Protokoll der Sitzung vom 25.10.2006

Frau Meurer, Sie haben das Wort für die SPDFraktion. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, ich werde versuchen, mich daran zu halten. Danke für den Hinweis.

Wieder stehen wir hier – nach dem tragischen Todesfall eines zweijährigen Jungen. Und wir stellen uns die Frage nach dem Warum.

Die Behörden waren informiert. Sie wussten, dass der Junge schon als Säugling misshandelt worden ist, aber es ist nichts geschehen. Es hat ganz gegen die sonstige Gewohnheit niemand weggesehen. Die Nachbarn haben hingesehen. Es wurde gewarnt, doch es wurde nicht gehandelt.

Täglich fordern uns die Öffentlichkeit, die Medien, Zeitungen, Magazine, Radio und Fernsehen auf, endlich zu handeln. Die „Heinsberger Nachrichten“ titeln am 20. Oktober:

„Gesucht: Schutz für gefährdete Kinder – Laut einer Studie sind auch Kinderheime oft überfordert. Rufe nach Frühwarnsystemen werden lauter. Wird zu viel experimentiert?“

Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt in ihrer Mittwochsausgabe der vergangenen Woche:

„Frühwarnsystem gegen Misshandlungen – Stoiber für Pflichtuntersuchung von Kindern – Bayern und Hessen wollen die medizinische Vorsorge auch im Alleingang gegen den Bund durchsetzen“

Auch mit Pflichtuntersuchungen ist noch lange nicht verhindert, dass Gewalt gegen Kinder ausgeübt wird. Es ist lediglich ein Schritt in die richtige Richtung.

Der Tod von Kevin hat deutlich gemacht, dass Wahrnehmen und Warnen nicht genügen. Wir alle sind zum Handeln aufgefordert.

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, Sie handeln und schreiben einen neuen Antrag. Sie wollen mit Ihrem neuen Antrag den gemeinsamen Antrag Drucksache 14/2580 ergänzen und schildern, was wir in Nordrhein-Westfalen doch alles schon tun. Es ist bereits Ende Oktober, Herr Minister Laschet. Wir erwarten Ihren Bericht in spätestens 66 Tagen. Dann ist der 31. Dezember 2006.

In unserem gemeinsamen Antrag steht bereits, dass es in § 12 des Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsschutz rechtliche Möglichkeiten für den Gesundheitsschutz von Kindern und Jugendlichen gibt. Nun fordern Sie eine Expertenkommission zur Begleitung und Unterstützung eines weiteren Aufbaus wirksamer Kooperationsstrukturen. Damit sind wir einverstanden, und es ist auch die Beschlusslage in dem gemeinsamen Antrag.

Im zweiten Spiegelpunkt wiederholen Sie dem Grunde nach die Forderung aus dem gerade einmal einen Monat alten gemeinsamen Antrag nach Verstetigung der Erfahrungen aus dem Modellprojekt „Soziale Frühwarnsysteme“.

Und auch der dritte Punkt Ihrer Forderungen, meine Damen und Herren von FDP und CDU, ist eine Wiederholung dessen, was wir bereits gemeinsam mit allen vier Fraktionen beschlossen haben; Sie erinnern sich. Ich zitiere aus dem gemeinsamen Antrag:

„Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

… darzulegen, welche konkreten Maßnahmen zur Qualifizierung und Sensibilisierung der Fachkräfte auch in Kindertagesstätten und Schulen beitragen können“

und welche Maßnahmen von wem „eigenverantwortlich umzusetzen sind“.

Neu ist – wenn wir als neu eine Selbstverständlichkeit darstellen wollen –, Bundesministerin von der Leyen in ihrem Bemühen, den Schutz von Kindern auch im Grundgesetz zu verstärken, zu unterstützen. Damit allein ist allerdings kein Kind wirklich vor Gewalt geschützt und verschont.

Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Es gibt nichts wirklich Neues und nichts, dem wir unsere Zustimmung verweigern könnten. Es bleibt, Sie, Herr Minister Laschet – wie im Antrag Drucksache 14/2580 geschehen –, zum Handeln aufzufordern. Kämpfen Sie mit Ihren Kollegen aus Hessen, Bayern und den anderen 13 Bundesländern, und verlieren Sie keine Zeit mit Angriffen auf die Familienministerin. Sie können ihr doch mit einem Best-Practice-Beispiel aus Nordrhein-Westfalen – es ist übrigens aus Ihrem Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, übernommen; für den nicht anwesenden Ministerpräsidenten gerne auf Deutsch: ein gutes Beispiel aus der Praxis aus Nordrhein-Westfalen – zeigen, wie wir alle vorbeugen können.

Gehen Sie doch einmal nach Dormagen. Das ist nicht so weit wie Dänemark und das dänische Königshaus.

(Minister Armin Laschet: Ich war schon in Dormagen!)

Fantastisch, Herr Minister! Dann schicken Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP auch einmal dorthin. Denn auch dort wird praktiziert, was in Dänemark gang und gäbe ist.

Lassen Sie sich von Bürgermeister Heinz Hilgers einmal erläutern, wie er jedes neugeborene Kind und seine Eltern aufsuchen lässt, wie er die Eltern von Kindern, die nicht in einer Kindertagesstätte von Dormagen angemeldet wurden, zu Hause besuchen lässt. Fragen Sie den Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, eben diesen Bürgermeister Heinz Hilgers, wie und warum er dies trotz Haushaltssicherung tut!

Jeder Cent, der jetzt zum Schutz, aber auch zur Betreuung, zur Erziehung und zur Bildung unserer Kinder ausgegeben wird, spart später Geld.

Denken Sie über ein Belohnungssystem wie in Finnland nach! Dort erhalten Mütter während der Schwangerschaft eine Baby-Erstausstattung im Wert von 140 €, wenn sie selbst an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen.

Unterstützen Sie eine Initiative auf Bundesebene, die das Recht der Kinder auf eine optimale gesundheitliche Versorgung und Vorsorge im Bürgerlichen Gesetzbuch verankern will, und zwar gleichrangig mit dem in § 1631 Abs. 1 BGB verankerten Recht auf eine gewaltfreie Erziehung; das haben wir nämlich schon. Damit wäre ein zusätzlicher Schutz für Kinder gesetzlich festgeschrieben.

Und holen Sie, Herr Minister Laschet, Herrn Finanzminister Linssen – er ist jetzt nicht anwesend – ins Boot!

(Minister Armin Laschet: Der ist im Boot!)

Kinder kosten. Aber jeder Euro, jeder Cent ist eine Investition in die Zukunft – unsere Zukunft.

Wir stehen hier vor einer gemeinsamen Aufgabe von Bund, Land und Kommunen. Wenn – wie im laufenden Haushaltsjahr 2006 geschehen – den Kommunen durch Ihren Haushalt, Herr Laschet, mit dem Wegfall des Elternausgleichsdefizitbeitrages Geld für die institutionalisierte Betreuung von Kindern genommen wird, dann werden Eltern zusätzlich belastet. Dann werden weniger Kinder die öffentlichen Einrichtungen der Kindertagesstätten besuchen.

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, so nutzt die Weiterentwicklung der Tageseinrichtungen für Kinder zu Familienzentren nichts. Diese wurde übrigens vom CDU-Bürgermeister Josef Offergeld aus der Kreisstadt Heinsberg abgelehnt, weil Sie angeblich nicht genügend Geld bereitstellen. So bringt diese Weiterentwicklung mit dem Anspruch, auf diese Weise rechtzeitig Risiken und Gefährdungen zu erkennen, gar nichts. Denn die Kinder werden nicht erreicht, und die, die es sich leisten können, lassen ihre Kinder anders betreuen. Kindesmisshandlung ist nicht nur ein Problem von sozial schwächer Gestellten – Kindesmisshandlung passiert in allen gesellschaftlichen Gruppen.

Ich fordere Sie wie schon in meinen früheren Reden zum Schutze unserer Kinder auf: Machen Sie sich Gedanken darüber, wie Sie Kinder erreichen, die keine Kindertagesstätte besuchen! Wir als SPD-Fraktion im Landtag haben dazu Vorschläge gemacht. Wir fordern Sie auf, das letzte Kindergartenjahr beitragsfrei zu stellen und verpflichtend zu machen.

(Christian Lindner [FDP]: Wer soll das be- zahlen? Wer hat so viel Geld?)

Nichtsdestotrotz dürfen wir nichts unversucht lassen. – Ein wunderschönes Lied, Herr Kollege, ganz toll! Wer soll das bezahlen? – Nehmen Sie Geld in die Hand. Wir haben genug.

(Christian Lindner [FDP]: Sie leben nach dem Motto: Ist der Haushalt erst mal ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert!)

Wunderbar, wunderbar. Dann schauen Sie einmal, wo Sie das Geld hinschieben, das wir haben: Reiterstaffeln, ganz wunderbar! Privatschulen, ganz toll! Lauter tolle Sachen, die Sie damit machen, die damit gar nichts zu tun haben.

(Beifall von der SPD)

Wir müssen für die Kinder sorgen und brauchen keine „wunderbare“ Symbolpolitik. So nicht, meine Damen und Herren von CDU und FDP, so nicht!

Frau Kollegin Meurer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des FDPAbgeordneten Herrn Ellerbrock?

Ich möchte mich an die gekürzten Redezeiten halten. Herr Ellerbrock, wir können ein anderes Mal im Ausschuss darüber reden.

Also nein.

Nichtsdestotrotz dürfen wir nichts unversucht lassen, alles, aber auch wirklich alles zu unternehmen, um Kinder zu schützen.

Die Redezeit ist zu Ende. Sonntagsreden nach tragischen Todesfällen von Kindern haben wir alle genug gehört. Jetzt ist es an der Zeit, das Basiselement 3 aus unserem nordrhein-westfälischen Modellversuch eines sozialen Frühwarnsystems aufzugreifen.

Handeln, meine Damen und Herren – liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole –, Handeln ist angesagt. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der SPD)

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Meurer. – Für die Grünen hat jetzt Frau Asch das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh, sagen zu können, dass es nicht erst der schreckliche Tod von Kevin war, der uns veranlasst hat, dass wir hier im nordrhein-westfälischen Landtag das Thema Gewalt gegen Kinder auf die Tagesordnung gehoben haben.

Wir hatten vor gut einem Jahr als grüne Fraktion einen Antrag zu einem besseren Schutz von Kindern gestellt. Ich war sehr froh, als sich abgezeichnet hat, dass es in diesem Haus Themen gibt, bei denen sich alle Fraktionen zusammenraufen und bei denen wir gemeinsam agieren. Das sind die großen Themen, die unter die Haut gehen, bei denen wir zumindest manchmal an einem gemeinsamen Strang ziehen: Das war die Verteidigung der Demokratie gegen Rechts, das war das jüdische Leben in Nordrhein-Westfalen und ein Thema wie der Schutz von Kindern vor Missbrauch, vor Gewalt, vor Vernachlässigung.

Wir haben uns in einem längeren Arbeitsprozess auf einen gemeinsamen Antrag, auf einen Antrag aller vier Fraktionen hier im Hause geeinigt und gemeinsame Inhalte, gemeinsame Forderungen zur Umsetzung an die Landesregierung gestellt. Auch für die Zeit nach dem geforderten Bericht der Landesregierung, der Ende 2006 kommen soll, hatten wir uns auf ein weiteres Verfahren – Expertenanhörung etc. – verständigt. Das, meine Damen und Herren, war ein angemessener Umgang mit einem der drängendsten Probleme, die in diesem Hause und in unserer Gesellschaft gelöst werden müssen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Diese gemeinsame Beschlussfassung – ich möchte das noch einmal betonen – war vor 28 Tagen, vor noch nicht einmal einem Monat. Und nun beantragen zwei dieser Fraktionen das Gleiche, was wir damals gemeinsam beschlossen haben, heute genauso bzw. sogar noch mit weniger Aspekten. Wie muss man so etwas nennen? Wie nennen Sie so etwas? Ich sage: Das ist nur als blanker Populismus zu bezeichnen, nichts weiter.