Protokoll der Sitzung vom 16.04.2008

Wie der Vorbemerkung der SPD-Fraktion zu ihrer Großen Anfrage „Situation der Pflege in Nordrhein-Westfalen“ zu entnehmen ist, geht es den Sozialdemokraten in erster Linie um eine Momentaufnahme bzw. um eine Bilanz dessen, was das im Jahr 2003 verabschiedete Landespflegegesetz bewirkt hat. Damit sind für die SPD unter anderem zwei zentrale Fragen verbunden: Wurde das Ziel einer Förderung der ambulanten Pflege erreicht? Ist es gelungen, mit der neuen bewohnerbezogenen Förderung von Investitionskosten den Modernisierungsstau in der stationären Pflege abzubauen?

In der Vorbemerkung der Fragesteller wird deutlich, was sich hinter diesen abstrakt klingenden Begriffen des Modernisierungsstaus eigentlich verbirgt. Die Rede ist von fehlenden Nasszellen, von Mehrbettzimmern in Pflegeheimen, von fehlender Barrierefreiheit. All diese Aspekte sind für die Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen in der stationären Pflege mindestens ebenso wichtig wie die Fachkompetenz des Personals, worunter im Idealfall nicht nur Kenntnisse zur Dekubitus-Prophylaxe und zur ausgewogenen Ernährung, sondern auch die Fähigkeit zu verstehen ist, auf die Bedürfnisse von Bewohnerinnen und Bewohnern einzugehen und sie mit Würde zu behandeln und zu respektieren.

Fragwürdig wird das Vorhaben der SPD-Fraktion allerdings dadurch, dass bekanntlich erst Ende 2008 die Ergebnisse der Evaluierung des Landespflegegesetzes erwartet werden. Das ist schon deshalb von großer Bedeutung, weil entsprechende Daten bislang nur rudimentär existieren, da es keine Berichtsverpflichtung seitens der Akteure gab.

Die Landesregierung macht in ihrer allgemeinen Vorbemerkung in der Antwort auf die Große Anfrage im Übrigen auch klar, dass zeitgleich erst zum Abschluss der Evaluation umfangreiche, bundesweit erhobene Daten zur Situation der Pflege vorliegen. Damit erklärt sich, warum die Landesregierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht alle Fragen detailliert beantworten kann.

Ich würde von der SPD gerne wissen: Warum fragen Sie nach Daten und Fakten, von denen Sie wissen, dass sie derzeit nicht vorliegen? Warum haben Sie sich nicht dazu entschlossen, zunächst den Bericht der Landesregierung zur Evaluation

abzuwarten und Ihre Fragen, wenn sie dann noch Bestand haben, auf Basis dieser Berichterstattung zu stellen? Darauf erwarten wir noch eine Antwort.

Weiter zu inhaltlichen Aspekten!

Aus Sicht der Landesregierung können die Referenzmodelle in der stationären Pflege als zentrale Maßnahme zur Verbesserung der Versorgungsqualität gelten. Diese beruhen auf einer Initiative des Landespflegeausschusses, dessen Ziel darin bestand, für mehr Transparenz in den Arbeitsprozessen von Pflegeheimen zu sorgen.

Mitte des letzten Jahres hat Minister Laumann die Ergebnisse des zweijährigen Modells in Dortmund vorgestellt. Das Projekt wurde vom MAGS, vom Bundesgesundheitsministerium sowie von den Spitzenverbänden der Pflegekassen gemeinsam konzipiert und finanziert und entfaltet seine Wirkung über die Grenzen von NRW hinaus.

(Zuruf von Günter Garbrecht [SPD])

Auch das neue NRW-Heimgesetz wird für die Weiterentwicklung der stationären Pflege einen hohen Stellenwert erhalten. Wie Sie wissen, hat die Landesregierung die Chance zu einem transparenten Dialog mit allen Beteiligten anhand der Eckpunkte genutzt, also nicht etwa nach dem Top-down-Verfahren agiert. Wir werden zur ausführlichen Diskussion Gelegenheit haben, sobald der Gesetzentwurf vorliegt. Aber wir gehen schon jetzt davon aus, dass dieses sehr demokratische und bürgernahe Vorgehen dazu beitragen wird, die Akzeptanz der Regelung bei allen Betroffenen deutlich zu steigern.

Für die Weiterentwicklung der ambulanten Versorgung ist es sicher von großem Interesse, Erfahrungen innerhalb des Modellprojekts zur Erprobung des persönlichen Budgets im Kreis Unna zu sammeln. Grundsätzlich halte ich es für begrüßenswert, wenn pflegebedürftige Menschen mehr Möglichkeiten erhalten, sich die Hilfe, die sie benötigen, passgenau einzukaufen. Dazu sind natürlich bestimmte Voraussetzungen notwendig.

Ein weiteres Instrument für die ambulante Versorgung ist die Arbeit der Demenz-Service-Zentren. Bisher gibt es elf solcher Einrichtungen in NRW. Insbesondere geht es darum, die verschiedenen Initiativen und Angebote zu vernetzen und einen Erfahrungsaustausch aller Beteiligten zu fördern, damit das Thema in der Öffentlichkeit noch intensiver diskutiert wird und seinen Tabucharakter verliert.

Inzwischen wird sehr viel mehr über Demenz, vor allem über Alzheimer gesprochen. Aber es gibt

immer noch sehr viel Verständnisprobleme, Ängste, Wissenslücken, die bei den Betroffenen die Ängste vor der Erkrankung noch weiter verstärken. Im Mittelpunkt der Arbeit der Zentren stehen die Verbesserung der häuslichen Versorgung der Betroffenen und die Unterstützung der sie betreuenden Angehörigen.

Ich finde es übrigens schon auffällig, dass die SPD-Fraktion in ihrer Großen Anfrage mit dem Bereich der Sondereinrichtungen beginnt und sich erst dann auch der ambulanten Pflege und den alternativen Konzepten des Bereiches Wohnen widmet. Ich kann nur hoffen, dass dies kein Hinweis auf die Prioritätenliste der SPD in Sachen Pflege ist. Denn eigentlich sind wir uns doch fraktionsübergreifend einig, dass ein zentrales Ziel jeder Pflegepolitik darin bestehen sollte, die selbstständige Lebensführung in der vertrauten Umgebung so lange wie möglich zu erhalten.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass die SPD-Fraktion keine Frage zur Gesundheitsförderung und zur Prävention stellt und somit zentrale Bereiche auslässt, die die entscheidende Voraussetzung für die Lebensqualität älterer Pflegebedürftiger und der von Pflegebedürftigkeit bedrohten Menschen darstellen. Diese Bereiche müssen in den nächsten Jahren weiter ausgebaut werden.

(Beifall von der FDP – Barbara Steffens [GRÜNE]: Dazu können Sie ja mal eine An- frage stellen!)

Ich bin sicher, dass wir uns in NRW in diesem wie auch in anderen Bereichen der pflegerischen Versorgung weiterhin positiv entwickeln werden. – Danke schön.

(Beifall von FDP und CDU)

Vielen Dank, Herr Dr. Romberg. – Für Bündnis 90/Die Grünen erhält Frau Steffens das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin erstaunt, wenn nicht sogar entsetzt darüber, dass gesagt wird, diese Große Anfrage komme zum falschen Zeitpunkt. Mir kann keiner sagen, dass wir in einem Jahr, in dem wir auf Bundesebene die Diskussion über die Pflegestützpunkte führen, darüber, was wir in Nordrhein-Westfalen benötigen, in dem wir über ein Heimgesetz in NRW diskutieren, die Beantwortung solcher Fragen nicht als Grundlage brauchen. Frau Monheim, hätten wir 2003 gewusst, dass wir in diesem Jahr über das Heimgesetz und die Pflegestützpunkte diskutieren wür

den, hätten wir als Evaluierungszeitraum 2007 hineingeschrieben.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Diese Flexibilität müssen Sie schon haben. Man braucht Daten und Grundlagen, um Gesetze zu machen – das ist die richtige Reihenfolge –, und darf nicht erst die Gesetze machen, um anschließend Daten und Grundlagen dafür heranzuziehen. Deswegen bin ich froh, dass die Große Anfrage jetzt gestellt worden ist.

Herr Romberg, wenn Sie sich über die Reihenfolge ärgern, können wir uns gleich mal anschauen, welche Fragen mit welcher Priorität beantwortet worden sind. Das finde ich nämlich noch viel katastrophaler als die Reihenfolge der gestellten Fragen. Schön ist, dass Sie angekündigt haben, über den Fragenkatalog hinaus noch eigene Fragen zu haben. Vielleicht kommt dann ja auch mal von Ihnen eine Anfrage, damit Ihre Fragen umfassend für alle beantwortet werden können.

Ich möchte jetzt auf die Antwort der Großen Anfrage eingehen. Jenseits der Fragen nach den Zahlen und danach, was alles nicht beantwortet worden ist – das kennen wir schon von der Großen Anfrage „Drogen- und Suchthilfepolitik in Nordrhein-Westfalen“ –, bin ich über den Inhalt der Antworten ein Stück weit entsetzt.

(Minister Karl-Josef Laumann: Och!)

In der letzten Legislaturperiode gab es auf Initiative der CDU eine übergreifend gute Enquetekommission zum Thema Pflege mit einem sehr guten Abschlussbericht, vor allen Dingen auch mit einem sehr guten Beschluss, der von allen Fraktionen gefasst worden ist. Die Anworten auf Fragen, was die Landesregierung denn macht, haben aber nichts mit dem Beschluss der Enquetekommission zu tun. Wir fallen eher weit dahinter zurück. Ich will das an ein paar Beispielen klarmachen. Vielleicht kann man sich im Verlauf des Prozesses und weiterer Debatten darauf verständigen, wo es eigentlich hingehen muss.

Frage 17 der Großen Anfrage 17 lautet: „Wie und mit welchen Konsequenzen hat die Landesregierung die Empfehlungen für die vollstationäre Pflege aufgegriffen und umgesetzt?“ In Ihrer Antwort verweisen Sie auf das Projekt Referenzmodell; damit ist alles erfüllt. – Das kann nicht sein. Das Referenzmodell ist ein Versuch, stationäre Pflege nach einem einheitlichen Standard zu bewerten. Aber all die Kriterien, die wir in der Enquetekommission beschlossen haben, wie die Wohnlichkeit und die Öffnung zum Wohnquartier, sind im Referenzmodell gar nicht enthalten. Es bewertet ein

altes Modell stationärer Pflege. Das ist zwar ganz nett, aber es reicht nicht. Es müsste schon längst sehr viel stärker weiterentwickelt sein.

In der Enquetekommission haben wir übereinstimmend gesagt, dass wir die stationäre Einrichtung in ihrer heutigen Form weiterentwickeln wollen. Wir wollen Wohnlichkeit. Wir wollen eigentlich hin zu neuen Wohnformen; aber im Übergang wollen wir Öffnung, Veränderung, Weiterentwicklung weg vom Pflegeheim hin zum Altenwohnhaus kommen. Das spiegelt sich hier überhaupt nicht wider. Hier handelt es sich eigentlich um die Festschreibung des Status quo.

Frage 51 lautet: „Wie unterstützt die Landesregierung den Abbau von Barrieren für die Inanspruchnahme professioneller Hilfe?“ Darauf antwortet die Landesregierung: „Der Landesregierung liegen derzeit keine Erkenntnisse über Barrieren vor...“ Das kann nicht wahr sein. Wir diskutieren hier darüber, dass Pflegekräfte aus Osteuropa nach Deutschland geholt werden, weil deutsche Pflegekräfte nicht bezahlbar sind. Die Landesregierung aber antwortet: Es liegen keine Barrieren vor. – Natürlich liegen Barrieren vor, massenhaft Barrieren. Die größte Barriere ist die, dass Pflege und pflegeergänzende Leistungen nicht finanzierbar sind. Da kann doch eine Landesregierung nicht sagen: Wir haben da kein Problem, wir sehen es nicht.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Die Öffnung der europäischen Grenzen und des Arbeitsmarktes ist ja kein Bereich, mit dem Sie sich noch nie beschäftigt hätten, Herr Minister. Daher müssten Sie sich wenigstens fragen, was das denn mit dem Pflegebereich zu tun hat. Wenn das in Ihrem Haus nicht geleistet wird, haben wir bald eine katastrophale Situation an dieser Stelle.

Frage 60 lautet: „Welche Alternativen sieht die Landesregierung zu den oben aufgeführten Versorgungsstrukturen?“ Was gibt es also an anderen Versorgungsstrukturen? Was ist denn mit den neuen, alternativen Wohnformen? Wenn Sie kritisieren, Herr Romberg, dass diese Frage und die Fragen danach, was von der Landesregierung geplant ist, erst relativ weit hinten gestellt werden, muss ich Ihnen sagen: Die Antwort ist noch katastrophaler. Die Landesregierung antwortet nämlich, sie stehe Neuerungen und Versorgungsalternativen aufgeschlossen gegenüber. – Ist es das, was die Enquetekommission wollte? Sie wollte, dass eine Neuentwicklung aktiv vorangebracht wird. Ist diese Antwort denn nicht schlimmer als die Tatsache, dass die Frage dazu die Nummer 60 trägt? Herr Romberg, ich würde mir wünschen,

dass Sie die dürftigen Maßnahmen der Landesregierung inhaltlich kritisieren und nicht die Nummer der Frage.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

In der Kürze der Zeit möchte ich nur noch auf einen letzten Punkt eingehen; dabei könnte man zu fast jeder Antwort etwas sagen. Welche Schritte plant die Landesregierung? Dass Sie in der Antwort auf die Große Anfrage aufzeigen, was an Gesetzen und Prozessen vorangebracht wird, und dass Sie noch einmal die Evaluierung aufführen, finde ich schön. Aber das hat doch wirklich nichts mit all den Beschlüssen zu tun, die wir hier gemeinsam getroffen haben.

Die Regierungsfraktionen haben doch im November 2006 all die Aufforderungen des Landtags an die Landesregierung mitbeschlossen. Da kann hier doch nicht nur stehen, dass man die Gesetzesvorhaben umsetzt. Da muss doch auch stehen, was das Land macht. Denn die Menschen in diesem Land wollen perspektivisch nicht in stationären Sonderwohnformen untergebracht werden, weil es keine Alternativen gibt.

Die wollen, dass es in diesem Land eine Landesregierung gibt, die neue und alternative Wohnformen, betreutes Wohnen sowie das Wohnen in der eigenen Häuslichkeit ermöglicht. Wir müssen zu einer Quartiersplanung, zu einer Quartiersstruktur und zu einem Ausbau der ambulanten Betreuungsmöglichkeiten kommen. Wir müssen den Menschen ermöglichen, dass sie in der Form wohnen und leben können, in der sie wohnen und leben möchten. Wir sollten ihnen nicht nur erzählen, welche Gesetze wann und wie kommen, die nicht einmal die Rahmenbedingungen dafür schaffen.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Daher: Diese große Landesregierung …

(Heiterkeit und Beifall)

Die Antwort der Landesregierung auf diese Große Anfrage …

(Zuruf von der SPD: Körperlich ist sie zumin- dest groß!)

Körperlich ist die Landesregierung in manchen Teilen groß und umfangreich.

(Heiterkeit und Beifall)

Aber es geht jetzt um den Umfang der Beantwortung der Großen Anfrage.

Diese Landesregierung zeigt mit der Beantwortung der Großen Anfrage, dass die Enquetekom

mission nicht gereicht hat. Ich glaube, wir werden die Beschlüsse der Enquetekommission Stück für Stück hervorholen und die Landesregierung zu jedem einzelnen Punkt fragen müssen, wie sie die Beschlussfassung des Hohen Hauses, die im Konsens mit allen Fraktionen getroffen worden ist, umsetzt. Denn von allein scheint das nicht zu klappen.