Protokoll der Sitzung vom 16.11.2006

Meine Damen und Herren, das ist aber doch wirklich nicht das, worum es hier geht. Wir reden über eine Aktuelle Stunde, wir sprechen über das Thema „Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen – Für Qualitätsverbesserungen in einem fairen Wettbewerb aller Schulformen!“.

Mein Vorredner Bernhard Recker hat sehr genau dargestellt, dass es um Qualität von Schule geht, dass es um das Leistungsvermögen von Schülerinnen und Schülern geht, dass es um die optimale Förderung von Individuen geht. Das sind die Grundgedanken, die sich konsequent durch das neue Schulgesetz ziehen.

Trotzdem werden immer wieder Behauptungen aufgestellt und Unterstellungen geäußert, die Koalition der Erneuerung – man könnte auch sa

gen: die Koalition der Bildungspolitik und die Koalition der verbesserten Chancen für Kinder in diesem Land –

(Beifall von der CDU – Unruhe und Zurufe von SPD und GRÜNEN)

wolle einen Kampf gegen die Gesamtschulen führen. Genau das ist Quatsch.

Die viel zitierten Pisa-Studien, die Auswertung der Verfahren zur Qualitätssicherung der Abiturprüfungen – alles das hat gezeigt, dass die Leistungen der Gesamtschulen im Schnitt schlechter sind. Aber, wie immer im Leben, man muss natürlich genauer hinschauen. Ich kenne gute und weniger gute Gymnasien. Ich kenne gute und weniger gute Gesamtschulen. In meiner Heimatstadt Köln kann Ihnen jeder Insider – die meisten Eltern, Schüler und Lehrer sind das auch – sagen, welche Schule als anspruchsvoll gilt, welche Schule als gut gilt, als schüler- und leistungsorientiert. Das gilt für Hauptschulen, für Realschulen, für Gymnasien und für Gesamtschulen. Diese Erkenntnis ist alles andere als neu. Da stimme ich durchaus in vielen Punkten mit Ihnen überein.

Erinnern wir uns zurück an das Ende der 60erJahre. Damals waren andere Zeiten. Ob es bessere und einfachere Zeiten waren, weiß ich gar nicht einmal. Damals bestand sicherlich ein Bedarf wie heute, über die Verbesserung des Schulsystems nachzudenken. Wir haben dann 1969 einen Schulversuch mit Gesamtschulen eingeführt. Kritiker sagen, damit sei der Bildungsnotstand erst geschaffen worden. Aber das will ich mir gar nicht zu eigen machen.

In den 80er-Jahren gab es erste kritische Reflexionen dieses Gesamtschulversuches. Schon damals ist von Insidern, unter anderem von Professor Fend, der die Projektleitung der wissenschaftlichen Begleitung des Gesamtschulprojektes übernommen hatte, dargestellt worden, dass es durchaus kritische Ansätze gibt. Ich verweise auf Publikationen aus den 80er-Jahren: 1982, 1984, 1987.

(Hannelore Kraft [SPD]: Aktuelleres finden Sie nicht?)

Man hatte schon damals den Eindruck, dass das Pendel nur langsam in eine gewisse Realitätsnähe und in eine gewisse Objektivität schwingt. Es gab erste Vermutungen, dass das traditionell gegliederte Schulsystem wohl doch gar nicht so schlecht war und ist.

Das Ganze setzt sich in den 90er-Jahren mit den Untersuchungen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung fort. Ich verweise auch darauf,

dass man in Sachsen-Anhalt nach der staatlichen Einheit überlegt hat, entgegen der Gutachten von Fachleuten eine Förderstufe einzuführen. Man hat sie eingeführt und später wieder abgeschafft. Ich verweise ferner auf die Jahre 2000 ff., als wir mit Timss, Pisa, Pisa-E und allen anderen Studien durchaus unsere Erfahrungen im Vergleich von Schulsystemen gemacht haben.

Meine Damen und Herren, mich ärgert, dass wir teilweise wider besseres Wissen manchmal immer noch anscheinend blinde Befürworter finden, die einer allein und allgemein selig machenden Gesamtschuldiskussion anhängen. Ich finde das überflüssig und störend.

(Beifall von der CDU)

CDU-Politik ist – und ich denke, dass ich für die FDP als Koalitionspartner mitsprechen kann –, dass wir keinen Schulformstreit wollen.

(Beifall von CDU und FDP – Sylvia Löhr- mann [GRÜNE]: Sie führen ihn doch gera- de!)

Wir wollen nicht in die alten ideologischen Schützengräben zurück. Wir wollen weg von einer zeitraubenden Grundsatzdebatte. Wir wollen hin zu mehr Unterricht, zu besserem Unterricht, zu mehr individueller Förderung und zu mehr und besseren Leistungen. Dafür haben wir ein gutes Schulgesetz gemacht. Alle Grundsatzdebatten stehlen uns nur Zeit, die wir im Interesse unserer Kinder besser einsetzen können.

In diesem Zusammenhang muss auch die Debatte um die Gleichbehandlung von Schulleitungen der Gesamtschulen mit Schulleitungen anderer Schulformen gesehen werden. Es geht nicht darum, jemanden schlechter zu stellen. Es geht aber auch darum, niemanden deutlich besser zu stellen. Die Aufregung und Empörung an den Gesamtschulen zeigen ja, dass es sich dort durchaus um ein Privileg handelt, das sich – was menschlich verständlich ist – niemand gerne nehmen lässt. Es hat niemanden überrascht, dass jetzt eine Vielzahl von nachvollziehbaren, mehr oder weniger nachvollziehbaren und kaum nachvollziehbaren Argumenten angeführt wird, warum alles mindestens so bleiben muss, wie es seit vielen Jahren war.

Die Details der bisherigen Besserstellung von Gesamtschulleitungen sind von meinen Vorrednern hinreichend dargestellt worden. Ich will gar nicht mehr darauf eingehen. Ich fordere Sie nur auf, unsere Energie lieber darauf zu verwenden, wie Unterricht und Unterrichtsergebnisse in den Schulen aller Schulformen in unserem Lande besser

werden können. Das lohnt sich nicht nur, sondern ist auch dringend erforderlich. – Vielen Dank.

(Beifall von CDU und FDP)

Danke schön, Herr Hollstein. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Herr Priggen.

Guten Morgen! Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Wenn man montags morgens im Fraktionsvorstand zusammensitzt und überlegt, welche Aktuelle Stunde man beantragt, ist man schon gespannt, was von den anderen Fraktionen kommt. Man schaut dann auch, was mittags tatsächlich als Ergebnis auf die Tagesordnung gesetzt wird.

Vor allen Dingen an die Kollegen der CDU gerichtet, stelle ich fest: Über Ihren Antrag auf die Aktuelle Stunde habe ich mich, ehrlich gesagt, geärgert. Ich war darüber sogar entsetzt. Herr Hollstein, Sie haben eben gesagt, dass Grundsatzdebatten in dieser Form uns nur die Zeit stehlen. Sie haben aber diese Aktuelle Stunde beantragt.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Ich will meine Worte ganz stark an die CDUKollegen richten. Leider ist Herr Stahl nicht hier. Ich verstehe in der Tat nicht, dass Sie und gerade Herr Stahl als Fraktionsvorsitzender eine solche Aktuelle Stunde beantragen. Damit machen Sie nämlich nichts anderes, als den alten, 30 Jahre währenden Kreuzzug völlig unnötigerweise zuzuspitzen.

(Zuruf von Michael Solf [CDU])

Nein, Sie haben die Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt. Vorsichtig!

Das Absurde ist Folgendes: Nach allem, was ich weiß, war Herr Stahl Elternsprecher an der Gesamtschule Bonn-Beuel und hat dort die Abiturrede gehalten. Das heißt, dass er genau weiß, worüber er redet. Trotzdem gibt er sich her und beantragt dieses Thema, um Herrn Witzel seine persönlichen Animositäten ausleben zu lassen.

Sie tun das auf dem Rücken von Schulen, die eine hervorragende Arbeit leisten.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Natürlich können sie – wie viele Schulen – besser werden. Sie sind aber gut – und die Schüler und die Lehrer, die dort arbeiten, auch.

Ich verstehe Frau Sommer sehr gut, dass sie den SPD-Kollegen alte Zitate von Gabi Behler vorhält.

Das ist völlig legitim und auch richtig. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass es Ihre Aktuelle Stunde ist, Frau Sommer; Sie hätten sie sicherlich nicht beantragt.

Ich würde von Ihnen allerdings erwarten, dass Sie Folgendes berücksichtigen: Sie sind jetzt in der Regierung und nicht mehr in der Opposition. Daher können Sie Themen nicht mehr so zuspitzen, sondern haben die Verantwortung für alle Schulen. In unserer Stadt gibt es drei hervorragende Gesamtschulen. Auch für diese Schulen haben Sie die Verantwortung.

Ich glaube nicht, dass dieser Antrag für die, die an den Gesamtschulen tätig sind, sehr motivierend ist. Natürlich müssen sie ihre Arbeit ordentlich machen und alle irgendwie nach vorne bringen. Dieser Antrag wird aber auf dem Rücken einer bestimmten Schulform ausgetragen. Das kann man so nicht machen.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Frau Sommer, Ihre Zitate sind richtig; das ist gesagt worden. Wenn aber bei einem Parteitag der SPD Bewegung in diese Frage hineinkommt, dann sollte man im Interesse derjenigen, über die wir hier sprechen, auch aufseiten der CDU schauen, dass diese Debatte in einem vernünftigen Wettbewerb läuft.

Auf eines will ich hinweisen: Es gibt große Reformen in der Gesellschaft – Rente, Steuer und Schule –, die durchgeführt werden müssen und die nicht umgesetzt werden können, wenn eine der beiden großen 40-%-Parteien mit der Debatte Schindluder treibt und andere vor sich hertreibt. Das geht nicht.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Ich darf heute zu diesem Thema sprechen. Normalerweise bin ich für Energie, Bergbau und andere Fragen zuständig. Ich darf hier reden, weil ich Vater von zwei zwölf und 14 Jahre alten Kindern bin, die auf eine gute Schule gehen. Dort erlebe ich die Selektionsmechanismen an anderen Kindern mit. Daher ärgere ich mich darüber, dass eine solche Debatte auf dem Rücken von Kindern und Lehrern geführt wird. Das ist das Ärgerliche dabei.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Der Ministerpräsident hat gestern gesagt – das ist ein gutes Zitat, finde ich –, auch wenn etwas einmal beschlossen worden sei, könne man doch klüger werden. Das sollte man nicht nur beiden großen Parteien, sondern uns allen gerade in der

Frage der Schuldebatten als Maßstab mit auf den Weg geben.

Wir führen eine Pisa-Debatte darüber, dass die Bundesrepublik Deutschland und Österreich mit ihrem selektiven System in Europa weit hinten liegen. Ich gebe zu, dass ich als Ingenieur und Techniker immer angenommen habe, dass sich die Leistungsfähigkeit eines Landes auch an den technischen Standards orientiert – an dem, was wir an Maschinen und an Know-how haben. Mittlerweile haben wir Konsens darüber, dass die Bildung und die qualifizierte Ausbildung unserer nächsten Generation die beste Ressource ist. Vor diesem Hintergrund müssen Sie sich international messen lassen, ob Ihr Festhalten an der geteilten Schule auf Dauer langfristig wettbewerbsfähig ist. Wenn Sie nüchtern darüber reden, werden Sie wissen, dass das nicht der Fall ist.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

An dieser Stelle – leider ist der Ministerpräsident jetzt nicht hier – kommt die Debatte um Lebenslügen in Nordrhein-Westfalen auf einen Punkt. Eine der Lebenslügen nach 30 Jahren schulpolitischem Kreuzzug ist – das kann ich nicht anders sehen –, dass unser gegliedertes System mit den höchsten Kosten und der geringen Effizienz ausreichend für die Zukunftsaufgaben ist. Jetzt muss man zu Veränderungsprozessen kommen. Wenn wir das Ganze in dem alten Kreuzzug „Gymnasium gegen Gesamtschule“ weiterführen, ist das für alle negativ – vor allen Dingen für die Kinder.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Deswegen fordere ich Sie auf: Gehen Sie ein Stück nach vorne, und überlegen Sie doch einmal! Nennen Sie von mir aus alles Gymnasium, und fügen Sie eine Kantine dazu, und machen Sie eine Ganztagsschule daraus! Nennen Sie es „Gymnasium in der integrativen Eingangsstufe“ oder sonst wie – das ist mir ganz egal –, wenn Sie nicht über den einen Berg steigen können, so wie andere Kollegen, oder auch wir von unserer Seite, nicht über andere Berge steigen können. Sie können aber nicht an diesem System festhalten. Das ist für mich der Punkt.

Sie sind in der Regierung. Sie sind auch nicht mehr „die neue Regierung“. Sie sind eineinhalb Jahre dran. Sie haben mehr Verantwortung – ich nehme Frau Sommer ein wenig aus; das sage ich ganz ehrlich –, als Sie heute in den Debattenbeiträgen gezeigt haben. Deswegen kann das so nicht weitergehen.