Protokoll der Sitzung vom 14.07.2005

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Der Weihrauch fehlt noch; doch auch der gehört in die Kirche.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Wir brauchen noch ein Messbuch!)

Deswegen wundert mich, Herr Stahl: Von was für einem Parlamentsverständnis auf Ihrer Seite zeugt es, wenn Sie uns vorwerfen, dass wir Anträge stellen und Ihre Meinung zu bestimmten Dingen hören wollen?

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Wir wollen schlicht und ergreifend Ihre Meinung zu bestimmten Dingen erfahren, damit wir wissen, was von den Ankündigungen, die wir zuhauf gehört haben, ganz konkret bleibt. Auf die Mehrwertsteuerdiskussion komme ich noch zu sprechen.

Meine Damen und Herren, die Menschen in Nordrhein-Westfalen waren am 22. Mai auf Wechsel gestimmt. Sie wollten etwas anderes. Sie wollten etwas Neues an der Regierung. Das haben sie bekommen. Ob es etwas Besseres wird, wage ich nach Ihrer gestrigen Vorstellung, Herr Ministerpräsident, zu bezweifeln. Denn die Selbstbestimmung, die Sie vorangestellt haben, heißt de facto Entsolidarisierung. Wenn Sie von Vielfalt sprechen, droht doch immer wieder die Einfalt Ihrer deutschen Leitkultur. Kohl lässt grüßen! Nicht nur mich erinnert das an die geistig-moralische Wende.

Herr Stahl, ich verstehe ja den Stolz. Ich verstehe auch das Gefühl darüber, dass Sie jetzt dran sind. Das sei Ihnen auch gegönnt. Wenn Sie dann aber die Leistungen der deutschen Einheit würdigen, frage ich doch, ob sich das nicht zumindest mit etwas Nachdenklichkeit mischt, weil das doch nun auch die Zeit war - bei aller Anerkennung -, in der die wesentlichen Reformen, die in Deutschland notwendig sind, verschlafen worden sind.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Es gehört doch zur Ehrlichkeit dazu, das auch zu sagen. Da habe ich in den letzten Jahren den Eindruck gehabt, dass auch aus Ihren Reihen, aus den Reihen der Union zumindest Einzelne weiter waren.

Wenn Sie bei all Ihrem Stolz, im Kabinett Kohl gewesen zu sein, jetzt hier den SPD-Filz kritisieren, kann ich Ihnen nur sagen: Bleiben Sie auf dem Teppich! Immerhin war Kohl bisher der einzige Kanzler in dieser Republik, der sein Ehrenwort über unsere Verfassung gestellt hat. Daran will ich dann auch erinnern, meine Damen und Herren.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Ja, die Menschen haben uns die Oppositionsrolle in NRW zugewiesen. Diese nimmt die grüne Fraktion selbstverständlich an - kritisch, aber konstruktiv und an der Sache orientiert. Wir freuen uns auf die Auseinandersetzungen hier in diesem Hause.

Ich garantiere Ihnen, Herr Ministerpräsident: Wir werden Sie an Ihren vollmundigen Versprechungen messen. Wir werden Ihnen auf die Finger gucken. Wir werden Sie daran messen, ob Sie und Ihre Regierung die Zukunftsfragen dieses Landes meistern. Das ist unser demokratischer Auftrag, und den nehmen wir selbstverständlich an.

(Beifall von den GRÜNEN)

In dem Zusammenhang betone ich aber auch: Wir Grüne werden keinen Marktschreierwettbewerb in der Opposition veranstalten. Wir werden nicht wie Sie in all den Jahren allen alles versprechen. Wir werden seriös klar machen: Wir sind jederzeit bereit, die Regierung wieder zu übernehmen. Wir werden auch nicht alles ablehnen, nur weil eine Vorlage von Ihrer Seite kommt.

Meine Damen und Herren, das Wahlergebnis ist eine Zäsur für Nordrhein-Westfalen und ein großer Vertrauensvorschuss für die rechte Seite des Hauses und auch für Sie persönlich, Herr Ministerpräsident. Sie haben im Wahlkampf viele Versprechungen gemacht, Hoffnungen geweckt und Erwartungen angestoßen. Ob Sie diese erfüllen können, wird sich zeigen. Im Interesse des Landes und der Menschen kann ich Ihnen, auch wenn wir uns das Ergebnis anders vorgestellt hätten, nur viel Erfolg wünschen. Wo wir können und das für richtig halten, werden wir Sie auch bei Ihrer Arbeit unterstützen. Aber das war’s dann auch; denn gute Mine zum bösen Spiel dürfen Sie von uns nicht erwarten.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Und böse Spiele haben Sie uns in den letzten Tagen schon genug geboten.

Beispiele gefällig? - Die Sache mit dem Kindergeld: Sie beklagen, dass 1 Million Kinder in Deutschland von Grundsicherung abhängig sind. Zur Lösung dieses Problems schlagen Sie vor, das Kindergeld um 53 € zu erhöhen. Ergebnis dieses Vorschlags wäre, dass die Eltern aller Kinder - ich betone: aller Kinder! - erheblich mehr Geld bekommen. Nur für die 1 Million Kinder, die heute in der Grundsicherung leben, gibt es keinen Cent mehr.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Das Einzige, was sich für diese Kinder ändert, ist der Name der Leistung.

Herr Rüttgers, Ihre Armutsbekämpfung heißt „mehr Geld für Reiche“. Das ist nicht nur unsinnig, das ist unanständig.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Richtiger wäre eine bedarfsorientierte Kindergrundsicherung, wie sie die Grünen seit Jahren vorschlagen. Die beschränkten Mittel müssen da ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden. Mit einer Politik der Gießkanne - und genau das schlagen Sie vor - erreicht man das Gegenteil.

Außerdem würde Ihr Vorschlag das Land rund 500 Millionen € kosten. Und wo wollen Sie die denn noch hernehmen? Wo bleibt da die viel beschworene Ehrlichkeit, meine Damen und Herren?

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Das nächste Beispiel ist die Sache mit den Lehrerstellen. Da erwecken Sie gestern mit einer der wenigen konkreten Ansagen den Eindruck: 1.000 Lehrerstellen mehr zum nächsten Schuljahr zur Bekämpfung des Unterrichtsausfalls. Das stellen Sie im gleichen Atemzug derart unter Vorbehalte, dass sich Ihre offenen Hintertürchen als wahre Scheunentore erweisen. Schlimmer noch: Mit der Verbesserung der Unterrichtssituation haben diese Stellen gar nichts zu tun. Sie dienen, wie die Vorlage Ihres Finanzministers korrekterweise ausweist, allein der Sicherung des Unterrichtsbedarfs wegen steigender Schülerzahlen.

Das ist eine Selbstverständlichkeit. Das hat die alte Regierung auch stets getan. Darum haben wir heute im Haushaltsausschuss der Vorlage selbstverständlich auch zugestimmt. Die Veränderungen haben sich zum einen durch höheren Bedarf in den Sonderschulen ergeben - das kann man nie genau prognostizieren - und zum anderen durch die flexible Schuleingangsphase, die Sie ja immer bekämpft haben, die aber politisch richtig ist und die dazu führt - was Sie offensichtlich auch wollen -, dass Kinder früher eingeschult werden.

Also tun Sie doch jetzt bitte nicht so, als wäre das etwas gegen den Unterrichtsausfall, als hätte das etwas mit dem Versprechen zu tun, das Sie im Wahlkampf gegeben haben. Es ist normales Geschäft der Regierung, das zu tun.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Die Voraussetzungen sind gegeben, und deswegen haben wir zugestimmt.

Drittes Beispiel: Was die neue Koalition und die Union uns in Sachen Mehrwertsteuer bieten, das

grenzt schon an Volksverdummung. Herr Ministerpräsident, entweder wechseln Sie Ihre Meinungen schneller als Menschen normalerweise ihre Unterwäsche oder Sie täuschen die Menschen bewusst.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Letzteres!)

Da debattieren wir hier letzte Woche ausgiebig über diese Frage, die die Menschen im Land sehr bewegt, und Sie hüllen sich vornehm in Schweigen, während Ihr Finanzminister tapfer die Fahne hochhält. Dann lesen wir vorgestern in der „Westdeutschen Zeitung“ - man höre und staune -, Sie hätten im Verbund mit Herrn Stoiber und anderen CDU-Ministerpräsidenten durchgesetzt, ein Teil der Mehrwertsteuer müsse zum Stopfen der Löcher in den Landeshaushalten verwendet werden.

Es ist ausgesprochen interessant, das zu lesen. Während Sie hier in der Öffentlichkeit dagegen wettern und die reine Lehre der Senkung der Lohnnebenkosten hochhalten, wird parallel in Berlin schon geschachert, und Herr Linssen zählt im Hinterzimmer des Finanzministeriums schon die zusätzlichen Einnahmen. Ist das die neue Ehrlichkeit?

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Damit haben Sie uns und der gesamten Öffentlichkeit ein Paradebeispiel geliefert, was von Ihrer Regierung zu halten ist.

Wenn man den Worten von Herrn Westerwelle Glauben schenken mag, dann basteln die Herren der FDP im Nadelstreifenanzug schon an den Barrikaden. Aber wer es glaubt, wird selig. Es wäre ja das erste Mal in der Geschichte, dass die FDP eine Steuererhöhung verhindert. Sie hat ja auch den fünf Mehrwertsteuererhöhungen zwischen 1978 und 1998 zugestimmt.

Bereits in der „Welt“ vom 28.06. erklärte der Generalsekretär der FDP, die Mehrwertsteuerfrage werde nicht - Zitat - „zur Bedingung für eine Koalition gemacht“. Das nenne ich Umfallen mit Ansage oder auch Herunterfallen von der Designerbarrikade.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Das passt zum hiesigen Koalitionsvertrag. Was hat die FDP im Wahlkampf nicht gestöhnt? Sofortausstieg aus der Steinkohle, Bergwerk Walsum, alles schneller, höher, weiter, Beispiel Polizeistrukturreform, Beispiel Unterrichtssicherungsgesetz und vieles mehr; das ließe sich fortsetzen. Da kann ich nur sagen: Außer Posten nichts gewesen.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Meine Damen und Herren, der zwischen CDU und FDP geschlossene Koalitionsvertrag hat das Zeug dazu, als der beliebigste und der widersprüchlichste aller Zeiten in die Geschichte einzugehen. Nur ein Beispiel: Sie geißeln beim Föderalismus die Mischfinanzierung, und im Kapitel zu den Kindern findet sich, dass Sie wünschen, dass sich der Bund bitte schön an den Kosten des Ausbaus der Kinderbetreuung beteiligt. Was denn nun, Mischfinanzierung weg oder Mischfinanzierung her? Da müssen Sie sich schon entscheiden.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Auch Ihre Regierungserklärung, Herr Rüttgers, gibt keinen Aufschluss, wohin die Reise nun konkret gehen soll. Sie waren, sind und bleiben der Meister des Ungefähren. Viel Symbolik, viele Gesten, viele schöne Worte, aber nichts dahinter - außer jede Menge Ideologie. Gesinnung statt Programm!

Eines hat mich wirklich entsetzt, Herr Ministerpräsident: Ihre Ausführungen zur Frauenpolitik. Frauen machen mehr als die Hälfte der Gesellschaft aus. Das findet man weder in Ihrer Fraktion noch in Ihrem Kabinett wieder. Da landen Sie knapp vor Saudi-Arabien. Ihr Frauenbild trotzt geradezu vor Faltenrock und Rüschenbluse. Hauptsache Kinder kriegen!

In den letzten zehn Jahren war NRW in der Politik für Frauen bundesweit ein Vorzeigeland. Das wollen Sie offensichtlich zurückdrehen. Wie wollen Sie denn die Frauenerwerbsquote verbessern? Wie wollen Sie das eingeschränkte Berufswahlspektrum für Mädchen erweitern?

(Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers: Habe ich doch gesagt!)

- Haben Sie eben nicht gesagt. Sie haben nur die zwei Themen genannt; aber wie es gehen soll, haben Sie nicht gesagt.