Aber Sie haben nicht in allem recht, Herr Laschet. Das werde ich Ihnen auch gleich darlegen. Sie haben recht damit, dass es PISA zu verdanken ist, dass Sprachförderung als vorrangiges Ziel erkannt wurde. PISA hat in der deutschen Bildungslandschaft wie ein Tsunami gewirkt. Nach den mäßigen Ergebnissen in den deutschen Ländern – nicht nur in Nordrhein-Westfalen – bei den internationalen Leistungsuntersuchungen haben die Länder in der KMK vereinbart, zukünftig Sprachförderung in den Vordergrund zu stellen. Deshalb heißt es auch in einem Papier der KMK aus dem Jahre 2002:
„Die Bildungsfunktion des vorschulischen Bereiches soll gestärkt werden. Vorrangiges Ziel ist es dabei, soziale Benachteiligungen, vor allem durch gezielte Sprachförderung, frühzeitig auszugleichen. Zu diesem Zweck erhalten Diagnosefähigkeit und Sprachförderung einen besonderen Stellenwert in der Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzieher.“
Sprachdiagnose und Sprachförderung bei Kindern im letzten Jahr vor der Schule eingeführt. Aus dieser Zeit liegen erste Erfahrungen vor, um wie viele Kinder es sich tatsächlich handelt, die eine Sprachförderung benötigen. Diese Werte, meine Damen und Herren, stimmen mit den Zahlen, die Sie mit dem Test produziert haben, bei Weitem nicht überein.
Die Stiftung Lesen geht von 25 % eines Jahrganges aus; in Hamburg wurden 12 % eines Jahrgangs ermittelt, die Sprachförderung benötigen. In NRW haben die Ergebnisse in der ersten Runde des landesweiten Sprachtests den Eindruck erweckt, als ob die Hälfte eines Jahrganges Diagnose und Förderung benötigen würde.
Und statt aus den Erfahrungen zu lernen und mit Augenmaß die Diagnostik weiterzuentwickeln, wurden die Vierjährigen in NRW in diesem Jahr in einen Flächenversuch hineingesteckt – entsprechend fallen die Ergebnisse aus.
Es geht nicht um einen Flächenversuch, sondern – meine Damen und Herren, ich zitiere aus einem Schreiben, das Frau Dr. Schulz, Kinderärztin beim Gesundheitsamt der Stadt Bonn, an den Städtetag gerichtet hat – es geht darum, eine aus kinderärztlicher Sicht standardisierte Sprachanbahnung für Erzieherinnen aller Dreijährigen in einer Einrichtung generell anzubieten. Es geht nicht darum, grundsätzlich alle Kinder zu testen. Frau Dr. Schulz führt aus: Sprachanbahnung für alle, Sprachförderung für wenige, Sprachtherapie für einzelne.
Herr Kollege Recker, Sie schreiben in einer Pressemitteilung, dass es sich bei diesem Sprachtest um eine, wie Sie sagen, „Stichprobe“ handeln würde und um mehr nicht. Ich weiß nicht, was Sie unter einer Stichprobe verstehen. Mein Verständnis ist ein anderes. Hier wurde nämlich ein ganzer Jahrgang von Vierjährigen in unserem Land als Versuchskaninchen missbraucht.
Hier wurde weniger die Sprachfähigkeit unserer Kinder getestet als vielmehr die Brauchbarkeit des Testes.
Wenn mehr als die Hälfte eines Jahrgangs im Mai an einer weiteren Prüfung teilnehmen muss, dann liegt dies weniger an den Kindern als an dem unzureichenden Verfahren.
Es wundert nicht, wenn Eltern den Sprachtest als Prüfung missverstehen und Sorge haben, dass ihre Kinder Nachteile in der Schule erleiden – erst recht nicht im Kontext der allgemeinen Hürden, die im Bildungssystem derzeit eingebaut werden, der Bewertungs- und Sortiermanie dieser Landesregierung.
Herr Minister Laschet, Ihre Einschätzung zum Testverlauf können wir natürlich so nicht mittragen, weil wir offensichtlich in zwei Welten leben. Unsere Rückmeldungen sind völlig andere als die, die Sie wohl haben.
Insgesamt besteht im Lande die Einschätzung – darin sind wir uns übrigens mit Bildungsexperten, Lehrerverbänden, Wohlfahrtsverbänden und dem Städtetag einig –, dass das Verfahren zu schnell durchgepaukt wurde, Hektik und Ängste zu Unsicherheiten geführt haben, das Testverfahren für Kinder ungeeignet und sprachwissenschaftlich fraglich ist, Erzieher und Erzieherinnen sowie Eltern nicht ausreichend informiert wurden und zudem, meine Damen und Herren, bei dem Test nicht berücksichtigt wurde, ob die Muttersprache der Kinder Deutsch ist.
Wer sich im Internet das Demovideo von einem Testverlauf anschaut, kann zudem gar nicht mehr verstehen, warum der Test überhaupt nötig gewesen ist. Kein Kind im Video hat einen Migrationshintergrund oder massive Sprachprobleme. Dafür scheinen sich Kinder phasenweise zu langweilen; denn Kinder werden nicht spielerisch herausgefordert, sondern ihnen wird ein enges Korsett eines Versuchsaufbaus aufgepresst. Nicht zuletzt mag es daran liegen, dass sich viele Kinder dem Verfahren ganz verweigert haben oder nun zur zweiten Testphase gehen müssen, darunter auch viele, die die deutsche Sprache bereits beherrschen.
Der Sprachstandstest hat das Land NordrheinWestfalen viel Geld gekostet – die Finanzpolitiker in diesem Land sollten aufhorchen –, Geld, das man besser in die Qualifizierung der Erzieher und Erzieherinnen und die Einrichtung investiert hätte, wie es die Kultusministerkonferenz empfiehlt.
Diagnose sollte ein übliches Verfahren werden. – Ja, dem stimmen wir zu. Vor Ort in den Kindergärten gibt es längst an etlichen Stellen gute Diagnoseverfahren und eine erfolgreiche Förderung. Beispiele kann ich Ihnen nennen. Diese Einrichtungen hofften, den Test nicht mitmachen zu müssen. Weit gefehlt, für jedes Kind musste ein Testbogen ausgefüllt und weitergereicht werden.
Was passiert eigentlich mit diesen Daten, Herr Minister Laschet? Aus meiner Sicht ist es eine Frechheit, die Bürger und Bürgerinnen durch entsprechende Rechtsverordnungen in einen bürokratischen Marathon zu schicken, der noch nicht einmal erprobt ist – ein bürokratischer Aufwand ohne sinnvollen Handlungsspielräume für die Akteure vor Ort. Wo vor Ort längst Professionen zur Sprachförderung zusammenarbeiten, produzieren Sie mit diesem Test fragliche Testergebnisse – ein bürokratisches Monster der liberalkonservativen Regierung, die mit dem Anspruch angetreten ist, die Bürokratie zu bekämpfen.
150.000 Unterrichtsstunden werden nach Schätzungen der GEW in Nordrhein-Westfalen an den Grundschulen ausfallen. Nun müssen 35.000 Kinder mehr als erwartet in die zweite Testphase. Die Erhöhung des Unterrichtsausfalls ist damit programmiert. Denn, Frau Ministerin Sommer, am 12. Februar sagten Sie: Zusätzliches Personal in den Grundschulen wird es für diese Aufgaben nicht geben bzw. ist nicht erforderlich.
Die Landesregierung hat mir in der Antwort auf eine Kleine Anfrage bestätigt, dass der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in NordrheinWestfalen garantiert ist. Tatsächlich stellt sich heraus, dass eine große Anzahl von Kindern gar keinen Kindergarten besucht. 33.000 Kinder haben am Test nicht teilgenommen, davon viele, die bislang nicht im Kindergarten waren. Die spannende Frage ist: Warum waren sie nicht im Kindergarten?
(Minister Armin Laschet: Was ist das für eine blöde Frage! Weil sie nicht angemeldet sind, weil sie nicht hingehen!)
Vielleicht sollten wir anstatt über den landesweiten Test lieber über den beitragsfreien Kindergarten diskutieren, der alle Kinder fördert.
Das Saarland macht es uns vor. Dort ist das letzte Jahr vor der Einschulung beitragsfrei. 99 % aller Kinder besuchen dort den Kindergarten. Sie sehen, mit richtigen Anreizsystemen kann man eine erstaunliche Wirkung erzielen.
Sprechen lernen geschieht durch Sprachanlässe, durch Vorbilder, durch Menschen, die mit den Kindern sprechen. In den Familien, in den Kindergärten geschieht dies auch, und die Kindergärten können das gut,
vorausgesetzt sie haben die richtigen, qualifizierten Mitarbeiter und die entsprechenden Rahmenbedingungen.
Frau Prof. Fried hat im Ausschuss für Schule und Weiterbildung darauf hingewiesen, dass es uns an Diagnosetradition fehlt. – Ja, dem stimmen wir zu. Sie fehlt bei den Akteuren in den Einrichtungen. Mit den landesweiten Tests lässt sich dieses Defizit allerdings nicht ausgleichen. Was wir brauchen, ist eine Qualifizierungsoffensive für Erzieherinnen.
Der Städtetag betrachtet den Test als unzumutbar. Aus der Sicht der Kommunen stellt die zusätzliche Sprachförderung einen konnexitätsrelevanten Tatbestand dar; sie fordern zu Recht eine Kostenfolgeabschätzung. Mit der im KiBiz vorgesehenen Förderung von 340 € pro Kind und Jahr werden sich die finanziellen Folgen für die Kommunen nicht abbilden lassen. Und, Herr Minister Laschet, mit diesen 340 € pro Kind billigen Sie den Einrichtungen oder auch dem Kind 6,45 € pro Woche für die Sprachförderung zu. Damit lässt sich Sprachförderung machen.
ner vernünftigen Frühpädagogik zurück! Garantieren wir allen Kindern einen Kindergartenplatz! Sorgen wir dafür, dass alle Kinder ihr Recht auf Bildung einlösen können und statten wir die Kindergärten personell so aus, dass sie die Förderung aller Kinder qualifiziert leisten können! Den Beweis dieses Schrittes, Herr Laschet, sind Sie uns auch mit dem neuen Kinderbildungsgesetz bisher schuldig geblieben.
Meine Damen und Herren von den Regierungsbänken, versuchen Sie einfach, die Probleme nicht kleinzureden, sondern gehen Sie in einen offenen Dialog über die Probleme. Nur auf diese Art und Weise haben wir die Möglichkeit, die Probleme wirklich anzugehen. Lassen Sie mich mit einem Zitat von Johann Wolfgang von Goethe schließen: „Erfahrung ist immer eine Parodie auf die Idee.“