Protokoll der Sitzung vom 29.09.2010

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie sehr herzlich willkommen zu unserer heutigen, 9. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich drei Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Wir feiern heute auch einen Geburtstag, nämlich den von Frau Ministerin Svenja Schulze.

(Allgemeiner Beifall)

Liebe Frau Schulze, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag und alles Gute auch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen!

Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich noch Folgendes bekannt geben: Die Fraktionen haben sich zum Tagesordnungspunkt 2, der ersten Lesung des Nachtragshaushaltsgesetzes 2010 in Verbindung mit der Änderung des Gemeindefinanzierungsgesetzes, auf Bitten des Innenministers darauf verständigt, nach der Einbringung des Nachtragshaushaltsgesetzes hierüber zuerst die Debatte zu führen. Anschließend erfolgen die Einbringung der Änderung des Gemeindefinanzierungsgesetzes durch den Innenminister und die Debatte zur ersten Lesung dazu.

Wir treten nunmehr in die Beratung der heutigen Tagesordnung ein. Ich rufe auf:

1 Hartz IV wird zu Hartz 5

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion DIE LINKE Drucksache 15/236

In Verbindung mit:

Hartz IV-Regelsätze müssen transparent und nachvollziehbar sein

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 15/237

Und:

Die Neuregelung der Hartz IV-Regelsätze verbessert die Förderung von Kindern und sorgt für mehr Transparenz!

Eilantrag der Fraktion der FDP Drucksache 15/238

Die Fraktion Die Linke hat mit Schreiben vom 27. September 2010 gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Die Fraktionen von SPD und Grünen haben ebenfalls mit Schreiben vom 27. September 2010 zu dieser aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

In Verbindung damit wird auch der fristgerecht eingereichte Eilantrag der Fraktion der FDP debattiert.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin vonseiten der antragstellenden Fraktionen Frau Dr. Butterwegge das Wort.

Verehrter Präsident! Liebe Abgeordnete! Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts lautete, die Regelsätze transparent und nachvollziehbar neu zu berechnen. Kernforderung des Urteils war, den Betroffenen ein menschwürdiges Existenzminimum zu gewähren und die Kinderregelsätze kind- und altersspezifisch zu berechnen, statt sie pauschal vom Erwachsenenregelsatz abzuleiten.

Was hat die Regierung zur Umsetzung dieses Verfassungsgerichtsurteils nun vorgelegt? Würde es sich bloß um die Lösung einer Matheaufgabe handeln, müsste man bar jeder Pädagogik feststellen: Aufgabe noch nicht einmal im Ansatz gelöst, setzen, sechs! – Nur leider handelt es sich nicht um eine Matheaufgabe, sondern um die Lebenswirklichkeit von rund 550.000 Arbeitslosen in Hartz IV und um ihre Familienangehörigen.

Ein kurzer Exkurs zu den Kinderarmutszahlen macht uns deutlich, von welcher Dimension wir sprechen: In NRW lebten Ende 2005 insgesamt 2,7 Millionen Unter-15-Jährige, darunter fast 447.000 in Hartz-IV-Haushalten.

Ich komme zu meinem nächsten Punkt: Warum ist der vermeintliche Lösungsvorschlag dieses Gesetzentwurfs in Gänze verfehlt? – Erstens, weil die Regelsatzberechnung – anders als uns die Bundesregierung Glauben macht; das ist der zentrale Punkt – keine rein statistische, sondern eine politisch begründete und wertende Entscheidung ist.

(Beifall von der LINKEN)

An sich ist das nichts Schlimmes, aber man muss es auch als eine solch wertende Entscheidung benennen und darf sich nicht hinter – ich zitiere – unbestechlichen Zahlen, die sauber gerechnet seien, verstecken.

Politisch begründet ist zum einen die Berechnungsgrundlage, bei der die Ärmsten der Gesellschaft

zum Maßstab genommen werden, unabhängig davon, ob ihr Lebensstandard ein menschenwürdiger ist. Angemessener wäre meines Erachtens ein Warenkorbmodell. Zum anderen zeigt die Herausrechnung von Tabakwaren und alkoholischen Getränken, dass diese Entscheidung politisch begründet ist. Hier wird Sozialpolitik nach Gutdünken gemacht.

Ich komme zurück zur Fragestellung: Warum ist der vermeintliche Lösungsansatz in Gänze verfehlt? – Weil zweitens das Gebot der Achtung der Menschenwürde das Gegenteil von Diskriminierung und Stigmatisierung ist. Diskriminierend sind nämlich Sachleistungen, die Eltern ihre Erziehungskompetenz präventiv absprechen, indem sie Entscheidungen zur Förderung ihrer Kinder zu Sachbearbeitern in Argen verlagern.

Gegenfrage: Warum soll eine Mutter, die am Monatsende kein Geld zum Auffüllen ihres Kühlschrankes hat, zusätzliche Mittel nicht für Mahlzeiten für ihre Kindern einsetzen dürfen? Entspricht das Sachleistungsprinzip etwa dem christlichen Menschenbild von CDU und FDP, dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit und dem elterlichen Erziehungsauftrag?

(Beifall von der LINKEN)

Warum ist der Gesetzentwurf völlig verfehlt? – Weil drittens die Kinderregelsätze nach wie vor nicht alterspezifisch und bedarfsgerecht gestaltet, sondern einfach 1:1 übernommen wurden. Die Rechtfertigung, eigentlich hätten die Sätze sogar gesenkt werden müssen, ist mehr als zynisch. Denn dass zum Beispiel eine ausgewogene Ernährung von Jugendlichen schon mit dem bisherigen Regelsatz nicht geleistet werden konnte, ist seit Langem wissenschaftlich belegt.

Viertens ist der Vorschlag untragbar, weil die von Rot-Grün ins Werk gesetzten Hartz-IV-Regelsätze schon bisher nicht ausreichten, um zum Beispiel für etwas Unvorhergesehenes wie einen defekten Kühlschrank Extraausgaben anzusparen. Daran ändern trotz neuer Berechnungsweise 5 € mehr im Monat auch nichts. Gerade dies wird Betroffenen aber weiterhin abverlangt; denn durch die Pauschalierung der Regelleistungen sind Einmalleistungen weggefallen.

Ein Blick auf die Zahlen der Berechnungsgrundlage EVS und die Umrechnung der Bestandteile auf den Regelsatz zeigt, wie willkürlich das Ganze ist. Das möchte ich am Beispiel eines Internetanschlusses verdeutlichen: Bei den unteren 15 % der Einkommensgruppen verfügt kaum jemand über einen solchen. Folglich gibt diese Bevölkerungsgruppe durchschnittlich nur 2,28 € monatlich dafür aus, obwohl die tatsächlichen Kosten eines Internetanschlusses bei ca. 14 € liegen. Diesen Durchschnittswert nun für den Regelsatz unter der Behauptung heranzuziehen, auch ein Internetan

schluss sei damit abgedeckt, halte ich für eine gewagte These.

Jetzt möchte ich einen Blick auf die Bildungssachleistungen riskieren: Gutscheine, die nur Kinder aus armen Familien erhalten, sind stigmatisierend. Gutscheine sparen die sie Ausstellenden Geld. Denn wie viele der Betroffenen, die einen Anspruch hätten, lösen diesen tatsächlich ein, nehmen ein langwieriges Genehmigungs- und Beantragungsverfahren auf sich?

(Beifall von der LINKEN)

Vorgesehen ist außerdem, das Mittagessen armer Kinder in Ganztagsschulen und Kitas mit je 2 € pro Mahlzeit zu bezuschussen. Aber nicht alle Kinder in Nordrhein-Westfalen besuchen eine solche Ganztagsgrundschule. Die übrigen bekommen ihr Mittagsessen zu Hause, manche auch in Nachbarschaftsheimen, in offenen Türen, häufig, weil die heimischen Kühlschränke leer sind. Diese Kinder erhalten folglich keine Extrazuschüsse, frei nach dem Motto: Wer schon hat – in diesem Fall einen Ganztagsplatz –, dem wird noch mehr gegeben.

Wenn wir schon bei den Kindern, der Bildungsgerechtigkeit und den Teilhabechancen sind: Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Grundrecht der Menschenwürde ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, und zwar für alle Kinder, abgeleitet. Auch Frau von der Leyen trägt diesen Anspruch wie eine Monstranz vor sich her. Ich zitiere die Internetseite:

„Die Zukunft hilfebedürftiger Kinder darf nicht länger davon abhängen, ob die Eltern langzeitarbeitslos sind oder nicht. Kinder brauchen Chancen, Kinder brauchen Perspektiven, egal wie gut oder schlecht ihre Eltern finanziell gestellt sind.“

Kinder im Asylbewerberleistungsgesetz unterliegen inzwischen zwar der Schulpflicht – Gott sei Dank –, erhalten aber nach wie vor Regelsätze, die nochmals um bis zu 47 % unter dem Niveau der Kinderregelsätze von Hartz IV liegen. Das ist der Skandal, meine Damen und Herren.

(Beifall von der LINKEN)

Davon waren in NRW Ende 2009 fast 12.000 Kinder und Jugendliche betroffen. Für sie gibt es keine Bildungsgutscheine, keine Sportvereinsgutscheine oder Zuschüsse für ein warmes Mittagessen. Für mich ist überhaupt nicht einsehbar, warum der Bildungsbedarf eines Schulkindes, dessen Eltern als Flüchtlinge kamen, geringer sein soll als der eines deutschen Schulkindes.

(Beifall von der LINKEN)

Das Geschwätz von Integration entpuppt sich damit als plumpe Lüge, solange Flüchtlingskindern das Existenzminimum verweigert wird. Übrigens hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen

erst Ende Juli dem Bundesverfassungsgericht aufgetragen, die Grundgesetzvereinbarkeit der Asylbewerberleistungen zu überprüfen. Man darf also gespannt sein, unter anderem auf die Begründung von Frau von der Leyen.

Fassen wir zusammen: Die Aufstockung des Regelsatzes um 5 € entspricht keineswegs rein statistischen Sachzwängen, sondern sie ist politisch motiviert, wobei Vorgaben des Verfassungsgerichts ignoriert werden.

(Beifall von der LINKEN)

Zu beobachten sind Taschenspielertricks von einer Regierung, die Sozialpolitik auf Kosten der Ärmsten und nach Kassenlage betreibt. Ich erläutere das: 480 Millionen € will man für die Regelsatzänderung zusätzlich aufbringen, noch einmal so viel für Bildungsleistungen. Für Konzerne, Millionäre und Banken aber spannt man Rettungsschirme auf, die, wie im September 2008, 480 – ich betone – Milliarden € verschlingen.

Frau Abgeordnete, Ihre …

Deshalb sind die Vorschläge eine Schande für unsere Wohlstandsgesellschaft. Diese Politik spaltet, ist ein Schlag ins Gesicht Betroffener. Die Regelsatzberechnung entwürdigt diejenigen, die schon jetzt am Rand des Existenzminimums stehen, und grenzt sie weiter aus. Die Solidarität mit den Ärmsten bleibt bei Hartz IV auf der Strecke. Zugleich zelebriert man 2010 offiziell das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung – zynisch nenne ich das.

(Beifall von der LINKEN)