Protokoll der Sitzung vom 24.05.2007

Die Allgemeinverbindlichkeit erklärt ist bereits für Hotels und Gaststätten, für Wach- und Sicherheitskräfte und für das Reinigungsgewerbe; für Letzteres über die Entscheidung in Berlin, dass es in das Entsendegesetz aufgenommen wurde, was ja das Vorliegen der Voraussetzung für eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung erfordert.

(Zuruf von Rainer Schmeltzer [SPD])

Es ist doch gut, dass wir es zusammen gemacht haben. – Lassen Sie mir einfach noch ein paar Monate Zeit und warten Sie ab, für wie viele von den Branchen, die ich jetzt nicht nennen konnte, bei denen ich aber ein öffentliches Interesse an

der Allgemeinverbindlichkeit sehe, wir gemeinsam die Allgemeinverbindlichkeit erreichen.

Denn es gibt einen Unterschied gegenüber der Zeit vor zwei oder drei Jahren. Das ist einfach die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass heute auch im Tarifausschuss bei den Vertretern der Arbeitgeber wieder eine bestimmte Offenheit für Allgemeinverbindlichkeitserklärungen existiert, die es eine bestimmte Zeit aus bestimmten Gründen in dieser Stärke nicht gegeben hat. Ich will es ganz vorsichtig formulieren.

In Nordrhein-Westfalen erklären sowohl die Vertreter der Gewerkschaften als auch die Vertreter der Arbeitgeberverbände im Tarifausschuss: Wir können über die Frage der Allgemeinverbindlichkeit zwar nicht ganzer Tarifverträge, aber der Entlohnung in den unteren Regionen der Tarifverträge miteinander reden.

Lassen Sie uns doch einfach diese Chance einmal ganz praktisch und pragmatisch nutzen. Ich glaube, dadurch kann man mit den Mitteln, die mir heute als Landesminister zur Verfügung stehen, einen wirksamen Beitrag dazu leisten, sittenwidrige Löhne zu verhindern, die hier im Hause niemand will.

Frau Löhrmann, es mag ja bei Ihnen anders angekommen sein, aber nehmen Sie mir bitte ab: Mir geht es nicht darum, die einen gegen die anderen auszuspielen. Allerdings muss man in der Politik auch manchmal Beispiele nennen, um bestimmte Dinge, die man in der politischen Auseinandersetzung deutlich machen will, bildlich so darzustellen, dass man überhaupt eine Debatte über bestimmte Fragen in Gang setzt.

(Vorsitz: Vizepräsident Oliver Keymis)

Ich war nie der Meinung, dass man Gerechtigkeit in einem Land herstellen kann, indem man möglichst viel nivelliert. Meine Meinung ist vielmehr: Wir können Gerechtigkeit in einem Land am besten dadurch herstellen, dass wir für viele, viele Menschen – der Anspruch muss eigentlich sein: für alle – eine Teilhabechance am gesellschaftlichen Leben schaffen. Das hat mit Bildung zu tun. Das hat vor allen Dingen auch mit Integration in Arbeit zu tun. Das hat aber auch damit zu tun, dass man bestimmte Bevölkerungsgruppen an Kultur heranführt. Deswegen ist zum Beispiel auch unser Programm, dass auch Kinder aus schwierigen Schichten ein Musikinstrument lernen können, richtig. Das sind alles Dinge, die in die richtige Richtung gehen. Da unterstützen uns viele. Wenn wir jetzt gemeinsam feststellen, dass auch wir, wie jede Gesellschaft, diese Probleme

haben, dann, meine ich, können wir in den nächsten Jahren Gewaltiges erreichen.

Denn eines ist auch wahr. Natürlich hilft uns auch die steil ansteigende Konjunktur, um die Probleme dieses Personenkreises besser lösen zu können. Dazu gehört auch das in Berlin verabredete Kombilohnmodell für 100.000 Leute ohne Teilhabe an Arbeit und Wirtschaftsaufschwung. Davon werden wir ja, wenn das nach den Größen der Länder verteilt wird, in NRW vielleicht 20.000 kriegen.

Das sind doch alles ganz konkrete Beiträge, die stark auf diese Gruppe von Menschen ausgerichtet sind. Da sollten wir uns gegenseitig nicht die Sachen um die Ohren hauen, sondern die Pläne gemeinsam umsetzen. Denn ich weiß auch, dass ich viele sozialdemokratische und grüne Sozialpolitiker in den Kommunen brauche, um diese Programme hinzukriegen. In diesem Sinne sage ich noch einmal: Ich wünsche mir in dieser Frage eine gute Zusammenarbeit. – Danke schön.

(Beifall von CDU, FDP und GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Minister Laumann. – Meine Damen und Herren, damit sind wir schon am Ende des Tagesordnungspunktes 2.

(Zurufe von Britta Altenkamp [SPD] und Rai- ner Schmeltzer [SPD]: Schon, Herr Präsi- dent?)

Ich wollte Ihnen Mut machen.

Ich rufe auf:

3 Hartz IV – Kinder brauchen mehr

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 14/4330

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Steffens das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Damit knüpfen wir direkt an das Thema an, das wir gerade verlassen haben. Man hätte die Tagesordnungspunkte vielleicht auch miteinander verbinden können. Ich finde es aber trotzdem wichtig, dass wir das jetzt separat diskutieren. Denn gerade haben wir über eine Analyse gesprochen, und in unserem Antrag sind schon konkrete Schritte benannt worden, wo wir Handlungsbedarf sehen, und zwar nicht Handlungsbedarf irgendwann, sondern jetzt sofort. Wir

betrachten es auch als wichtig, jetzt konkret darüber zu beraten, wie sich die Landesregierung und die Koalitionsfraktionen dazu verhalten.

Wenn man Revue passieren lässt, wie es damals zu dieser ganzen Hartz IV- und SGB IIGesetzgebung und den großen Diskussionen gekommen ist, dann weiß man: Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem eine Regelsatzhöhe festgelegt werden sollte. Dann hat man es sich bei den Kindern leicht gemacht und gesagt: Kinder erhalten einfach einen bestimmten Prozentsatz dessen, was der Regelsatz, die Regelleistung für einen Erwachsenen ist, nämlich Kinder bis zum 13. Lebensjahr 60 % und Kinder ab dem 14. Lebensjahr 80 % davon.

Wenn man sich in der Realität diese materielle Versorgung von Kindern anguckt und den Armutsbericht wieder hervorholt, dann stellt man fest, dass diese Regelung, dieser Umgang, aus Kindern einfach einen bestimmten Prozentsatz eines Erwachsenen zu machen, überhaupt nicht funktioniert und nicht greift. 2,65 € sind danach pro Tag für Kinder für Essen und Trinken vorgesehen. Davon kann man nicht einmal das Ganztagsessen in der Schule bezahlen. Davon kann man auch keine gesunde Ernährung bezahlen. Wir können nicht auf der einen Seite die zunehmende Zahl der Kinder mit Fehlernährungen und Falschernährungen beklagen, wenn wir auf der anderen Seite diese Summe festschreiben. 2,65 € funktionieren nicht, wenn man davon 1,98 € für das – in manchen Fällen hoch subventionierte – Ganztagsessen bezahlen muss. Dann brauchen wir uns auch keine Gedanken darüber zu machen, warum es zu Fehlernährungen kommt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aber so ist das auch bei anderen Punkten. Man muss sich anschauen, wie hoch die für Schuhe und Bekleidung vorgesehene Summe ist. Wir wissen, dass der Bedarf, den Kinder an Schuhen haben, nicht einfach 60 % des Bedarfs von Erwachsenen entspricht. Gute Kinderschuhe kosten genauso viel wie Erwachsenenschuhe. Aber im Unterschied zu unseren Füßen wachsen die Füße der Kinder noch, und sie wachsen so schnell, dass man manchmal innerhalb kürzester Zeit neue Schuhe kaufen muss. Deswegen kann man auch da nicht sagen, dass der Bedarf eines Kindes X % des Bedarfs eines Erwachsenen entspricht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch an vielen anderen Punkten haben Kinder einfach andere Bedarfe. Kinder haben nicht nur einen Bedarf an Musikinstrumenten, also an mu

sikalischer Förderung – das erkennen wir gerade, wenn wir uns die PISA-Debatte wieder vor Augen führen –, sondern sie haben auch schon in ihren frühesten Jahren einen Bedarf an Förderung: an Frühförderung im Sinne von gestalterischer, künstlerischer Förderung. Wir wissen, was die Musik zur Entwicklung der Hirnstrukturen beiträgt; wir wissen aber auch, was künstlerische Gestaltung und anderes bewirken. Deshalb muss man der Familie auch dafür Mittel zur Verfügung stellen.

Sehen wir uns weiter um, nämlich in den Schulen. Es gibt ein massives Problem mit den Schulbüchern, denn auf die Eltern kommen nicht nur die Kosten für die Schulbücher zu, die einmal pro Halbjahr oder einmal pro Jahr angeschafft werden müssen, nein, auf die Eltern kommen auch Kopierkosten und Kosten für zusätzliches Material zu.

Ich möchte wirklich jedem, der sich nicht damit beschäftigt, einmal vor Augen führen, dass gerade in bestimmten Fächern, etwa in dem Fach Kunst, von den Lehrern nicht einfach gesagt wird: „Bringt einmal einen Tuschekasten oder einen Wasserfarbkasten mit“, sondern es werden bestimmte Materialien vorgeschrieben. Zum Beispiel gehört der zweietagige Wasserfarbkasten einer bestimmten Marke dazu. Dann müssen fünf Pinsel einer bestimmten Sorte gekauft werden.

Das sind hohe Summen, die dort aufgebracht werden müssen. Das reicht dann für ein Vierteljahr. Nach einem Vierteljahr ist das nächste Thema an der Reihe. Dann müssen zum Beispiel Wachsmalstifte – aber nicht die einfachen preiswerten, sondern die dicken – gekauft werden.

All das ist hier nicht enthalten. Natürlich gibt es unterschiedliche Lösungsansätze. Man kann fordern, dass der Regelsatz an bestimmten Punkten verändert werden muss. Man kann sich aber auch überlegen, dass die Schulen bestimmte Materialien zur Verfügung stellen müssen, dass sie die Materialien den Schülern themenbezogen ausleihen und verlangen, dass sie hinterher wieder zurückgegeben werden. Auch solche Möglichkeiten muss man schaffen.

Aber es kann nicht so weitergehen, dass die Kinder von bestimmten Unterrichtsinhalten allein dadurch ausgegrenzt werden, dass sie die Materialien nicht haben. Das kann nicht angehen, und deshalb brauchen wir in diesen Bereichen dringend Änderungen.

Wir finden, dass es als Erstes einer Analyse bedarf, und zwar einer Analyse, die nicht wir Politiker vornehmen können. Obwohl ich Kinder habe,

kann ich Ihnen nicht auf Heller und Pfennig genau ausrechnen, was ein Kind welcher Altersgruppe braucht. Nein, wir brauchen eine unabhängige Kommission, die sich aus Angehörigen unterschiedlicher Bereiche zusammensetzt, die ganz speziell die Bedarfe der Kinder analysiert und die, unabhängig von der Politik, ein Instrument findet, wie diese Bedarfe kontinuierlich angepasst werden.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das, was wir jetzt im Armuts- und Reichtumsbericht festgestellt haben, werden wir mit den besten Maßnahmen und Angeboten für die Gruppe, die immer auf Transferleistungen angewiesen ist, nicht verhindern können. Wir können gegen die Arbeitslosigkeit Maßnahmen ergreifen, wir können Förderprogramme auflegen, wir können vieles machen. Aber ein Teil der Kinder und der Erwachsenen wird immer auf diese Leistungen angewiesen sein. Für die müssen wir ein Finanzierungssystem finden, mit dem die Kosten, die diese Bedarfe verursachen, abgedeckt werden können.

Unabhängig von allen anderen Maßnahmen ist dies ein Punkt, an dem wir als Politiker in der Pflicht sind. Wir müssen die Maßnahmen einleiten. Deswegen schlagen wir vor, gemeinsam mit der Bundesregierung zu handeln. Wir haben dort zwei Fraktionen, die massiv darauf einwirken können.

Eine solche Kommission einzurichten ist der eine Schritt. Aber der andere Schritt ist, auch hier so schnell wie möglich Handlungsspielräume für die betroffenen Personen zu schaffen, bis eine dauerhafte Lösung gefunden und der Bedarf analysiert ist. Wir müssen wieder Leistungen für Sonderbedarfe gewähren können, denn es kann nicht angehen, dass in bestimmten Lebenssituationen bestimmte Sonderbedarfe nicht finanziert werden können. Die Behörden müssen Spielräume haben, um die besonderen Lebenslagen dieser Kinder abfedern zu können. Wir brauchen in den Förderbereichen besondere Sachleistungen, und zwar nicht nur in der Musik, sondern auch im Sport, denn von bestimmten kostenintensiven Sportarten sind die Kinder ausgegrenzt. Wir brauchen eine Kostenübernahme für das Essen in Schulen und Kindergärten, und wir brauchen auch für Exkursionen und Schülerfahrten, die nur zu einem ganz geringen Teil finanziert werden, eine andere Regelung, damit diese Aktivitäten wieder bezahlt werden können.

(Beifall von den GRÜNEN)

Deswegen ist unser Appell, dass wir das gemeinsam auf den Weg bringen und dass wir uns in Nordrhein-Westfalen gemeinsam für die Gruppe einsetzen, die es braucht und bei der andere Maßnahmen nicht greifen.

Ich glaube, die Menschen in Nordrhein-Westfalen erwarten von uns, dass wir nicht die Augen zumachen, wenn wir das Problem erkennen, sondern dass wir mit offenen Augen versuchen, so schnell wie möglich Lösungen – zum Teil vielleicht unbürokratische – auf den Weg zu bringen. Aber wir müssen Lösungen finden, und wir können nicht sagen, das sollen die Kommunen, dieses die Eltern und jenes jemand anders lösen. Nein, wir sind in der Pflicht. Das ist unser Sozialbericht; das ist unser Land. Wir müssen jetzt etwas tun.

(Beifall von den GRÜNEN)

Viele Dank, Frau Abgeordnete Steffens. – Für die CDU-Fraktion spricht jetzt Herr Kollege Kern.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich schon auf die Diskussion im Fachausschuss. Das kann ich jetzt schon sagen, Frau Steffens. Ich denke, vieles von dem, was Sie angesprochen haben, wird über alle Fraktionen hinweg so gesehen. Über die Lösung, die in Ihrem Antrag vorgeschlagen ist, werden wir nachher noch sprechen.

Am 27. Februar dieses Jahres hielt Prof. Dr. Johann Michael Gleich von der Katholischen Fachhochschule in Nordrhein-Westfalen auf der didacta eine Rede, aus der ich zitieren möchte:

„Spätestens mit den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung erwies sich: Armut von Kindern ist nicht nur ein Problem der Dritten Welt, es stellt auch für uns ein Problem dar, zumindest, wenn wir unter Armut eine Form von sozialer Ungleichheit verstehen, welche die Betroffenen daran hindert, sich optimal zu entwickeln, selbstbestimmt am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben der Gesellschaft teilzunehmen …

Heute wachsen von rund 12 Millionen Kindern unter 15 Jahren rund 1,9 Millionen in SGB-IIBedarfsgemeinschaften auf. Da von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist, können wir vermuten, dass im Jahre 2007 bei uns mindestens jedes siebte Kind in Armut aufwächst. Realistischer erscheinen Schätzungen des Kinderschutzbundes, die davon ausgehen, dass bei uns jedes fünfte Kind von Armut im Sinne erheblicher Benachteiligung betroffen ist.“

In dem aktuellen Bericht heißt es sogar, es seien noch mehr.