Protokoll der Sitzung vom 15.09.2005

(Beifall von der SPD)

eben mit dem Ziel, 80.000 Betreuungsplätze hier in Nordrhein-Westfalen zu schaffen. Dieses Ziel haben wir hoffentlich immer noch gemeinsam. Und darum geht es in unserem Antrag.

Frau Kastner, Sie sagen: Dieser Antrag war nicht notwendig, das steht doch alles in der Koalitionsvereinbarung. - Lesen Sie die Koalitionsvereinbarung vor! Dann wird deutlich: Da steht überhaupt nichts drin. Das ist so unkonkret, dass man wirklich einmal nachfragen muss: Wollt ihr tatsächlich mehr Betreuungsplätze für unter Dreijährige schaffen oder wie darf man das alles verstehen? Ich habe Ihren Äußerungen jetzt entnommen, dass das so gemeint war. Aber der geneigte Leser kommt da nicht von alleine drauf.

Wir wollen mit unserem Antrag drei beziehungsweise vier ganz entscheidende Punkte noch einmal nach vorne stellen. Das Versorgungsziel ist, für 20 % der Zweijährigen ein Betreuungsangebot zu schaffen. Das ist kein Rechtsanspruch für Kinder ab einem oder zwei Jahren. Mit Verlaub: Da muss man auch ein bisschen realistisch bleiben. Man könnte das fordern, aber es ist einfach unfair, das zu tun, wenn man ganz genau weiß, dass die finanziellen Möglichkeiten dafür im Augenblick nicht da sind.

Wir wollen darüber hinaus einen sukzessiven Aufwuchs. Auch das ist, denke ich, erstens eine Frage der Fairness. Zweitens muss man sich aber auch überlegen: Welche Partner haben wir da als Land? Das kann das Land ja gar nicht alleine machen.

Der dritte Punkt ist: Wir wollen die Kommunen dabei unterstützen. Jetzt kommen wir einmal zu der Frage des Rechtsanspruchs. Dabei - das hat Frau Hack angesprochen - geht es nicht darum, wer es erfunden hat, einmal abgesehen davon, dass es eine ziemlich breite Koalition der Frauen im Bundestag gegeben hat, was die Umsetzung des § 218 betraf. Das ist das eine. Das andere ist, dass hier in Nordrhein-Westfalen beschlossen worden ist, dass die Kommunen mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz nicht alleine gelassen werden, sondern dass das Land Nordrhein-Westfalen da deutlich mithilft, auch in finanzieller Hinsicht.

(Beifall von der SPD)

Als der Rechtsanspruch auf Bundesebene beschlossen worden ist, hat die CDU hier im Land übrigens nicht mitgemacht. So weit zur Geschichtsklitterung!

Letzter Punkt: Primäre Zielgruppe sind für uns die Zwei- bis Dreijährigen. Warum? Weil nach drei Jahren die Elternzeit zu Ende ist und der Bedarf dann am allergrößten ist. Herr Lindner, ich bin voll an Ihrer Seite, zumal ich es im Moment auch in meiner Familie erlebe. Gerade für Null- bis Zweijährige wollen Eltern oftmals nur eine flexible Betreuung haben, das heißt: eine Woche ja, eine Woche nein. Meine Schwester ist Freiberuflerin: Die braucht mal eine Kinderbetreuung, dann braucht sie 14 Tage keine Kinderbetreuung. Da müssen flexible Angebote gemacht werden. Da kann Tagespflege ein Angebot sein, aber es gibt auch andere Angebote.

Deshalb sage ich Ihnen: Es ist nicht das Ministerium gewesen. Sehen Sie sich einmal die Bewilligungslage in einigen Landesjugendämtern an! Flexible Angebote, die ein bisschen mehr waren als Tagespflege, aber noch nicht ganz eine Kindertageseinrichtung waren, hatten bei den Landesjugendämtern keine Chance auf Bewilligung. Vor diesem Hintergrund muss ich Ihnen sagen: Wir alle gemeinsam werden noch eine Menge dicke Bretter bohren müssen, um die Flexibilisierung, die wir uns gerade für diese Zielgruppe alle wünschen, auch tatsächlich zu erreichen.

Unsere Unterstützung haben Sie dabei. Es hat nicht immer an unserer Dickschädeligkeit oder am Ministerium gelegen. Es hat auch daran gelegen, dass Bürokratie in diesem Land aus einem bestimmten Selbstverständnis heraus Flexibilisierung erschwert. Daran, das glaube ich, werden Sie sich mindestens genauso die Zähne ausbeißen, wie wir es auch an vielen Stellen getan haben.

Ein letzter Punkt: Wir unterscheiden uns in der Tat in der Einschätzung der Tagespflege, wenn es darum geht, dass wir eine Priorität bei der Betreuung durch institutionelle Einrichtungen vor der Tagespflege haben wollen. Das fordern wir nicht nur, weil wir wollen, dass die Kommunen weiterhin bezahlen müssen, sondern weil wir aus der Lebenserfahrung wissen, dass für die Gruppe der zwei- bis dreijährigen und älteren Kinder Eltern die institutionellen Einrichtungen viel stärker nachfragen als Tagespflege und andere Angebote. Die Tagespflege ist bei der Wahl der Eltern an vielen Stellen eine Kompensation. Deshalb sagen wir: In der kommunalen Kompetenz soll die Tagespflege bestehen bleiben.

Dabei sei mir der Hinweis gestattet: Auf meine Frage, wie sich denn der Aufbau der Familienzentren zur Frage der Konnexität verhält und wie das Land Nordrhein-Westfalen die Familienzentren finanziell unterstützen will, sagte der Minister: Das sei nicht nötig. - Vor diesem Hintergrund können wir alle gemeinsam gespannt sein, wie das gehen soll.

Ich bin der Auffassung, dass wir von der Empfehlung des DJI zum Thema Tagespflege ausgehen sollten, um in einer Anhörung oder einem Expertengespräch zu gucken, ob man daraus nicht einen Leitfaden für Kommunen entwickeln kann. Denn Tagespflege hat vielfach auch das Problem, dass sie zu unverbindlich ist oder ihre Qualität an vielen Stellen Zweifel bei den Eltern hervorruft. Das ist ein Punkt, an dem wir über die Verlässlichkeit der Qualität und das Angebot in ganz Nordrhein-Westfalen reden müssen. Da kann man die Empfehlung des DJI durchaus zu Grunde legen, um zu Handreichungen, Leitfäden oder anderen Dingen kommen. Es geht uns nicht darum, jetzt wieder eine neue Verordnung auf den Weg zu bringen, um die Kommunen zu quälen.

Vor diesem Hintergrund bin ich mir ziemlich sicher: In unserem Antrag geht es nicht nur um eine numerische Vergrößerung der Anzahl der Betreuungsplätze. Es geht an dieser Stelle darum, deutlich zu machen, dass sich das Land NordrheinWestfalen bis zum Jahr 2010 selber verpflichten wird, für mindestens 20 % der Kinder unter drei Jahren ein Angebot der Ganztagsbetreuung zu schaffen.

Unsere Auffassung ist, das möglichst durch institutionelle Einrichtungen zu machen. Aber ich denke, wir werden im Ausschuss darüber reden, welche anderen Nuancen und Wege es möglicherweise noch gibt, um zu einem breiten Angebot zu kommen. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank. - Nun hat noch Herr Abgeordneter Lindner von der FDP-Fraktion ums Wort gebeten. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will nur noch vier kurze Ergänzungen und Klarstellungen vornehmen.

Erstens. Hier ist gesagt worden, der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz sei vom Bund beschlossen und die Länder und Kommunen seien damit alleingelassen worden. Das ist ein alter

Irrtum, das ist falsch. Damals sind bei der Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern den Ländern und Kommunen Mittel in einer Größenordnung von etwa 400 Millionen DM zur Verfügung gestellt worden.

Zweitens. Aus unserer Sicht ist die Tagespflege bis zum zweiten Geburtstag das leistungsstärkste Angebot unter der Voraussetzung, dass sie zum einen qualifiziert wird - das muss noch erfolgen - und zum anderen, dass die steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Familien in diesem Punkt verbessert werden.

Drittens. Es ist gesagt worden, der Rechtsanspruch ab dem zweiten Geburtstag sei unrealistisch. Das ist aus meiner Sicht nicht richtig und verkennt die Situation, dass der Betreuungsbedarf zwischen dem vierten Lebensmonat und dem dritten Lebensjahr exponentiell steigt. Das heißt, der Rechtsanspruch ab dem zweiten Geburtstag bedeutet eine Inanspruchnahme von vielleicht 60 % der Plätze. Bei unseren Altersjahrgängen und dem demographischen Wandel ist es durchaus rechenbar und möglich, das zu finanzieren.

Herr Abgeordneter, jetzt ist die Redezeit auch schon abgelaufen.

Vierter und letzter Punkt, das ist auch nur ein Satz: Diejenigen, die sich jetzt so für Kinder einsetzen, haben noch im letzte Haushaltsjahr 125 Millionen € bei den Betriebskosten für Kindertageseinrichtungen eingespart. Das müssen wir hier auch noch einmal in Erinnerung rufen. - Danke schön, Herr Präsident.

(Beifall von FDP und CDU)

Vielen Dank. - Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deswegen schließe ich die Beratung.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrages Drucksache 14/195 an den Ausschuss für Generationen, Familie und Integration - federführend - und an den Ausschuss für Kommunalpolitik und Verwaltungsstrukturreform. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Widerspricht jemand dieser Überweisungsempfehlung? - Das ist nicht der Fall. Damit ist dies beschlossen.

Ich rufe auf:

8 Die Abschiebepraxis in NRW muss dringend geändert werden

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 14/206

Ich eröffne die Beratung und erteile als erster Rednerin Frau Abgeordneter Düker das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Artikel 1 des Grundgesetzes des Bundesrepublik Deutschland lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ - Artikel 6 lautet: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ - Meine Damen und Herren, es erscheint verwunderlich, warum man in einem deutschen Parlament über das Grundgesetz und über Menschenrechte diskutieren sollte. Aber wir sind der Auffassung, dass wir es tun müssen. Wir müssen es leider tun.

Schauen wir in den Hochsauerlandkreis: In der Nacht zum 24. August dieses Jahres wurde eine Mutter mit einem schwerstbehinderten Kind und einem Kleinkind, eine Tamilenfamilie, nach Mitternacht aus ihrer Wohnung geholt, während der Vater auf der Nachtschicht war. Morgens kam er von der Arbeit und fand die Wohnung leer vor. Ein Verfahren vor der Härtefallkommission wurde durch die Behörden nicht abgewartet. Ebenfalls im Hochsauerlandkreis sprang ein Familienvater in Panik vor der Abschiebesituation vom Balkon.

Der Superintendent des Kirchenkreises Arnsberg, Lothar Kuschnik, kritisiert in der Lokalpresse aus meiner Sicht zu Recht massiv diese Abschiebepraxis als Nichtachtung der Menschenwürde. Beispiele aus anderen Landesteilen lassen sich anführen.

Worum geht es? Es geht besonders um zwei Dinge: zum einen die immer wieder vorkommende getrennte Abschiebung von Familien, bei der ich unterstelle, dass diese getrennte Abschiebung von Familien bewusst von den Behörden inszeniert wird, um den Abschiebedruck auf den hier verbleibenden Teil zu erhöhen, der wegen Krankheit oder aus anderen Gründen nicht abgeschoben kann.

Ferner geht es um kranke Menschen, um suizidgefährdete Menschen, um Menschen mit schweren psychischen Störungen, die aus Deutschland abgeschoben werden. Es geht, meine Damen und Herren, schlicht um Menschenrechte und um

Menschenrechtsverletzungen, die in NordrheinWestfalen leider viel zu oft stattfinden.

Es sind schwierige Entscheidungen - das will ich nicht verleugnen -, vor denen Ausländerbehörden gestellt werden, wenn es um die sogenannten inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse geht. Es geht hier nicht um Bleiberecht oder um Asylverfahren - diese sind abgeschlossen -, sondern darum, inwieweit der Ermessensspielraum einer Behörde ausgenutzt und gesagt wird: Ist der Mensch reisefähig oder nicht? Ist die Krankheit ein Abschiebungshindernis oder nicht?

Für diesen Ermessensspielraum, der zugegebenermaßen schwierig zu handhaben ist, hat die letzte rot-grüne Landesregierung den Ausländerbehörden einen Kriterienkatalog vom 16. Dezember 2004 an die Hand gegeben sowie eine Checkliste zur Vorbereitung und Durchführung von Rückführungen entwickelt. Diese Erlasse sind mit der Absicht erstellt worden, den Ermessensspielraum für die Ausländerbehörden im Sinne der Flüchtlinge auszunutzen, um humanitäre Mindeststandards zu sichern. Das, meine Damen und Herren, wird in diesem Land nicht umgesetzt.

Johannes Schäfer, Vorstand der Diakonie Hochsauerland-Soest e. V., schreibt in einem offenen Brief an den Kreisdirektor des Hochsauerlandkreises Winfried Stork - ich zitiere aus dem offenen Brief, Pressemitteilung vom 1. September 2005 -:

„Ich klage nicht an, weil Sie“

- also Herr Stork -

„das Recht gebeugt haben. Ich klage an, weil Sie das Recht so unbarmherzig, unnachgiebig und unwürdig umsetzen.“

Weiter heißt es:

„Lieber Herr Stork, bei der Umsetzung von Rechtsprechung gibt es immer einen Ermessensspielraum, in dem Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Grundgedanken unserer Kultur eine bestimmende Rolle einnehmen können. Eine Familie derart zu behandeln und auseinander zu reißen entspricht meines Erachtens nicht den Maßstäben von christlicher Nächstenliebe und Humanität. Im Übrigen widerspricht es auch dem Geist unseres Grundgesetzes.“

So weit Johannes Schäfer an den Kreisdirektor des Hochsauerlandkreises.

Meine Damen und Herren, im Grundgesetz steht nicht: Die Würde des deutschen Menschen ist un

antastbar. Sondern dort steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich halte hier ein Eingreifen des Innenministeriums für dringend geboten, um diese Abschiebepraxis zu stoppen. Herr Minister, es reicht aus meiner Sicht nicht aus, in Stellungnahmen beispielsweise gegenüber dem Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen, der sechs problematische Einzelfälle dokumentiert hat, oder in der Antwort auf meine Kleine Anfrage, in der ich ebenfalls Einzelfälle dokumentiert habe, zu betonen, dass in den angesprochenen Fällen die Rückführungen in rechtlich einwandfreier Art und Weise durchgeführt worden seien. Das mag alles legal sein, was dort passiert.