Protokoll der Sitzung vom 17.09.2010

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich heiße Sie herzlich willkommen zu unserer heutigen, 8. Sitzung des Landtages von Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich vier Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Wir haben heute in unserem Kreis zwei Geburtstagskinder, die ich herzlich begrüße. Geburtstag feiert heute Herr Dr. Gerd Hachen von der Fraktion der CDU, der 58 Jahre alt wird.

(Allgemeiner Beifall)

Herzlichen Glückwunsch und alles Gutes im Namen der Kolleginnen und Kollegen!

Es trifft sich sehr gut, dass wir heute ein zweites Geburtstagskind haben. Auch der Finanzminister, Herr Dr. Walter-Borjans, hat heute Geburtstag. Wie es der Zufall will, wird auch er 58 Jahre.

(Allgemeiner Beifall)

Beide Herren sind also heute vor 58 Jahren geboren. Ich wünsche auch Ihnen alles Gute im Namen aller Kolleginnen und Kollegen für das neue Lebensjahr.

Wir treten nunmehr in die Beratung der heutigen Tagesordnung ein.

Tagesordnungspunkt

1 Integrationsprobleme ernst nehmen

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP Drucksache 15/168

Die Fraktionen der CDU und der FDP haben mit Schreiben vom 13. September 2010 gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu der obigen aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden CDUFraktion dem Abgeordneten Solf das Wort. Herr Solf, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Schwierigkeiten mit der Integration sind – hier irrt der „Spiegel“ – zunächst kein Staatsversagen. So einfach ist die Sache nicht. Hier zwei Beispiele!

Ein lokales Beispiel stammt aus Mönchengladbach. Dort gibt es seit Jahren eine kleine, durch die salafistische Form des Islam geprägte Gemeinde, in der an herausgehobener Stelle auch deutsche Konvertiten wirken. Diese Gruppe droht jetzt Zuwachs zu bekommen, und zwar von einer wohl zu Recht übel beleumdeten ähnlichen Gruppierung aus Braunschweig. So weit, so schlecht.

Nun kann man aber vor Ort beobachten, wie leicht es ist, Schaden anzurichten. Dabei ist Mönchengladbach eine Stadt mit beispielhaften Integrationsbemühungen. Dennoch gerät durch den Zuzug einer kleinen Gruppe von Radikalen scheinbar alles in Schieflage. Die größte Regionalzeitung lässt keine Gelegenheit aus, die Sorge der Anwohner zu schüren. Gleichzeitig predigt sie aber in ihren Leitartikeln, doch – ich zitiere – die Kirche im Dorf zu lassen. Die Nachbarn und Anwohner beginnen zu demonstrieren. Sie tun das überwiegend verantwortungsvoll, aber die Grenze zur Hysterie ist bei einigen nahe.

Unter den Muslimen wiederum ist mancher, der mit der salafistischen Einrichtung überhaupt nichts zu tun haben will, der aber nun Sorge hat, dass sich die Demonstrationen gegen den Islam an sich richten. Verunsicherung und Misstrauen greifen um sich. So leicht können Risse in dem feingewebten Gespinst der Integration entstehen.

Das zweite Beispiel, das bundesweite, ist natürlich die Causa Sarrazin. Dabei ist vieles, was Sarrazin aufschreibt, richtig. Seine oft schonungslose Beschreibung dessen, was ist,

(Zurufe von der LINKEN: Oh!)

könnte ja Basis für eine öffentliche Debatte sein, was besser gemacht werden müsse. Aber er selbst zerstört das Fundament, das er legt. Er benennt Probleme, gibt aber keine Lösungsansätze. Er macht Armutsprobleme zu Integrationsproblemen. Er schürt Ängste. Und seine vulgär-darwinistischen, seine biologistischen Scheinanalysen entwerten alles, was er schreibt. Sein Menschenbild ist nicht christlich-human.

(Beifall von der CDU, von der SPD und von den GRÜNEN)

Mönchengladbach und die Causa Sarrazin haben etwas gemeinsam: Beide erschweren es den Verantwortungsvollen, die Dinge beim Namen zu nennen und ernsthaft nach Lösungen zu suchen. Sie produzieren Nebel, und damit wächst die Gefahr, dass wir uns verirren.

Wo steht nun die Landesregierung in diesem Nebel? Im Koalitionsvertrag ist der Integration eine einzige von 89 Seiten gewidmet – 45 Zeilen für ein zentrales Zukunftsthema dieser Gesellschaft. Und dazu ein fatales Zeichen: Die Querschnittsaufgabe Integration für die Zukunft unserer Gesellschaft, diese Querschnittsaufgabe war fünf Jahre lang an zentraler

Stelle mit den anderen Querschnittsaufgaben für die Zukunft unserer Gesellschaft im Ministerium von Armin Laschet verortet; diese sinnvolle Zuordnung hat man jetzt zerschlagen, und die Integration landet im Ministerium für Arbeit und Soziales – von der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zum Anhängsel der Themen „Arbeitsmarkt“ und „Soziale Sicherung“, vom deutschen Bürger mit Zuwanderungsgeschichte hin zum Gastarbeiter der 60er-Jahre. Diese Verengung ist fatal.

Was steht nun im Koalitionsvertrag, in den mickrigen 45 Zeilen? Irgendwo in der Mitte gibt es ein schwächliches Bekenntnis zur interfraktionellen Integrationsoffensive der letzten fünf Jahre, die doch so gut gearbeitet hat. Ansonsten fällt man in alte Sichtweisen zurück. Die Einführung des Ausländerwahlrechts sei das Wichtigste – mit diesem Passus beginnen die 45 Zeilen. Einmal abgesehen von verfassungsrechtlichen Zweifeln – siehe Schleswig-Holstein –, sind Rot und Grün damit bestimmten türkischen Regierungskreisen und deren Funktionären hier zu willen. Das Ziel, dass wir alle gemeinsam als deutsche Staatsbürger unterschiedlicher Herkunft unser Land weiterentwickeln sollten, tritt bei Ihnen völlig in den Hintergrund. Es wird abgelöst von einer Klientelpolitik für potenzielle Wähler.

Die ersten Schritte des neuen Ministers und seiner meist unsichtbaren Staatssekretärin waren logischerweise wenig überzeugend. Zwei Beispiele!

Erstens. In Mönchengladbach haben Sie sich weggeduckt. Als dort die Schwierigkeiten begannen, hat meine Mitarbeiterin im Ministerium angefragt: Dürften wir mit einer Stellungnahme des Ministers rechnen? – Die Antwort lautete: Damit hat dieses Ministerium nichts zu tun; das ist etwas für das Innenministerium und den Verfassungsschutz. – Was soll man dazu noch sagen? Am Ende hat es dann mehr als 14 Tage gedauert, ehe der Herr Minister geruhte, sich zu äußern.

Zweitens. Als die Medien ihn dann endlich bestellt hatten, nannte er auf die Frage, was man denn tun könne, unter anderem – da hatte er völlig recht – die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an unseren staatlichen Schulen. Dass es den noch nicht gebe, sei ein Versäumnis der alten Landesregierung. – Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist entweder ein schlagender Beweis für die Unkenntnis dieses neuen Ministers oder ein schlagender Beweis für Perfidie!

(Beifall von der CDU)

Denn jeder, der sich auch nur ein bisschen mit dieser Frage beschäftigt hat, weiß, dass es bestimmte Vertreter in bekannten Organisationen waren, durch die das Projekt „Islamischer Religionsunterricht“ auf der Islamkonferenz in Berlin maßgeblich ins Stocken geraten ist – ich kann nur hoffen: nicht endgültig.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der Integration können wir nur Erfolg haben, wenn wir die Tatsachen ehrlich und leidenschaftslos betrachten, wenn wir allen Beteiligten die Wahrheit sagen, immer respektvoll, aber ohne falsche Rücksichtnahme. Und wir müssen handeln, auch da, wo es uns nicht leichtfällt. Unsere Feinde sind Angst, Hysterie und Übertreibung, aber auch das Weggucken und das Unter-den-Teppich-Kehren.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Wir müssen die Probleme erkennen, benennen und Maßnahmen zur Lösung ergreifen. Wir müssen das sachlich, nüchtern und ohne zu große Emotionalität tun. Und wir werden einen langen Atem brauchen.

Ich fürchte, dass die neue Minderheitsregierung die Bedeutung ihrer Aufgabe nicht verstanden hat. Sie behandelt Menschen mit Zuwanderungsgeschichte unter arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Fragestellungen. Sie degradiert sie damit und sieht offenbar nicht, dass es sich bei ihnen um einen aktiven Teil unserer interkulturellen Gesellschaft handelt. Sie weicht den Problemen aus und redet Funktionären nach dem Mund. Die Minderheitsregierung gibt sich alle Mühe, dem Vorwurf des „Spiegel“ recht zu geben. Wir müssen uns Sorgen machen. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der CDU)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Solf. – Für die FDP-Fraktion hat der Abgeordnete Dr. Romberg das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Wochen gab es kein Thema, das die Menschen in Deutschland mehr aufgewühlt hat, als das Buch des Noch- SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin.

Seitdem dominiert eine heftige Debatte über seine Thesen zur Integrations- und Einwanderungspolitik die Schlagzeilen. Kritisiert wurde bislang nicht nur die Behauptung Sarrazins, besonders Muslime seien unfähig und unwillig, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, sondern auch die Art und Weise.

Sarrazin versucht, die gesellschaftlichen Entwicklungen vor allem auf biologische Veranlagungen zurückzuführen. Derartige Aussagen sind absurd und der Sache sicher überhaupt nicht dienlich.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU und von der SPD)

Die breite Unterstützung in der Bevölkerung für den provokanten Integrationskritiker begründet sich vor allem in einem: Er hat es gewagt, Probleme bei der Integration zu thematisieren, die viele Menschen bei uns beschäftigen und ihnen auch Angst machen.

(Rüdiger Sagel [LINKE]: Aber wie!)

Fakt ist, dass in Deutschland und gerade in Nordrhein-Westfalen die Notwendigkeit integrationsfördernder Maßnahmen lange Zeit übersehen worden ist. Die deutsche Zuwanderungspolitik ist in der Vergangenheit von Fehleinschätzungen – übrigens in allen politischen Lagern – geprägt worden. Es war eine Fehleinschätzung, Deutschland lange Zeit überhaupt nicht als Einwanderungsland zu begreifen. Es war eine Fehleinschätzung, die Bildung von Parallelgesellschaften als multikulturelle Bereicherung zu verstehen, die sich irgendwie schon von selber in das Gesellschaftsbild einfügen würden.

Fakt ist auch, dass die Menschen in Deutschland verunsichert sind. Die kontroverse Diskussion zeigt uns vor allem zwei Punkte: Erstens muss es erlaubt sein, Missstände auch offen anzusprechen und dafür nicht gleich irgendwie geächtet zu werden. Zweitens. Integration muss gefördert, aber eben auch eingefordert werden; es ist keine Einbahnstraße

(Beifall von der FDP)

Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass sich die Mehrheit der zugewanderten Menschen hier gut integriert hat und das Land bereichert. Viele gute Beispiele gibt es überall: ob in der Politik, im Handwerk – bis hin zu unserer Fußballnationalmannschaft, wo Fußballhelden von Podolski bis Özil im Sommer manchen begeistert haben.

Die Integration von Zuwanderern ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben. Für mehr als jeden fünften Einwohner in Nordrhein-Westfalen ist Migration Teil der eigenen und familiären Identität. Dabei gelingt Integration vor allem über Bildung und Arbeitsmarkt. Angesichts einer älter werdenden Bevölkerung helfen erfolgreich integrierte Menschen, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen, aber auch die Zukunftsfähigkeit der Sozialsysteme zu sichern.

Die Arbeitslosenquote von Ausländern ist zwar rückläufig, liegt aber weiterhin fast doppelt so hoch wie die der deutschen Bevölkerung. Migranten finden schwerer Zugang zum Arbeitsmarkt. Wesentlicher Grund dafür sind vor allem fehlende oder unzureichende, aber auch unzureichend genutzte oder anerkannte berufliche Abschlüsse und Qualifikationen. Hierfür gibt es viele Beispiele.

Da gibt es zum Beispiel die in Russland geborene Irina Bier. Sie hat, bevor sie nach Deutschland kam, als Diplom-Ingenieurin – ihr Spezialgebiet ist Hydrotechnik – bei einem Energiekonzern gearbeitet. In Deutschland findet die 43-Jährige trotz mehrerer deutscher Weiterbildungen keinen Job. Es geht ihr wie vielen ihrer Bekannten, die mit einem solchen Diplom als Taxifahrer oder Reinigungskraft arbeiten.

An eine Bewerbung in ihrem Beruf kann auch die aus Pakistan stammende Ayesha Hamdani nicht denken. Sie ist gelernte Ärztin und bekommt ihren Abschluss in Deutschland noch nicht einmal teilweise anerkannt. Als Begründung wurde ihr gesagt, dass dieser in einem Land der Dritten Welt erworben worden sei. Eine Prüfung wie zum Beispiel in Spanien kann sie in Deutschland nicht ablegen. Ist ihr zumutbar, das ganze Studium zu wiederholen? Können wir uns das bei dem schon jetzt vorhandenen Ärztemangel, auch hier in Nordrhein-Westfalen, überhaupt leisten?