Protokoll der Sitzung vom 14.07.2005

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Dafür, dass Sie so jung sind, sind Sie sehr altklug!)

sondern das ist ein Glaubenssatz, denn Freiheit ist das beste Entdeckungsverfahren für überlegene Problemlösungen. Das zeigen übrigens auch internationale Vergleichsstudien, die Sie nicht gerne zur Kenntnis nehmen. Es gibt einen Index der wirtschaftlichen Freiheit von Ländern, der jedes Jahr vorgelegt wird. Die Bundesrepublik war hier in den 70er- und 80er-Jahren in den Top Ten. Inzwischen sind wir ins Mittelfeld abgestiegen; wir können nur noch Platz 17, 18 oder 19 für uns beanspruchen. Alle Länder, die vor uns eingruppiert sind, haben mehr Wachstum, weniger Arbeitslosigkeit und interessanterweise bei der Pisa-Studie besser abgeschnitten. Das zeigt: Freiheit ist die Voraussetzung für Wohlstand, Beschäftigung und Stabilität.

Deshalb wollen wir als Freie Demokraten in dieser Landesregierung mehr Freiheit für mehr Chancengerechtigkeit für mehr Menschen möglich machen, wobei wir uns darüber im Klaren sind, dass der Preis für diese Freiheit Unterschiedlichkeit und Risiken für den Einzelnen sind. Diese Lebensrisiken kann der Staat den Menschen nicht abnehmen. Die Solidargemeinschaft kann ihnen aber helfen, wenn sie denn in einen Risikofall kommen, ihre Probleme aus eigener Kraft zu überwinden und die eigenen Grundlagen des selbstbestimmten Lebens wiederzugewinnen.

Meine Damen und Herren, gleichwohl gibt es, auch wenn wir ein anderes Staatsverständnis und ein anderes Verständnis von öffentlichen Aufgaben haben als Sie, neue sozialpolitische Herausforderungen an die Politik gerade und vor allem in Nordrhein-Westfalen. Peer Steinbrück hat sehr zu Recht darauf hingewiesen, dass es Fliehkräfte in dieser Gesellschaft gibt: arm gegen reich, Einheimische gegen Zugereiste, jung gegen alt. Wer wollte bestreiten, dass es diese Spannungslagen in unserer Gesellschaft gibt? Aber welche Fliehkräfte sind das denn in Wahrheit, die wortreich im Wahlkampf auch von Ihnen beklagt worden sind? Was ist das denn für ein Konflikt: arm gegen reich? Armut ist in der Wissensgesellschaft doch vor allem die Bildungsarmut der 22 % der 15jährigen Schüler, die laut der Pisa-Studie selbst einfachste Texte nicht lesen und verstehen können. Bildungsarmut ist doch, wenn wir, wie heute von der OECD vorgelegt wird, bei der Herkunftsfixierung unserer Schüler nur noch mit Ungarn vergleichbar sind. Der Konflikt arm gegen reich ist doch angelegt in Ihrer langjährigen Politik.

(Beifall von der FDP)

Diese Bildungsarmut ist in Nordrhein-Westfalen größer als andernorts, weil Sie nicht den Mut zu einer grundlegenden Reform unseres Bildungssystems mit mehr Freiheit für individuelle Förderung hatten und weil Ihnen - das füge ich insbesondere vor dem Hintergrund der heute geführten Debatte um die Lehrerstellen hinzu - der Mut zu einer ausreichenden Finanzierung des Schulsystems fehlte. Schulen wurden doch viel zu lange wie die Filialen einer anonymen staatlichen Großbürokratie, nämlich mit Erlassen und Verordnungen, geführt.

In Schulen, in Bildungseinrichtungen begegnen sich aber Menschen, und Menschen brauchen zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit vor allem eines, nämlich Freiheit. Solange im VEB Schule NRW die Ministerialbürokratie mehr zu sagen hat als die Verantwortlichen vor Ort, werden sich die Bildungsqualität und die Motivation der Lehrenden

und der Lernenden nicht verbessern. Das ist das Konzept, das Versprechen, mit dem wir angetreten sind und das wir umsetzen wollen: Wir wollen den Schulen mehr Freiheit einräumen, mehr Wettbewerb zwischen den Schulen etablieren, um Qualität möglich zu machen.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Sehr be- schränkt!)

- Das ist mitnichten beschränkt, liebe Frau Löhrmann.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Wo ist die Schulministerin?)

Sie berufen sich doch immer auf das Beispiel Skandinavien. Die Argumente, die Sie aus diesem Vergleich bemühen, sind aber eigentlich nur Ausdruck einer optischen Täuschung. Sie schauen nach Skandinavien und sprechen von integrierten Schulsystemen. Tatsächlich sind es aber hoch differenzierte Schulsysteme, in denen die Schulen ganz eigene Profile bilden können, in denen sie große Freiheiten haben, in denen die Schulen in einem scharfen Wettbewerb zueinander stehen, weil sie sogar noch eine Subjektfinanzierung haben. Wenn Schülerströme abwandern, dann können plötzlich keine Stellen mehr finanziert werden.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Aber alles in ei- ner Schule!)

Das ist ein ganz anderes System, ein System, in dem die Mehrzahl der Schulen weniger als 500 Schüler hat und in den Lerngruppen weniger als 18 Schüler sind. Das ist nicht der Vergleich, den Sie bemühen dürfen, um Ihre Schule der Vielfalt, Ihre „Schule für alle“ zu beschreiben. Sie müssten den Vergleich mit Bremen suchen, denn Bremen ist das Bundesland, das Ihre Einheitsschule schon realisiert hat. Bremen schneidet aber noch schlechter ab als wir.

(Beifall von der FDP - Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Ach, Herr Lindner!)

Das, was wir brauchen und bei dem wir uns, Frau Löhrmann, doch in der Beschreibung eigentlich treffen, ist ein Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik hin zu einer Ordnungspolitik. Das haben wir viel zu lange genau andersherum organisiert. Wir haben bei der Gestaltung einzelner Bildungsgänge sehr straffe Vorgaben gemacht, haben bei den Abschlüssen dann aber eine große Beliebigkeit gestattet. Die Schlussfolgerung aus der Pisa-Studie muss dagegen sein: Man muss großen Freiraum dabei lassen, Bildungsgänge zu organisieren, um ein bildungspolitisches Ziel zu erreichen, weil Schüler unterschiedlich sind und

sich die örtlichen Schulgemeinden sehr stark unterscheiden.

Die Voraussetzung dafür, dass dieser Ordnungsrahmen funktioniert, ist jedoch, dass keine Beliebigkeit, sondern eine große Verbindlichkeit beim Ende des Bildungsgangs besteht, damit die Schulen, die Schüler auf einen Abschluss vorbereiten sollen, auch klar wissen, was das Ziel ihrer Anstrengungen sein soll. Genau das haben wir uns als Landesregierung für die nächsten fünf, die nächsten zehn Jahre der neuen Bildungspolitik in diesem Land vorgenommen.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Herr Lindner gehört aber gar nicht der Landesregierung an!)

- Ach wissen Sie, Herr Remmel, Sie gehören einer Fraktion an, für die die Größe von Hühnerkäfigen zehn Jahre wichtiger war als überfüllte Schulklassen und Kindergartengruppen.

(Beifall von FDP und CDU - Johannes Remmel [GRÜNE]: Das hat etwas mit Be- wahrung der Schöpfung zu tun!)

Sie haben Ihre Legitimität, hier mitzusprechen, zunächst einmal verloren. Die müssen Sie sich neu erarbeiten. Ich sage Ihnen voraus: Der Weg wird lange sein.

Ich will noch auf einen zweiten Konflikt eingehen, den Peer Steinbrück treffend pointiert hat. Was droht denn für ein Konflikt zwischen Einheimischen und Zugereisten? Spannungen entstehen doch deshalb, weil beispielsweise 40 % der türkischen Jugendlichen in Köln ohne jeden Bildungsabschluss bleiben. Diesen Spannungen liegt doch eine verschleppte, eine verfehlte Integration zugrunde, weil Ihnen über Jahre die Entschiedenheit fehlte, auf grundlegenden Integrationszielen wie der deutschen Sprache, dem erfolgreichen Durchlaufen des Bildungssystems und dem aktiven Eintreten für die liberale Wertordnung des Grundgesetzes zu bestehen. Aber eben darauf müssen wir bei jedem bestehen, der in Deutschland leben will. Wir müssen aber gleichzeitig die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das erfolgreiche Durchlaufen des Bildungssystems und der Erwerb der deutschen Sprache möglich werden. Dazu haben Sie trotz durchaus respektabler Ansätze die Kindertageseinrichtungen und Schulen in Nordrhein-Westfalen nicht problemangemessen in die Lage versetzt.

Meine Damen und Herren, was ist das denn für ein Konflikt zwischen Jung und Alt, den Peer Steinbrück im Wahlkampf häufig genug befürch

ten musste? Das ist doch ein politisch gemachter Generationenkonflikt.

(Zuruf von Barbara Steffens [GRÜNE])

Denn es ist doch nicht natürlich, dass zwischen der Großeltern-, der Eltern-, der Kinder- und der Enkelgeneration Spannungen entstehen. Das kann vielleicht mal bei den Ausgehzeiten passieren. Aber dies ist kein natürlicher Konflikt. Dieser Generationenkonflikt ist deshalb politisch gemacht, weil Ihnen in der Bundesregierung und in der abgewählten alten Landesregierung der Mut zu einer echten, dem demographischen Wandel standhaltenden generationengerechten Reform der Sozialversicherungssysteme mit Kapitaldeckung statt Umlage gefehlt hat.

Gerade in Nordrhein-Westfalen hat Rot-Grün diesen Generationenkonflikt noch angeheizt. Das ist doch Ihre Bilanz.

(Zuruf von Barbara Steffens [GRÜNE])

Durch 110 Milliarden € Schulden, einem strukturellen Defizit von 7 Milliarden € und einer Pensionierungswelle, die auf uns zukommt, ohne dass Rücklagen gebildet worden sind, haben Sie unser Land nicht nur finanzpolitisch an den Abgrund geführt, sondern Sie sind noch einen ganzen Schritt weiter gegangen. Wer hat denn bei den Haushaltsberatungen immer Strichansätze beim Pensionsfonds beschlossen? Das war doch nicht die Opposition. Das waren Sie. Sie haben nichts dafür getan, etwa die Beamtenversorgung gegen den demographischen Wandel abzusichern. Deshalb haben Sie den Staat seiner Handlungsfähigkeit beraubt, die er angesichts der neuen sozialpolitischen Herausforderungen, die ich hier skizziert habe, eigentlich benötigen würde.

Meine Damen und Herren, Anfang der 1970erJahre reagierte der damalige Ministerpräsident Heinz Kühn auf die Herausforderungen seiner Zeit mit einem NRW-Programm 1975, das ganz konkrete Ziele und ganz konkrete Maßnahmen umfasste. Aber er setzte vor allen Dingen auf Mehrausgaben und auf mehr Staat. Heute braucht unser Land wieder ein solches Konzept, mit dem wir unsere Probleme auf mittlere Sicht bewältigen können und mit dem wir den Menschen das geben können, was sie am dringendsten benötigen: klare Orientierung, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Politik ohne Streit um jedes Detail.

Dieser Fahrplan zum neuen NRW darf aber eben nicht auf mehr Staat setzen. Wir leben doch schon viel zu lange in einer Staatsgesellschaft, in der es als abgemacht galt, dass die Entscheidungen, die der Staat für die Menschen trifft, sowohl

effizienter als auch moralisch höherwertiger sind als die Entscheidungen, die die Menschen für sich selbst treffen. Das ist aber zumindest nicht unsere Grundüberzeugung, und das war früher auch einmal nicht die Grundüberzeugung der Grünen, bevor sie ihre etatistische Wende genommen hat.

Wir werden deshalb Nordrhein-Westfalen zum Modellstandort für das Gegenmodell einer liberalen Bürgergesellschaft machen. Der Fahrplan zum neuen NRW muss deshalb auf mehr Freiheit setzen, damit unser Land wieder eine dynamische Region mit Chancen für alle werden kann. Aus dem besserwisserischen, bremsenden und überforderten Staat muss ein fairer Partner werden, der sich nicht in alles einmischt, sondern den Menschen Freiraum für die Entfaltung ihrer Ideen lässt. Das können wir bis 2015 aus diesem starken Nordrhein-Westfalen, dessen Chancen aber zu lange ausgeschlagen worden sind, machen.

(Zuruf von der SPD: Laber, laber, laber!)

Nordrhein-Westfalen wird das Wachstumsland werden, in dem jeder, der will, Arbeit findet, weil die Menschen nicht durch Bürokratie, Steuern und Abgaben gebremst, sondern durch Freiheit ermutigt werden. Nur so werden wir übrigens unseren sozialen, ökologischen und kulturellen Ansprüchen gerecht werden, ohne diese nur mit Schulden zulasten der nächsten Generation zu finanzieren, so wie Sie das bei Ihren Spielwiesen getan haben.

Nordrhein-Westfalen wird das Innovationsland, in dem die Forschung Spitzenleistungen erbringt und technologisch führende Produkte unseren Wohlstand sichern. Der pessimistische Staat des Jahres 2005, der beispielsweise in der Bio- und Gentechnologie nur Risiken und keine neuen Heilungschancen gesehen hat, wird dann ein kritischer, aber optimistischer Motor des Fortschritts geworden sein.

Nordrhein-Westfalen wird das Bildungsland, das junge Menschen optimal auf das lebenslange Lernen in einer globalisierten Welt vorbereitet. Kindertageseinrichtungen und Schulen werden alle Freiheiten und alle notwendigen Ressourcen haben, um Kinder und Jugendliche hoch individuell und bei Bedarf ganztags zu fördern. Kein Talent geht mehr verloren. Keine junge Frau und kein junger Mann muss sich mehr zwischen Kindern und Karriere entscheiden - es geht dann beides.

Dieser Koalitionsvertrag trägt die Überschrift: Land der neuen Chancen. Wir werden alles daran setzen, dass in den nächsten fünf Jahren aus dem Land der neuen Chancen das Land der wie

der genutzten Chancen geworden sein wird. - Vielen Dank.

(Beifall von FDP und CDU)

Danke schön, Herr Lindner. - Ich gebe jetzt das Wort an Herrn Minister Pinkwart.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute schon viele Reden gehört, in unterschiedlicher Qualität und unterschiedlicher Reichweite.

(Edgar Moron [SPD]: Der Höhepunkt kommt jetzt!)

Ich will Ihnen jetzt keine weitere lange Rede ankündigen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Ich meine, auch was die Orientierung anbetrifft, ist durch die Einlassungen des Ministerpräsidenten und der Sprecher der Fraktionen von CDU und FDP schon deutlich geworden, was die Koalition der Erneuerung für Nordrhein-Westfalen erreichen will und welche Werte sie leiten, um diese Ziele auch erreichen zu können.

Ich möchte mich als Mitglied der neuen Landesregierung nur noch einmal mit einem Punkt kritisch auseinander setzen, der heute Morgen von Frau Kraft für die SPD-Fraktion aufgemacht worden ist. Das war der Versuch, die Folgen und Ergebnisse bisheriger Politik in Nordrhein-Westfalen nach dem Aschenputtelprinzip auf die bisherige und die neue Landesregierung zu verteilen.

Alles, was sich in diesem Land gut oder immerhin noch einigermaßen vernünftig entwickelt hat, erklärt sie zum Besitzstand der SPD, zum Erfolg von 39 Regierungsjahren. Die Bildungsmisere, den Schuldenberg und eine Rekordarbeitslosigkeit weist sie dem Verantwortungsbereich der neuen Regierung zu.

Dieserlei gespaltene Wahrnehmung und fehlende Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für eigene Versäumnisse und für eigenes Versagen sind nicht nur nicht akzeptabel, meine Damen und Herren, das verstellt der neuen Opposition auch den Blick dafür, ihre neue Aufgabe verantwortungsvoll wahrnehmen zu können.

(Beifall von der FDP)