Protokoll der Sitzung vom 17.09.2008

Große Anfrage 19 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 14/6380

Antwort der Landesregierung Drucksache 14/6997

Ich eröffne die Beratung und erteile für die Fraktion, die die Große Anfrage eingebracht hat, Frau Kollegin Steffens das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will kurz in Erinnerung rufen, wie es überhaupt zur Großen Anfrage 19 gekommen ist. Zuerst hatten wir die Große Anfrage 16 zur Drogen- und Suchtpolitik gestellt. Da die Beantwortung der Großen Anfrage 16 in allen Bereichen, in denen es um die geschlechterspezifischen Fragen ging, vollkommen nichtssagend war, haben wir die Große Anfrage 19 gestellt, um die geschlechterspezifischen Fragen noch einmal aufzugreifen.

Jeder, der sich mit Drogen- und Suchtpolitik beschäftigt, weiß, dass Männersüchte und Frauensüchte verschieden sind. Es gibt andere Stoffe, die zu massiver Abhängigkeit führen, und andere Zugänge zu den Süchten. Männer und Frauen fühlen sich auch jeweils auf eine andere Art und Weise angesprochen, wenn es darum geht, aus ihrem Suchtverhalten herauskommen.

Als ich die Beantwortung der Großen Anfrage 19 auf den Tisch liegen hatte, habe ich zuerst gedacht, das sei ein Witz von Minister Laumann; er wolle

nach der Großen Anfrage 16 und der Großen Anfrage 19 jetzt unbedingt die dritte Große Anfrage bekommen. Ich muss sagen, dass ich ernsthaft in Erwägung ziehe, ihm auch noch eine solche dritte Große Anfrage zu stellen, denn die Beantwortung der Großen Anfrage 19 hat weder etwas mit der Realität der Drogen- und Suchtpolitik in diesem Land zu tun, noch zeigt sie in vielen Punkten wirkliche Ansätze auf, wie man geschlechterdifferenziert dem Problem von Sucht entgegentreten kann.

In den Antworten findet sich immer wieder der Oberbegriff: Alles ist gut. – Mit dem Computer kann man ja nach Wörtern suchen. Das habe ich bei den Antworten einmal getan. 26 Mal werden Antworten gegeben, in denen sinngemäß steht, alles sei klasse; die grundlegenden fachlichen Standards würden in der Sucht- und Drogenhilfe unseres Landes geschlechterdifferenziert ausgerichtet; das sei so. In unterschiedlichen Formulierungen findet sich das immer wieder: „einer geschlechterspezifischen Ausrichtung der Präventions- und Hilfeangebote“; „zu dessen grundlegenden fachlichen Standards auch die geschlechtsdifferenzierte Ausrichtung der Hilfen gehört“. Immer wieder dasselbe! Es gibt aber nirgendwo die Auskunft, was das denn heißt und wo das denn stattfindet. Stattdessen findet man nur immer wieder das Schlagwort, alles sei gut.

Wenn man sich Stellungnahmen aus der Praxis anschaut – als Ausschussmitglieder und als Abgeordnete haben wir ja auch Zuschriften bekommen –, wird klar, dass die Wahrnehmung vor Ort eine ganz andere ist. Es ist nämlich nicht alles gut. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich will aus einer Zuschrift an den Landtag nur einen Satz zitieren:

So wird in den meisten Einrichtungen mittlerweile Qualitätssicherung durchgeführt, wobei davon auszugehen ist, dass die Kategorie Geschlecht bisher in den meisten Einrichtungen keine Rolle spielt.

Das ist nur ein Satz von vielen. Es gibt zahlreiche Stellungnahmen, in denen genau beschrieben wird, dass man vor Ort zwar immer wieder bemüht ist, auf unterschiedliche Zielgruppen zuzugehen, dass dies aber überhaupt nicht stattfindet.

Die grundsätzliche Ausrichtung bei der Beantwortung der Großen Anfrage lautet also, alles sei gut; die Standards würden eingehalten. Nein, das ist nicht so.

In der Beantwortung der Großen Anfrage steht auch, im Einzelfall werde mal von den Standards abgewichen. Schauen Sie sich einmal an, was dann als Einzelfall definiert wird. Das ist der gesamte Elementarbereich, der hier nicht vorkommt. Es geht also überhaupt nicht um einen Einzelfall. Vielmehr ist die nicht geschlechterdifferenzierte Herangehensweise die Regel.

Wie und wo alles gut ist, wird überhaupt nicht gesagt. Dort, wo es konkret werden müsste, dort, wo

die Fragen anfangen, hören die Antworten schon auf. So wird das in dieser Großen Anfrage durchgängig an allen Stellen gemacht.

Des Weiteren heißt es in der Beantwortung, man habe Erkenntnisse über eine standardmäßige Berücksichtigung von Geschlechteraspekten bei Präventionsangeboten. Dazu, welche Erkenntnisse das sein sollen, findet sich aber überhaupt nichts.

Auch viele weitere Formulierungen bewegen sich im Nebulösen, um zu vermitteln, man tue etwas. So heißt es, Gender-Mainstreaming habe in den zurückliegenden Jahren Eingang in alle Bereiche des Gesundheitswesens gefunden. Dazu kann ich nur Folgendes sagen: Bei der Anhörung hier im Landtag, bei der das Präventionskonzept des Ministeriums, das auch einen Suchtbestandteil hatte, diskutiert und reflektiert worden ist, haben selbst die Expertinnen und Experten der Koalitionsfraktionen keine positive Bewertung vorgenommen, sondern deutlich gesagt: Es ist keine Geschlechterdifferenzierung vorhanden. Es wird nicht unterschiedlich betrachtet.

Eine wesentliche Botschaft ist also: Alles wird gut. Wir wissen zwar nicht, wie. Wir wissen auch nicht, wo. Wir wissen auch nicht, wer es macht. Es wird aber alles gut. Gleichzeitig wird in der Beantwortung dieser Großen Anfrage allerdings erklärt, man habe aber eigentlich keine Daten. Überall dort, wo die Fragen konkret werden, gibt es keine Daten. Es gibt keine detaillierten landesweiten trägerbezogenen Angaben, keine repräsentativen Daten für einzelne Suchtformen, keine geschlechterspezifischen Daten, keine empirisch gesicherten allgemeingültigen Daten und Grundlagen, keine Daten über ältere Menschen und keine Daten zu Menschen mit Migrationshintergrund. Aber alles ist gut.

Da muss man sich schon fragen, warum die Landesregierung sagen kann, sie habe zwar keine Daten, aber alles werde gut. Und warum kann sie an den Stellen, wo sie keine Daten hat, sagen, dass wir sie auch nicht brauchten? – Da macht sie meiner Meinung nach den Dreiklang: Wir wissen nichts. Wir wollen auch nichts wissen. Aber alles ist gut, und wir machen weiter so.

Das kann nicht sein, meine Damen und Herren, wenn man gleichzeitig weiß, dass die Landesregierung die Landesfachstelle Frauen & Sucht NRW, die die einzige war, die versucht hat, in diesem Bereich zu koordinieren, aus der Hand gegeben hat, wenn man weiß, dass das Ministerium mit der Kommunalisierung der Mittel die Steuerung aus der Hand gegeben hat, und wenn man weiß, dass Fortbildung in dem Bereich nicht stattfindet. Da fragt man sich, wie das Land sicherstellen und in Zukunft anschieben will, dass Gender-Mainstreaming stattfindet und dass wir eine geschlechterdifferenzierte Suchtpolitik haben.

Eines muss nämlich allen klar sein: Wenn wir in der Suchtpolitik nicht geschlechterdifferenziert vorgehen, dann ist es hinausgeworfenes Geld. Dann ist es kein effizienter Einsatz der Mittel. Dann müsste irgendwann auch der Landesrechnungshof wach werden. Deswegen fordern wir im Interesse der Betroffenen, dass hier endlich ein Umdenken einsetzt.

Ich denke, dieser Großen Anfrage wird entweder die nächste Große Anfrage oder eine Anhörung folgen. Ich kann Ihnen eines allerdings versichern, Herr Minister: Das Thema wird Sie noch länger beschäftigen. Dafür werden wir sorgen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Steffens. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Brakelmann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Steffens, ich habe Ihnen zugehört. Es war sehr interessant, aber ich muss festhalten, dass das Glas bei Ihnen immer halb leer ist. Bei uns ist das anders.

(Barbara Steffens [GRÜNE]: Es ist ganz leer!)

Ja, bei Ihnen ist es vielleicht sogar ganz leer. Das ist noch schlimmer. Denn so schlimm, wie Sie es immer beschrieben, ist es in diesem Land nun wirklich nicht.

Da ich mich als ehemaliger Kommunaler in Wuppertal gerade im Bereich Drogen und Sucht stark engagiert und eine Reihe von Dingen wie „Gleis 1“ mit umgesetzt habe – vielleicht kennen Sie es vom Namen her –, kann ich Ihnen sagen: Es wurde schon immer darauf geachtet, dass wir gerade in diesem Bereich Frauen und Männer differenziert betrachten.

Ich glaube, wir alle hier in diesem Hohen Hause sind uns einig, dass Drogen- und Suchthilfepolitik eines der wichtigsten Themen in der Sozial- und Gesundheitspolitik des Landes ist. Denn die Zahlen sind erdrückend: In Nordrhein-Westfalen leben mehr als 4 Millionen Suchtkranke. Die meisten von ihnen sind nikotin- und alkoholabhängig. Hinzu kommen zahlreiche Menschen, die akut gefährdet sind, süchtig zu werden, oder solche, die von der Sucht eines Familienangehörigen, eines Freundes oder eines Kollegen betroffen sind. Ein großer Teil der Bevölkerung in diesem Land ist also direkt oder indirekt von Problemen mit Sucht betroffen.

Das alles ist nicht neu. Die Drogen- und Suchthilfepolitik des Landes ist Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Beantwortung der Großen Anfrage 16 vor fast genau einem Jahr recht detailliert dargelegt worden. Allerdings wies die Fragestellung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schon vor einem Jahr Mängel auf, sodass einige wichtige Aspekte

gar nicht zur Sprache kamen. Im Gegenteil: Die zahlreichen Fragen, die bis ins allerkleinste Detail zielten, ließen der Landesregierung gar keine Chance, ihr eigentliches Konzept für die Drogen- und Suchtpolitik darzulegen.

(Britta Altenkamp [SPD]: Das ist auch nicht der Sinn von Großen Anfragen!)

Deshalb möchte ich diese hier in wenigen Worten skizzieren: Die Suchtpolitik in Nordrhein-Westfalen ruht auf den drei bewährten Säulen Prävention, Hilfen und Repression, die in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen müssen.

Schwerpunkte sind ohne Zweifel die frühzeitige Erkennung und Behandlung einer Sucht. Außerdem gehören wirksame Maßnahmen dazu, die verhindern, dass Süchte insbesondere bei Kindern und Jugendlichen überhaupt erst entstehen können. Prävention kann sehr erfolgreich sein, wenn sie früh ansetzt. Ich denke, darüber sind wir uns in diesem Hause einig.

Wir verfügen heute in Nordrhein-Westfalen über ein breit gefächertes und überhaus hochwertiges Präventions- und Hilfsangebot

(Britta Altenkamp [SPD]: Wer hat es erfun- den?)

für suchtkranke und gefährdete Menschen; darauf können wir sicherlich stolz sein. Dies ist in den vergangenen Jahren durch gemeinsame Anstrengungen von Land, Kommunen, freien Trägern und Selbsthilfegruppen entstanden. Nach der Phase des Auf- und Ausbaus von unterschiedlichen Beratungs- und Hilfsangeboten findet nun eine Konsolidierung statt.

(Britta Altenkamp [SPD]: Wenn Sie Konsoli- dierung sagen, dann meinen Sie Kürzungen!)

Es wird sicherlich auch künftig Aufgabe sein, … – Sie sollten einfach zuhören. Das ist einfacher. Das tue ich bei Ihnen auch.

(Britta Altenkamp [SPD]: Herr Brakelmann, Sie hören nie zu!)

Es wird sicherlich auch künftig Aufgabe sein, die bestehenden Angebote … – Ich denke, wenn Sie das Thema ernst nähmen, dann würden Sie auch zuhören. Ich höre auch gleich bei Ihnen zu. Ich habe überhaupt kein Problem damit. Aber das Thema ist mir zu ernst, als dass ich es zulassen wollte, dass Sie andauernd dazwischenrufen und versuchen, mich aus dem Konzept zu bringen. Das wird Ihnen auch nicht gelingen.

(Britta Altenkamp [SPD]: Seit wann sind Sie denn so empfindlich, Herr Brakelmann?)

Es wird sicherlich auch künftig Aufgabe sein, die bestehenden Angebote stärker zu differenzieren, zu bündeln und zu vernetzen und auch die Durchlässigkeit der Hilfssysteme deutlich zu verbessern. Hier

wird es auch darum gehen, geschlechtsspezifische Hilfsangebote in das bereits bestehende Suchthilfesystem zu integrieren und keine parallelen Hilfestrukturen speziell für Männer und Frauen aufzubauen.

(Barbara Steffens [GRÜNE]: Das wollen wir auch gar nicht!)

Entstehung und Verlauf von Sucht werden von vielen Faktoren beeinflusst. Neben dem Umfeld und dem Suchtmittel selbst spielen auch geschlechtsspezifische Aspekte eine Rolle. Das ist wissenschaftlich belegt, und dem wird wohl kaum jemand widersprechen wollen.

Aber die genetisch bedingten Faktoren sind eben nur ein Aspekt für die Entstehung der Krankheit Sucht. Auch andere Krankheiten haben durchaus Ursachen, die geschlechtsbedingt sind. Bei der Diagnostik und der Behandlung von Sucht ist daher stets in jedem Einzelfall sowohl den biologisch begründeten Unterschieden als auch den psychosozialen Problemlagen von Frauen und Männern Rechnung zu tragen. Eine geschlechterspezifische Betrachtung der Sucht ist also Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Suchtbehandlung. Jede Einrichtung sollte sich deshalb bemühen, Beratung und Hilfe an den besonderen Bedürfnissen von Frauen und Männern auszurichten.

Insofern sind, wir uns einig, meine liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie können auch nicht bestreiten, dass die Landesregierung schon früh die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte zu einem zentralen Anliegen ihrer Gesundheitspolitik gemacht hat.

(Britta Altenkamp [SPD]:Und welche sind diese?)

In den vergangenen Jahren hat Gender-Mainstreaming Einzug in alle Bereiche des Gesundheitswesens gehalten – dank der Unterstützung der Landesregierung. Sowohl die Beschlüsse des Landtags und der Landesgesundheitskonferenz als auch die geschlechtsspezifischen Gesundheitsberichte des Landes und der Bundesregierung und die Empfehlungen der Enquetekommission wurden dabei berücksichtigt.

Auch vor Ort in den Kommunen wird GenderMainstreaming nicht außen vor gelassen. Über die kommunalen Gesundheitskonferenzen ist die geschlechterspezifische Betrachtungsweise in die gesundheitlichen und sozialen Hilfeplanungen eingeflossen.