ihrer Seite, wenn dieser Antrag mit der Ernsthaftigkeit, die das Thema erfordert, von Ihnen weiter verfolgt wird.

Schon in der letzten Wahlperiode war dieses Thema Gegenstand mehrerer Debatten in unserem Hause. Dabei haben die rote und die grüne Regierungsfraktion wesentliche Veränderungen auf den Weg gebracht. Lassen Sie mich nochmals daran erinnern, dass wir uns für die Weiterentwicklung der integrativen Beschulung von Kindern in der Primarstufe und der Sekundarstufe I eingesetzt haben. Wir haben eine optionale Förderung zur Einrichtung kombinierter Förderschulen ermöglicht.

Meine Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich an dieser Stelle aber auch einige kritische Bemerkungen zum vorliegenden Antrag machen. Die von Ihnen geforderten Kompetenzzentren erinnern uns sehr an die schon installierten Familienzentren – weniger vom Namen, mehr von den finanziellen Ausstattungen her. Haben Sie im Haushalt 2006 schon über 6,9 Millionen € im Bereich der Förderschulen eingespart, so schlagen sich die Kürzungen in diesem Bereich nach dem Haushaltsentwurf 2007 nochmals mit 7,7 Millionen € nieder. Gerade an dieser Stelle müssen Sie dem Landtag erklären, mit welchen Mitteln Sie Ihre Vorstellungen untermauern wollen. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Sie durch Ihre Überlegungen wieder einmal die Kommunen und Kreise belasten wollen, was gewissermaßen auch eine konsequente Fortführung Ihrer Politik darstellt.

(Ute Schäfer [SPD]: Wohl wahr!)

In Ihrem gesamten Antrag finden sich die Vorgaben wieder, dass die Kompetenzzentren seitens der Schulträger eingerichtet werden sollen, aber Sie erwähnen an keinem Ort, wie diese Zentren finanziell ausgestattet werden, geschweige denn, welche Landesmittel in diese Projekte fließen sollen.

(Ute Schäfer [SPD]: Genau!)

Wir wissen doch alle, dass gerade die Kommunen und die Kreise mit dem Rücken zur Wand stehen

und diese zusätzlichen Kosten kaum schultern können.

Wenn wir also über zusätzliche Diagnostik nicht nur ärztlicherseits, sondern zum Beispiel auch vonseiten sonderpädagogischer Fachleute bei Besuchen in Grundschulen nachdenken, dann brauchen wir hierfür auch finanzielle Ressourcen. Wir benötigen Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer an Förderschulen und Grundschulen in Beratungskompetenz und Diagnostik und müssen dies auch mit einem Leitsystem verknüpfen, damit Eltern und Kinder sowie Lehrerinnen und Lehrer aus dem umfassenden Therapiemaßnahmenpool von Ergotherapie über Logotherapie bis hin zum Voltigieren geeignete Maßnahmen auswählen können.

Weiterhin schreiben Sie in Ihrem Antrag von der Zusammenlegung von GU und Förderschulen und lassen offen, in welchen Formen und an welchen Orten sonderpädagogische Förderung zukünftig stattfinden soll. Eine Verabschiedung vom Ziel der Integration behinderter Menschen ist mit uns nicht zu machen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Ralf Witzel [FDP]: Das will ja auch niemand!)

Auch wenn Sie in Ihrem Antrag richtigerweise feststellen, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ansteigt, so muss man schon die Frage stellen, woraus dieser Effekt resultiert. In der wissenschaftlichen Diskussion ist dieses Phänomen als Etikettierungsressourcendilemma längst bekannt und diskutiert. Die zunehmende Anzahl von Kindern und Jugendlichen im Förderschulsystem resultiert unseres Erachtens nicht aus dem Anwachsen von Defiziten und Behinderungen, sondern ist eher das Ergebnis unserer Sucht, ständig zu katalogisieren und zu selektieren.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/FDPKoalition hat mit diesem Antrag sicherlich einen positiven Beitrag zur Diskussion über die sonderpädagogische Förderung geleistet. Und es bedarf zunächst einmal meiner Zustimmung, dass hierdurch die Diskussion um die individuelle Förderung, deren Ziele wir teilen, neu belebt wird. Gleichwohl erscheint mir aber die Latte, über die Sie andere springen lassen wollen, von Ihnen recht hoch gelegt worden zu sein.

Ich bin mit meiner Fraktion durchaus bereit, in einen positiven Dialog mit Ihnen einzutreten. Unsere Ziele dabei lauten:

Erstens. Die Richtung der Diskussion muss zielführend sein: hin zu mehr Integration und weg von Selektion und Ausgrenzung.

Zweitens. Die finanzielle Ausstattung muss den neuen Anforderungen gerecht werden. Das betrifft nicht nur die sächliche Ausstattung, sondern auch Aus- und Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer.

Drittens. Zusätzliche Stellen im System des gemeinsamen Unterrichts dürfen ausschließlich nur hierfür verwendet werden und können keine Art stiller Reserve an den Schulen bilden.

Seien Sie sich auch im Klaren darüber, dass wir eine Politik zulasten der Kommunen und Kreise durch die Verlagerung der Kosten nicht akzeptieren werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind gespannt auf das Konzept der Landesregierung. Ich folge gerne der Einladung von Frau Kastner, hier in einen konstruktiven, positiven Dialog einzutreten, der das System Förderschule und gemeinsamer Unterricht, aber auch unsere Sorge für die Menschen, die sich in diesem System befinden, nach vorne trägt. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.

Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist Frau Abgeordnete Beer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich, noch einmal unter Ihrer Präsidentschaft vortragen zu dürfen.

Die Freude ist ganz meinerseits!

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die beteiligten Fraktionen dieser Koalition der Fehlsteuerung – gerade in der Bildungspolitik –

(Beifall von der SPD- Zuruf von Ralf Witzel [FDP] – Ralf Jäger [SPD]: Zugabe!)

erstmals einen Antrag zur sonderpädagogischen Förderung vorlegen, dann erwarte ich, dass Sie uns offenbaren, in welchen Referenzrahmen Sie Ihr politisches Handeln auf diesem Feld einbetten. Ich erwarte dann, dass Sie uns Ihre Zielperspektiven deutlich machen, dass Sie darlegen, wohin die Reise gehen soll und auf welchen fachlichen Grundlagen Sie fußen und aufbauen, welches Menschen- und Gesellschaftsbild Sie haben, mit

welcher Haltung und mit welchem Wertegerüst Sie Menschen mit Behinderung, mit Handicaps allgemein, und vor allem auch Menschen mit Benachteiligung begegnen, die einen speziellen Förderbedarf ausweisen.

Frau Kastner, ich habe da bei Ihnen keine Zweifel. Wir kennen uns aus vielen fachlichen Diskussionen und sind schon gemeinsam in Förderschulen gewesen. Aber Sie sind leider nicht alleine in dieser Koalition.

Ich frage deshalb noch einmal nach, weil ich gerade in dieser Woche erleben musste, wie auf einer Podiumsveranstaltung in Vertretung von Frau Pieper-von Heiden in Paderborn der Fraktionsvorsitzende der FDP im Paderborner Rat die Frage, warum im aktuellen GTK-Prozess die Frage der Integration von Kindern mit Behinderungen in der Kita nicht in die Vereinbarung der Beteiligten aufgenommen worden ist, mit dem Satz kommentierte: Man kann sich ja schließlich nicht auch noch um jede Minderheit kümmern.

Wenn ich dann hier im Plenum die Eiferer vor Augen habe, zum Beispiel Herrn Witzel, der ausruft, dass der gemeinsame Unterricht gescheitert sei, wie es das Plenarprotokoll vom 16. Februar festgehalten hat, dann wird mir angst und bange um das, was Eltern in dieser Frage mühevoll erkämpft haben und was mit Unterstützung engagierter Schulen im gemeinsamen Unterricht gelingt, nämlich um die Leistungen, die auch gerade im gemeinsamen Unterricht bei Schüler/-innen mit und ohne Behinderungen erzielt werden können. Dort setzt sich nämlich ein ganz anderes Unterrichten durch, und es muss sich auch durchsetzen; es ist nämlich die viel beschworene individuelle Förderung. Anders geht es im gemeinsamen Unterricht gar nicht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Im Gegensatz zu dem GU-Experten Herrn Witzel habe ich den GU in einer Schule nicht nur mit initiiert, sondern meine Kinder durften auch an diesem Unterricht teilnehmen. Ich kann die Ergebnisse der Forschungen von Hans Wocken über Ulf Preuss-Lausitz bis hin zu Andreas Hinz nur bekräftigen.

Im Antrag allerdings wird die bildungspolitische Bewertung des GU entgegen aller empirischen Ergebnisse einseitig auf die soziale Integration reduziert. Benachteiligung und soziale Beschädigungen durch das Auswandern werden überhaupt nicht thematisiert.

Ich vermisse ebenso wie Herr Trampe-Brinkmann schmerzlich den Bezug zur Salamanca-Erklärung,

der Deklaration zur Pädagogik der besonderen Bedürfnisse, 1994 schon zur Weltkonferenz der Unesco verabschiedet. Die Salamanca-Erklärung fordert alle Regierungen auf, die zielgerichtete Verbesserung der Schulsysteme so anzulegen, dass alle Kinder unabhängig von ihren individuellen Schwierigkeiten in das Regelschulsystem einbezogen werden können.

Frau Kastner, wenn Sie gerade in Bezug auf die Förderschulen auf die Demografieeffekte hinweisen, dann ist das doch nur noch ein zusätzliches Argument, genau diesen Weg zu gehen.

Wie sind denn da in Bezug auf Salamanca eigentlich Ihre Zielperspektiven? – Dazu gibt es in Ihrem Antrag keine Aussagen. Diese Ziele wollen Sie offensichtlich auch gar nicht anstreben und unterstützen.

(Beifall von den GRÜNEN)

In welchem Bezug steht Ihr Antrag zur Kinderrechtskonvention oder zum Antidiskriminierungsgebot? – Das Wort „Normalität“ oder der Begriff der „Inklusion“ scheinen Fremdworte für Sie zu sein. Ich weiß, dass die Fachpolitiker/-innen der CDU sie eigentlich im Repertoire haben müssten. Warum tauchen sie dann hier nicht im Text auf?

Die Klarstellung all dieser Bezüge ist in der Tat sehr wichtig, weil es eben diese irrlichternden Teile in dieser Koalition der Beteuerung gibt.

Es gibt keinen Passus in Ihrem Antrag, der unser Schulsystem mit seinen hohen Anteilen an Förderschulen reflektiert. Prof. Wocken hat in dem Vorwort zu seinem Forschungsbericht über Förderschulen in drei verschiedenen Bundesländern hart, aber zutreffend formuliert: Förderschulen sind nämlich

„Einrichtungen, die nicht im Blickpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Es sind Einrichtungen für Kinder ‚am Rande der Normalität’“.

Etwas weiter führt er aus:

„Gerhard Gotthilf Hiller … hat diese Einrichtungen im ‚Bildungskeller der Gesellschaft’ angesiedelt. Die Rede ist nicht von irgendwelchen Subkulturen und Unterwelten, sondern von der untersten Stufe des hierarchisch gegliederten Schulwesens.“

Ich erinnere mich noch sehr gut an meine erste Begegnung mit Mats Ekholm, dem damaligen Direktor der schwedischen Bildungsagentur, in der ersten Nach-Pisa-Diskussion. Unser Gesprächsthema war unter anderem der bildungspolitische Sonderfall Deutschland mit seinen Schulen für

Schüler/-innen mit Lernbehinderungen. Das System unserer Sondereinrichtungen einem internationalen Gast zu erklären und zu begründen ist übrigens auch heute noch eine ganz besondere Herausforderung.

Es geht darum, die Frage zu reflektieren, warum der Anteil der ausländischen Schüler/-innen an Förderschulen so hoch ist, warum der Anteil armer Kinder dort so hoch ist, warum es eine soziale Vererbung im Bildungssystem gibt, die nicht nur darin besteht, die Reihe der Juristen in einer Familie zu beschreiben – von Großvater, Vater und Sohn, die am Traditionsgymnasium gelernt haben –, sondern eben auch die zunehmende Zahl von Schüler/innen an Förderschulen zur Kenntnis zu nehmen, deren Eltern auch schon dort waren. Dazu gibt es kein Wort von Ihnen in diesem Antrag.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es gibt keine Reflexion darüber, warum wir überhaupt so vielen Kindern das Etikett auf die Stirn drücken müssen: Du bist ein Sonderfall, du gehörst nicht zu uns, sondern du musst woandershin.

So hätte ich mir von dem Antrag in der Tat auch versprochen, dass Sie einmal einen Blick über den Zaun werfen, zum Beispiel nach Finnland. Denn da ist es offensichtlich anders, gerade auch mit der Definition des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Denn dort wird die Förderung für ca. 17 % aller finnischen Schüler angeboten. Das fußt darauf, dass die finnische Schule von eins bis neun, die Peruskoulu, per definitionem eine Schule für alle schulpflichtigen Kinder ist. Deshalb gehören Speziallehrkräfte zu jedem Kollegium. Sie heißen Speziallehrkräfte, weil sie eben nicht gesondert irgendwo anders arbeiten, sondern in der Schule für alle.