Protokoll der Sitzung vom 14.06.2007

(Beifall von Manfred Kuhmichel [CDU] und Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

Fakt ist auch – da sind wir uns sicherlich einig –, dass Kompetenzprofile und Interessenlagen von Jungen und Mädchen in hohem Maße unterschiedlich sind.

Ich habe selber Erfahrungen sammeln können – sowohl als Schüler als auch als Lehrer, und zwar bei koedukativem und bei getrenntem Unterricht. Für mich steht fest, dass eine gemischtgeschlechtliche Unterrichtung der Regelfall sein sollte und für beide Seiten gewinnbringend ist.

(Beifall von der CDU)

Unter dem Dach des gemeinsamen Unterrichtens muss es uns aber gelingen, ganz konkret auf unterschiedliche Interessen, Begabungen oder Probleme einzugehen. Dabei kann und soll durchaus die Option ermöglicht werden, in bestimmten Fächern und zu bestimmten Themen differenzierte Unterrichtsstunden zu geben, um besser auf spezielle Bedürfnisse von Jungen und Mädchen eingehen zu können.

Hier muss es unser gemeinsames Ziel sein, einer Entwicklung gegenzusteuern, die Jungen tendenziell immer mehr zu Bildungsverlierern macht. Auf der anderen Seite muss es uns aber auch gelingen, Mädchen stärker zu motivieren, sich für mathematisch-technische und naturwissenschaftliche Bereiche zu interessieren.

Ferner muss es uns gelingen, den Unterschieden bei Begabungen und Interessen durch unterschiedliche pädagogische Ansätze Rechnung zu tragen, meine Damen und Herren.

Wir wissen aber auch, dass wir nicht nur in der Schule den unterschiedlichen Interessen und Problemen gerecht werden müssen. Auch das

Leben und Verhalten in der Freizeit ist oft verschiedenen Rollen zugeordnet. Insofern ist ein Gesamtkonzept aus Schule und Jugendhilfe notwendig.

(Beifall von Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

Wir wissen, dass sowohl im Schul- als auch im Jugendhilfebereich manche positive Überlegungen bereits auf den Weg gebracht oder zumindest in Vorbereitung sind.

Wir haben auch in unserem Antrag eine Fülle von Anregungen gegeben, weil wir wissen: Es muss noch viel geschehen. Wir müssen uns der Lösung dieses wichtigen Problems immer weiter nähern. Über diese unsere Vorschläge und hoffentlich auch über zahlreiche Anregungen der anderen Fraktionen möchten wir im Ausschuss mit Ihnen diskutieren. Ich glaube, dass gerade unsere Hauptforderung in unserem neuen Schulgesetz, individuelle Förderung, der Schlüssel ist, der eine angemessene Lösung ermöglichen kann und auch muss. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Recker. – Für die FDP-Fraktion hat Frau Pieper-von Heiden das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es dürfte wohl nicht Ziel der Emanzipation gewesen sein, heute festzustellen, dass wir verstärkt Jungen fördern müssen.

(Minister Karl-Josef Laumann: Warum das denn nicht?)

Nachdem sich die Gleichstellungsdebatte jahrzehntelang um Frauen und Mädchen gedreht hat, rücken nun die Jungen als benachteiligtes Geschlecht in den Vordergrund. Solche Entwicklungen nehmen überall dort ihren Verlauf, wo man über lange Zeit einseitig eine Sache überbetont hat.

(Hannelore Kraft [SPD]: Als ob es daran liegt! Sie haben nichts verstanden!)

Den Erkenntnissen verschiedener Studien zufolge sind Jungen überdurchschnittlich häufig unter den sogenannten Bildungsverlierern vertreten. Jungen machen inzwischen nur 45 % aller Gymnasiasten und Abiturienten aus. Sie sind an den Hauptschulen überrepräsentiert und an den Förderschulen mit Zweidrittelmehrheit vertreten. Unter den Kindern mit Lese- und Rechtschreibschwäche gehö

ren sogar 80 % dem vermeintlich starken Geschlecht an.

Meine Damen und Herren, kann es in unserem Interesse liegen, dass aus unseren Mädchen – in der aktuellen Ausgabe eines bekannten Nachrichtenmagazins werden sie als Alphamädchen bezeichnet – starke Frauen werden und aus unseren Jungs Loser, arme Kerle, die das Nachsehen haben? – Wir meinen: Nein!

Einer Entwicklung, die Jungen tendenziell zu Bildungsverlierern macht, muss entgegengesteuert werden. Jungen müssen gefördert werden. Mädchen dürfen dabei wiederum nicht benachteiligt werden. Jeder Junge und jedes Mädchen haben einen Anspruch darauf, mit seinen ganz eigenen Stärken, Schwächen und Nöten wahr- und ernst genommen zu werden.

Die von uns im Schulgesetz verankerte individuelle Förderung bietet eine hervorragende Basis, um die Umsetzung dieses Anliegens in der Schule zu verbessern.

Mit unserem Antrag beauftragen wir die Landesregierung, ein Maßnahmenbündel zur individuellen und gezielten Förderung in der Grundschule sowie in den weiterführenden Schulen zu entwickeln, das Jungen und Mädchen unter Berücksichtung ihres individuellen Potenzials stärker differenziert fördert. Zum Beispiel sollten die Unterschiede der Lernbedingungen und Lernwege einer Mehrheit von Mädchen und Jungen in den Förderkonzepten, etwa beim Lesen oder in den Naturwissenschaften, berücksichtigt werden.

Aber Vorsicht an der Bahnsteigkante! Es gibt jeweils eine ordentliche Anzahl von Jungen und Mädchen, die genau in jenen Bereichen über herausragende Begabungen und Fähigkeiten verfügen, die man in der Mehrzahl eher dem jeweils anderen Geschlecht zuordnet. Sie wären mit einer geschlechtsspezifischen pädagogischen Ansprache nicht zu erreichen, sondern würden dadurch eher verschreckt. Deshalb darf die Diskussion, die wir hier führen, keinesfalls allein auf das Geschlecht abgestellt werden.

Meine Damen und Herren, in der Tat sollte die Jugendhilfe stärker auf die Jungenförderung ausgerichtet und auch Sportangebote in und außerhalb der Schule angepasst werden. Jungen müssen wieder raufen dürfen, kontrolliert und fair, aber körperlich austoben müssen sie sich eben in der Regel stärker als Mädchen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel einer gelingenden individuellen Förderung wird durch die Berücksichtigung unterschiedlicher Lernwei

sen und Motivationen jedes einzelnen Schülers und jeder Schülerin erreicht, die mit dem jeweiligen individuellen Lernvermögen zusammenhängen. Die Anforderungen müssen unabhängig vom Geschlecht passgenau sein. Denkstrukturen unterscheiden sich ausdrücklich nicht nach Geschlecht, sondern nach Begabungspotenzial und Interessenschwerpunkten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, bitte Sie um Unterstützung des Antrags und freue mich auf die Diskussion im Ausschuss.

(Beifall von der FDP)

Vielen Dank, Frau Pieper-von Heiden. – Für die SPD hat jetzt Frau Abgeordnete Hendricks das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ich mich hier im Raum umschaue, stelle ich fest, dass auch Mädchen gefördert werden müssen. Denn die Parlamentarierinnen in diesem Raum

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

sind gerade nicht in der Überzahl. Normalerweise sind sie das auch nicht.

An diesem Punkt kann ich Ihnen nur sagen: Die SPD begrüßt diesen Antrag von CDU und FDP im Grundsatz.

(Beifall von Ralf Witzel [FDP])

Wir möchten ihn aber ergänzen. Herr Witzel, freuen Sie sich nicht zu früh. Dieser Antrag verrät die Hand des Fachmanns, auch wenn er ausspart, was Fachleute immer wieder fordern, nämlich eine Veränderung der Schulstruktur.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Zurufe von CDU und FDP: Oh! – Minister Karl-Josef Laumann: Das hat noch gefehlt!)

Handlungsbedarf, Herr Recker, besteht in der Tat.

Jungen fördern, ohne Mädchen zu benachteiligen, ist hochaktuell. Ein Blick in die letzte „Zeit“ verrät, dass ein großer Artikel zu diesem Thema gerade wieder veröffentlicht worden ist.

Aber, meine Damen und Herren von CDU und FDP, zugespitzt behaupten Sie: Jungen sind benachteiligt, weil sie Jungen sind. Der Bildungsverlierer von heute ist aber nicht derjenige, der Junge ist, sondern der Bildungsverlierer von heute ist der Sohn der türkischen Putzfrau. Schon in der zweiten Klasse bekommt er wieder Noten für Deutsch und Betragen, die bei seinem kulturellen und

sprachlichen Hintergrund schlechter ausfallen als es seiner Motivation gut tut.

(Zuruf von Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

Frau Pieper-von Heiden, so ist das.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Richtig ist, dass Jungen mit diesem soziokulturellen Hintergrund häufiger die Hauptschule besuchen, keinen Schulabschluss erlangen, eher auf die Sonderschule überwiesen werden, schlechtere Noten in Lesen und Schreiben haben als Mädchen und häufiger nicht angepasst sind. Das ist völlig richtig. So ist das.

Meine Damen und Herren, müssen wir nun Programme auflegen, die Jungen wegen ihres YChromosoms fördern? Das frage ich Sie. Das Schulgesetz gesteht jedem Kind und Jugendlichen das Recht auf individuelle Förderung zu, übrigens unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht.

Lösungsmöglichkeiten weisen Sie in Ihrem Antrag selber auf. Zum Beispiel in Ihrem Punkt „Grundlagen schaffen – Beobachtungskompetenz stärken“ sprechen Sie die Achillesverse des Schulalltags an. Wer hier Veränderungen haben will, muss Mittel für die Aus- und Fortbildung von Lehrern und Lehrerinnen zur Verfügung stellen. Er muss vor allen Dingen auch Lehrern und Lehrerinnen Zeit geben, damit sie das leisten können. Wenn Sie sich an die Anhörung zur Lehrerarbeitszeit in der letzten Woche erinnern, geht es nicht immer nur darum, etwas draufzupacken, sondern wir müssen die Lehrer befähigen und wir müssen ihnen Zeit geben, damit sie das auch umsetzen können.

Wir müssen Teamstrukturen schaffen, die ein anderes Lernen ermöglichen, das anders organisiert ist, kooperative Formen schaffen, Selbstlernprozesse ermöglichen, individuelles Lernen fördern, Verantwortlichkeit für den Lernerfolg an die Schule geben und den Jugendlichen die Möglichkeit einräumen, dieses auch selbst zu praktizieren.

Pragmatiker fassen Kinder und Jugendliche in Gruppen zusammen und behandeln sie gleich – übrigens in bester Absicht. Sie verteilen die Kinder möglichst in homogene Schularten. Anschließend sind Noten und Zuordnungsmerkmale diejenigen Merkmale, aufgrund derer dann die Förderung passiert. Dass das nicht funktioniert, sieht man täglich an unseren Schulen. Es kann nicht funktionieren, weil eine Übereinstimmung im Merkmal nichts daran ändert, dass Menschen ansonsten unterschiedlich sind.

Beim Unterricht, getrennt nach Geschlechtern, besteht die Gefahr, dass, wenn man das ausschließlich auf diese Merkmale bezieht, damit die individuellen Möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend wahrgenommen werden. Die Modalitäten einer Trennung muss man daher genau reflektieren und pädagogisch beobachten. Diagnosen zu stellen müssen Lehrerinnen und Lehrer lernen, sonst ist es ein Rückschritt und führt zu keinem Fortschritt.