Nein, auch vom Innenminister – das habe ich eigentlich auch nicht erwartet – kommen keine klarstellenden Worte zur Datenlage. Worüber reden wir eigentlich? Zur Hellfeld-Dunkelfeld-Problematik und zu den Ergebnissen der Innenministerkonferenz kommen keine Klarstellungen, sondern der Populismuszug fährt, und auch vom Innenminister kommt da keine Gegendarstellung.
Ich fasse zusammen: Nein, die Landesregierung führt keine ehrliche, keine sachliche und vor allem keine problemlösungsorientierte Debatte.
Wenn es Ihnen wirklich um Problemlösungen geht, Frau Müller-Piepenkötter, müssten wir über ein paar andere Tatsachen reden. Ein Jugendstaatsanwalt hat in Nordrhein-Westfalen 2.000 Eingänge im Jahr. Das heißt, bei 220 Arbeitstagen – Krankheit und Fortbildungen nicht mitgerechnet – müsste er über 10 junge Menschen am Tag Entscheidungen treffen. Bei 10 Fällen am Tag muss der Staatsanwalt über Anklageerhebung und dieses oder jenes entscheiden. Die Anklageerhebung dauert teilweise Wochen. Ein Jugendstrafverfahren – das geht bei den fehlenden Jugendrichtern weiter – dauert im Schnitt drei Monate. Die Strafe muss auf dem Fuße folgen. Lassen Sie Ihren wohlfeilen Worten doch Taten folgen und stellen Sie mehr Jugendrichter ein; dann können wir das auch umsetzen.
Lassen Sie uns über fehlende Plätze bei der UHaft-Vermeidung reden. Wir wissen, dass die UHaft kriminelle Karrieren verstärkt. Sie ist die Ultima Ratio im Jugendstrafrecht. Dann schaffen Sie doch die Plätze, die fehlen. Die Jugendknäste, die U-Haft vollstrecken, platzen aus allen Nähten.
Schaffen Sie sie und reden Sie nicht nur darüber. Und lassen Sie uns über die Situation in den Jugendstrafvollzugsanstalten reden.
In intensivpädagogischen Einrichtungen der Jugendhilfe – Bedburg-Hau und all diese Dinge, über die wir reden – gibt es einen Betreuungsschlüssel von 1:1. Damit kann tatsächlich Erziehung stattfinden. In Siegburg hatten wir zum Zeitpunkt des Foltermordes einen Schlüssel von ei
nem Sozialarbeiter auf 70 Jugendliche. Die Situation hat sich nicht wesentlich verbessert. Wenn eine Sozialarbeiterin, Frau Müller-Piepenkötter, vier Wohngruppen à 15 bis 20 Jugendliche zu betreuen hat, frage ich mich: Wo soll denn da Erziehung und Resozialisierung stattfinden?
Nein, diese Situation müssen wir beenden. Wir müssen unsere Jugendstrafanstalten in die Lage versetzen, den Resozialisierungsgedanken wirklich umzusetzen.
Und wo sind die Alternativen zum Freiheitsentzug bei der Jugendstrafe, etwa der Jugendstrafvollzug in freier Form, der Vorrang des offenen Vollzugs, oder pädagogische Einrichtungen? Anstatt die Jugendlichen in die Knäste zu schicken mit Rückfallquoten bis zu 80 %, können Sie sie, wie in Baden-Württemberg, auch in Jugendhilfeeinrichtungen bringen. Solche Einrichtungen gibt es in Baden-Württemberg, aber nicht in NordrheinWestfalen. Ich frage Sie: Was tun Sie, um diese Dinge auch in Nordrhein-Westfalen umzusetzen?
Wo ist Ihr Engagement in den Kommunen, meine Herren von der CDU – Sie sitzen zum Teil auch in den kommunalen Gremien –, wenn es darum geht, die Jugendhilfe in den Kommunen zu verstärken? Auch hier wissen wir, dass ein intensivpädagogischer Platz bis zu 300 € am Tag kostet. Weil ihnen das Wasser bis zum Hals steht, sind die Kommunen zum Teil gar nicht in der Lage, die Jugendlichen dort unterzubringen.
Stärken Sie die Kommunen – mit Ihrer Politik schwächen Sie die Finanzkraft der Kommunen und damit auch die Jugendhilfe –,
Meine Damen und Herren, bei dieser Debatte – Herr Wüst wird es gleich zum Besten geben – gewinnen Sie vielleicht noch die Lufthoheit über die Stammtische, aber Sie tragen nichts zur Sicherheit in Nordrhein-Westfalen bei.
Mit solchen Debatten tragen Sie auch nichts dazu bei, dass wir bei den Themen Jugendgewalt und Jugendkriminalität irgendwie einen Schritt voran
kommen. Dass sich Nordrhein-Westfalen hier so platt an die Seite von Herrn Koch stellt und die CDU auf diesen Zug aufspringt, finde ich sehr bedenklich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will diese Debatte mit Klarstellungen beginnen, damit wir uns im weiteren Verlauf vielleicht auf ein paar Grundsätze verständigen können.
Zur Klarstellung gehört, dass wir in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen relativ sicher leben. Weiß Gott, es gibt Straftaten, auch von Jugendlichen, auch von Jugendlichen mit Migrationshintergrund; jede einzelne ist zu viel. Aber Tatsache ist auch, dass wir weit von Verhältnissen wie in amerikanischen Großstädten oder wie in französischen Vorstädten entfernt sind.
Zur Klarstellung gehört auch, dass wir hier verhältnismäßig sicher leben. Dennoch muss man sagen, dass die Bürgerinnen und Bürger ein Recht darauf haben, sich angstfrei in U-Bahnhöfen und im Dunkeln bewegen zu können. Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, nicht von gewalttätigen Altersgenossinnen und Altersgenossen bedrängt oder geschlagen zu werden.
Im Übrigen gehört zu dieser Klarstellung auch – das sie sich dem anschließt, diese Hoffnung hege ich zumindest in Richtung der CDU –, dass die Jugendkriminalität zwar steigt, sie aber nie ein isoliertes Problem war und ist – nicht hier und auch nicht woanders. Sie ist Bestandteil eines gesellschaftlichen Prozesses, der so zu beschreiben ist: In Deutschland verrohen die Sitten. Erwachsene geben zunehmend schlechte Beispiele ab. Häufig sind Familien und Eltern mit der Erziehung überfordert; gelegentlich versagen sie vollständig.
Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen wir – Frau Düker hat gerade darauf hingewiesen – feststellen müssen, dass die Jugendgewalt in Deutschland steigt. Zum Jahreswechsel haben wir dazu eine intensive Debatte erlebt – allerdings nicht aus dieser Erkenntnis heraus, sondern angestoßen vom Landtagswahlkampf in Hessen und einem wahlkämpfenden Roland Koch.
Ich will vier Punkte aufzählen, die in dieser Diskussion angeführt worden sind, bei denen die Damen und Herren der Landesregierung …
Dabei begrüße ich jetzt auch ganz herzlich Herrn Laschet als betroffenen Auslöser sozusagen. – Ich will vier Punkte ansprechen, die auch die CDU in dieser Diskussion mitgetragen hat.
Als Erstes wird gefordert: Wir brauchten eine Verschärfung des Jugendstrafrechts und eine Erhöhung der Höchststrafe von zehn auf 15 Jahre.
Tatsache ist: Der Anteil von Mord und Totschlag, begangen von Jugendlichen – bei diesen Straftaten wird die Höchststrafe verhängt –, sinkt Gott sei Dank. Und im Jugendstrafrecht haben wir kein Gesetzesdefizit. Die existierenden Gesetze sind völlig ausreichend. Wir haben ein Vollzugsdefizit, Frau Müller–Piepenkötter,
Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in Nordrhein–Westfalen ernsthaft darüber diskutieren sollten, Kinder in Knäste zu stecken.
Aber gleichzeitig muss man auch sagen: Wir haben vernünftige Instrumente in der Jugendgerichtshilfe und in der Jugendhilfe, die angewandt werden müssen, durch die vor Ort in den Problemfamilien sehr viel schärfer daran gearbeitet werden muss, bestimmte Karrieren von Kindern und Jugendlichen zu vermeiden. Wir müssen die Elternarbeit dort viel mehr stärken. Wir müssen die Eltern mehr verpflichtend miteinbeziehen. Ich sage sehr offen: Man muss Eltern in bestimmten Situationen durch Sanktionen dazu drängen, erzieherisch auf ihre Kinder einzuwirken.
Ich will Ihnen vortragen, warum ein Warnschussarrest vermutlich das genaue Gegenteil von dem bewirken würde, was die Protagonisten glauben. Zumindest die Fachleute sagen uns dies einhellig, Frau Müller-Piepenkötter.
70 von 100 Straftätern finden durch Bewährungshilfe wieder auf den richtigen Weg zurück, nur 30 werden rückfällig. In Ihrem Jugendstrafvollzug, Frau Müller-Piepenkötter, ist das Verhältnis genau
Sie wollen für relativ geringe Taten Jugendlicher Warnschussarrest verhängen. Sie wollen Jugendliche sofort in den Knast stecken. Das bedeutet, wie die Zahlen zeigen, nichts anderes, als dass Sie Jugendlichen die Bauanleitung für eine spätere kriminelle Karriere direkt an die Hand geben.
Ich darf Ihnen aufzeigen, Frau MüllerPiepenkötter, was die Fachwelt von einem Warnschussarrest hält. Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitiere ich Herrn Bernd Maelke, einen der führenden deutschen Strafvollzugsexperten, der es, wie ich finde, sehr treffend auf den Punkt gebracht hat: