Die vor Kurzem erschienene neue Shell-Studie spricht davon, dass 15 % der Eltern massive Erziehungsprobleme haben. Rund ein Drittel der Eltern hat erhebliche Schwierigkeiten, mit der eigenen Mutter- bzw. Vaterrolle. Vernünftiges Erziehungsverhalten haben viele Eltern selber als Kinder nie kennen gelernt. Infolgedessen sind sie mit der Erziehung ihrer eigenen Kinder überfordert.
Darüber hinaus leben gerade diese Familien häufig in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Man könnte sicherlich an dieser Stelle viel über den Zusammenhang zwischen armen Eltern, armen Kindern und der daraus resultierenden schwierigen sozialen Situation reden. Wir sind mitten in dieser Armutsdebatte. Aber es geht uns heute nicht um theoretische Diskussionen. Es geht uns schon gar nicht darum – wie uns gelegentlich unterstellt wird –, das elterliche Erziehungsrecht durch die Hintertür auszuhebeln. Wir achten das verbriefte Recht der Eltern. Aber in gleicher Weise müssen wir deutlich machen, dass uns das Kindeswohl wichtig ist und wir kein Pardon kennen, wenn es verletzt wird.
Wir haben den Antrag mit dem Titel „Handlungsstrategien für einen wirksamen Kinderschutz entwickeln“ überschrieben. Es geht darum, den Eltern im Interesse der Kinder zu helfen. Der Staat soll und muss unterstützende Dienstleistungen übernehmen. Der Gedanke der Prävention sowie der Freiwilligkeit und die Kooperation mit den Eltern sind erste Schritte – so formuliert es auch der Antrag. Die Hauptzielrichtung einer guten Kinder- und Jugendpolitik ist es, Kompetenzen und Erziehungsfähigkeit in den Familien zu stärken und Unterstützung zu gewähren. Erst dann, wenn all diese Maßahmen versagt haben, hat der Staat einzuschreiten.
Dass dabei die Kommunen in besonderer Weise gefordert sind, ist in den letzten Wochen immer wieder gesagt worden. Ich wiederhole das heute noch einmal – nicht, weil ich die Verantwortung des Landes kleinreden will, sondern weil ich zu
In der Vergangenheit hat sich insbesondere die gemeinsame Arbeit der Jugendämter mit der Jugend- und Familienhilfe bewährt, auch wenn, wie im Bremer Fall, Fehler passiert sind – Fehler und Versäumnisse mit leider sehr tragischem Ende. Lassen Sie mich nichtsdestotrotz an dieser Stelle den vielen Städten und Gemeinden danken, die sich diesem Thema in unzähligen Fällen bereits verpflichtet haben. Die Städte mit eingerichteten Frühwarnsystemen gelten als Beispiel und finden immer mehr Nachahmer.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch ganz besonders auf die öffentlichen Einrichtungen wie Kindertagesstätten und Schulen zu sprechen kommen. Hier müssen die Sensoren auf Beobachtung und Empfang gestellt werden. Sicherlich kann dazu die eine oder andere Fortbildung den dort Tätigen gut nutzen. Kommen die Kinder häufiger mit Verletzungen, so müssen Erzieherinnen und Lehrer nachfragen, woher diese Verletzungen kommen. In Wiederholungs- oder Zweifelsfällen ist das Gespräch mit den Eltern zu suchen und das Jugendamt zu informieren.
Ich denke, mit der Gründung von Familienzentren können wir auf ein Stück Prävention hinweisen. Wo immer ein Verdachtsfall auf körperliche Misshandlung eines Kindes auftritt, kann von hier aus dem nachgegangen werden. Dadurch, dass die Familienzentren ganz bewusst über die Betreuung der Kinder hinausgehen, schaffen wir die Möglichkeit, sehr unspektakulär Beratung und Hilfe für diese Familien anzubieten. Die Schwelle, Hilfe zu bekommen, ist ein gutes Stück niedriger worden.
Aber nicht nur die eben genannten Institutionen tragen Verantwortung für das Wohl unserer Kinder. Es ist und bleibt unverzichtbar, dass die einzelnen Bürger selbst darauf achten, was mit den Kindern in der Nachbarschaft geschieht. Ich fordere damit nicht – damit keine Missverständnisse aufkommen – eine Art Nachbarschafts- oder Blockwart.
Was ich mir wünsche, ist vielmehr, dass alle Bürgerinnen und Bürger mit offenen Augen durch ihre Welt gehen und, wenn erforderlich, genug Courage zeigen, offensichtliche Fälle von Kindeswohlgefährdungen anzuzeigen. Eine Kultur des Wegsehens um der eigenen Bequemlichkeit willen oder um Probleme zu vermeiden, darf es nicht geben. Hier gilt es, Fürsorge für die schwächsten Glieder unserer Gesellschaft zu üben und im Zweifel lieber einmal zu viel als einmal zu wenig einem Fall nachzugehen.
Was können wir als Staat zum Schutz der Kinder veranlassen, bevor sie von den öffentlichen Institutionen, die ich eben genannt habe, nämlich Kindertagesstätten und Schulen, betreut werden? Hierzu haben erfreulicherweise alle Fraktionen im Hause vor kurzer Zeit schon einen Antrag vorgestellt. Sie haben die Landesregierung aufgefordert zu prüfen, wie die Lücke zwischen den Früherkennungsuntersuchungen und den Eingangsuntersuchungen im Kindergarten geschlossen werden kann. Die Landesregierung prüft diesen Sachverhalt und wird sich mit den ersten Ergebnissen dazu sicherlich bald melden.
Kinderschutz ist eine Gemeinschaftsaufgabe; da müssen alle Einrichtungen, Organisationen und Institutionen zusammenarbeiten. Wir hatten am Freitag letzter Woche in Hamm einen Kongress zum Thema „soziale Frühwarnsysteme“, einen Kongress, den das Familienministerium gemeinsam mit dem Institut für Soziale Arbeit in Münster ausrichtet hat. Mehr als 900 Fachleute haben engagiert über dieses wohl recht schwierige Thema diskutiert. Ich denke, die dabei erzielten Ergebnisse und stattgefundenen Erörterungen zu den Frühwarnsystemen werden, wie auch im Forderungskatalog des Antrags aufgeführt, in ein Konzept zur Verbesserung des schon jetzt bestehenden Frühwarnsystems einfließen.
Wenn wir weiterkommen wollen, brauchen wir im Sinne des Kinderschutzes, wie im Antrag beschrieben, eine weitere Vernetzung aller Kräfte und Institutionen, die mit und für Kinder arbeiten. Wir brauchen mehr Fortbildung für die in den Einrichtungen tätigen Kräfte. Wir brauchen eine Verstetigung der sozialen Frühwarnsysteme. Und last but not least sollten wir den Kinderschutz genauso in die Verfassung schreiben wie den Schutz von Tier und Natur. Die Einsicht wächst, dass wir das nötig haben.
Ich würde mich daher freuen, wenn wir in den Beratungen ungeachtet aller politischen Differenzen ein größtmögliches Maß an Gemeinsamkeiten erreichen könnten. Hier geht es nicht um politisches Schaulaufen, sondern um das Wohl unserer Kinder. – Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Kastner. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP der Kollege Lindner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“ und seine aktuelle
Verfilmung beginnen mit einer Geburt auf einem lauten Marktplatz. Die Mutter, eine Marktfrau, bringt ein Kind zwischen Fischabfällen zur Welt und überlässt es danach seinem Schicksal. Die Beiläufigkeit, mit der in Film und Roman dieses Detail geschildert wird, passt 270 Jahre nach dem historischen Zeitpunkt Gott sei Dank nicht mehr zu unserer Wahrnehmung solcher sozialen Phänomene.
Wir müssen uns der Aufgabe stellen – nicht nur in der Politik, sondern in der Gesellschaft insgesamt –, der gewachsenen Sensibilität und Aufmerksamkeit Taten folgen zu lassen. In den OECD-Ländern versterben nach einer Statistik in jedem Jahr rund 3.500 Kinder unter 15 Jahren an den Folgen körperlicher Misshandlung und Vernachlässigung. Laut dieser Statistik gibt es in Deutschland in jeder Woche zwei Todesfälle, die mittelbar oder unmittelbar auf dieserlei Vernachlässigungen zurückzuführen sind.
Kindstötung und Verwahrlosung – das habe ich mit dem Bezug auf die Literaturvorlage auszudrücken versucht – sind keine neuen Phänomene; sie kommen immer wieder vor. Trotzdem darf uns das nicht beruhigen, sondern wir müssen uns eher glücklich schätzen, dass die Sensibilität für dieses Thema gewachsen ist.
Jetzt kommt es darauf an – das hat Frau Kastner dargestellt –, dass wir nach den Gesetzmäßigkeiten der Mediendemokratie nicht nur eine Symboldebatte führen, sondern in der Gesellschaft insgesamt auch dazu überzugehen, eine größere Problemwahrnehmung, ein größeres Problembewusstsein in der Nachbarschaft und hinreichende Strukturen zu schaffen, um den Eltern, aber vor allen Dingen den Kindern zu helfen, ihre Lebenschancen zu nutzen.
Kindstötung und Verwahrlosung stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Lebenssituation der Eltern; zumeist sind Väter und/oder Mütter krank, rauschgiftsüchtig oder aus anderen Gründen nicht in der Lage, mit ihrem Kind umzugehen. In der Regel handelt es sich bei getöteten Kindern um Neugeborene, weniger um schulpflichtige Kinder.
Kindstötung und Kindesmisshandlung sind im Übrigen auch nicht dasselbe. Eine Auswertung von 100 Kindstötungen in Schweden hat ergeben, dass in der Hälfte der Fälle der Vater oder die Mutter ebenfalls Selbstmord verübt hat. Man muss also davon ausgehen, dass die Mehrheit der Fälle mit erheblichen psychischen Störungen in der Familie, bei den Eltern zusammenhängt.
Schlüsselfaktoren sind Alkohol- und Drogenmissbrauch, Gewalt zwischen Erwachsenen, Armut und Stress.
Das muss uns vor dem Hintergrund der beginnenden gesellschaftspolitischen Diskussion, die wir führen, besorgen, denn die Zahl derjenigen, die für sich keine festgefügte Familienstruktur oder keine sichere Lebenssituation vorfinden, wächst in Deutschland. Das ist das Schlimme an der Veränderung in unserer Gesellschaft, die unter der technokratischen Überschrift „Prekariat“ geführt wird.
Früher hat Benachteiligung damit in Verbindung gestanden, dass Menschen im Erwerbsleben marginalisiert waren. Ich erinnere an Günter Wallraffs Reportagen aus den 80er-Jahren. Heute hat Marginalisierung und mangelnde soziale Teilhabe etwas damit zu tun, überhaupt keinen Kontakt mehr zum Erwerbsleben zu haben. Damit hängt zusammen, dass auch der eigene Alltag von vielen Erwachsenen nicht mehr strukturiert werden kann, dass stabilisierende Gewalten fehlen, die auch dazu beitragen, dass man sich Kindern zuwenden kann.
Herr Schultheis, ich finde es unangemessen, dass Sie bei diesem doch wichtigen und ernsten Thema rumjuxen und lachen.
Das Thema Vernachlässigung beginnt damit, dass Kinder keinen strukturierten Tagesablauf erleben, dass sie morgens nicht von Eltern nach dem Frühstück gewaschen und gekämmt zur Schule gebracht werden, sondern vielfach auf sich alleine angewiesen sind und morgens um 7:30 Uhr alleine auf dem Schulhof warten, dass die Schule aufgeschlossen wird. Damit fängt es an, und es endet damit, dass Kinder ein klassisches Mittagessen nicht kennen. Dann kommen wir schnell in den Bereich der echten Vernachlässigung mit den dramatischen Folgen.
Angesichts dieser Probleme in bestimmten Teilen unserer Gesellschaft müssen wir darüber nachdenken, wie wir zuvörderst Familien, Eltern in die Lage versetzen können, für sich selbst ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, soziale Teilhabe zu haben, Kontakt mit dem Erwerbsleben zu finden, um für sich Erziehungskompetenz und Lebenstüchtigkeit, Lebenstauglichkeit zu erwerben. Das ist eine Grundvoraussetzung.
Herr Abgeordneter Lindner, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer Kollegin Frau Beer von den Grünen?
Herzlichen Dank, Herr Präsident, herzlichen Dank, Herr Lindner. Sie haben gerade zu Recht darauf hingewiesen, wie viele Kinder erleben, dass sie ohne geregelte Mahlzeit in die Schule gehen müssen, dass für sie auch das Erleben eines gemeinsamen Essens in der Schule durchaus etwas Neues sein kann. Ich frage mich jetzt, warum Sie im Fachausschuss für Kinder und Jugend den Antrag abgelehnt haben, den wir zu dem Thema, Ernährung, Verbraucherbildung, Gesundheitskompetenz auch in Kita und Schule zu stärken, vorgelegt haben. Wir haben im Schulausschuss vereinbart, dazu eine Anhörung zu machen. Das passt für mich nicht ganz zusammen.
Wir gehen einen anderen Weg, und dieser andere Weg wird im Ergebnis erfolgreicher sein. Sie wissen, dass die Vorgängerregierung die Förderung der Horte eingestellt hat. Horte bieten ein sehr dichtes Betreuungsangebot für Kinder, das außerhalb und vor der Schule beginnen kann. Diese Koalition wird 20 % der Hortplätze, insbesondere in sozialen Brennpunkten, weiterfinanzieren. Das ist ein besserer Beitrag, als ihn Sonderprogramme leisten könnten. Ich glaube, diese verlässlichen und bewährten Strukturen zu erhalten, ist eher angemessen. Damit ist die Frage aus meiner Sicht beantwortet.
Warum widerspricht das, was Sie gerade vorgetragen haben, einer verstärkten Bildung auf diesem Feld, gerade in der Schule?
Das widerspricht der verstärkten Bildung in Gesundheitsfragen überhaupt nicht, im Gegenteil. Wir haben etwa im Bereich der offenen Ganztagsschule zusätzliche Schwerpunkte gesetzt, ein Ganztagsangebot, in dem die Mittagsmahlzeit auch eine wichtige Rolle spielen wird.
Herr Präsident, ich will zu meinem ursprünglichen Gedankengang zurückkehren, damit mir nicht zu viel Zeit verlorengeht.
Ich habe darüber gesprochen, dass wir Strukturen schaffen müssen, damit alle Eltern für sich lebenstüchtig werden. Dazu gehört ein besserer Zugang zur Erwerbsarbeit. Dazu wäre viel zu sagen. Die Positionen sind bekannt. Es gehört aber auch dazu, dass wir prüfen müssen, welche ergänzenden familienunterstützenden Maßnahmen wir einführen können.
Es geht nicht zuerst um die Krisenintervention. Wir haben in dem Antrag, den wir interfraktionell eingebracht haben, generell Maßnahmen der Krisenvorbeugung, der Krisenintervention beschrieben. Aber es geht auch darum, dass wir in der gesamten Breite der Gesellschaft ein sehr viel stärkeres Problembewusstsein schaffen, um einer Krise, bevor sie entsteht, vorbeugen zu können. Da haben wir mit dem Prozess der Familienzentren, wie wir glauben, einen ersten wichtigen Schritt getan. Einrichtungen, die sich nach innen und außen für neue Probleme und Bedürfnisse der Kinder, aber eben auch der Eltern öffnen – das kann ein neuer und starker Knotenpunkt im sozialen Netz einer Kommune sein.
Damit wollen wir nicht aufhören. Wir haben uns mit Sicherheit dem Problem zu stellen, dass die Vorsorgeuntersuchungen nicht in hinreichender Weise in Anspruch genommen werden. Der Arzt, der ein Gespräch führt, hat das erste Auge der Gesellschaft – im Rahmen der ärztlichen Schweigepflicht – auf ein Kind, auf eine Familiensituation. Deshalb müssen wir auch dort für eine stärkere Inanspruchnahme werben. Wir als FDP-Fraktion freuen uns, dass die Landesregierung einer entsprechenden Bundesratsinitiative beigetreten ist.
Meine Damen und Herren, mit dem interfraktionellen Antrag zu Vorsorgeuntersuchungen und diesem Papier von Union und FDP gibt es eine breite Grundlage, um über diese Problematik ins Gespräch zu kommen. Ich will für meine Fraktion anregen, dass wir auch in geeigneter Weise überlegen, wie wir uns parlamentarisch intensiver mit diesem Komplex befassen wollen. – Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, habe ich die herzliche Bitte an die nachfolgenden Rednerinnen und Redner, angesichts der besonderen Terminlage des heutigen
Tages die Redezeit, obwohl wir jetzt ein sehr wichtiges Thema hier beraten, vielleicht nicht ganz auszuschöpfen.