Protokoll der Sitzung vom 21.04.2016

(Ministerpräsidentin Hannelore Kraft: Die Ziel- marke des Unternehmens! Sie müssen richtig lesen!)

2050. Sie haben dem jedenfalls nicht widersprochen. Widersprochen hat allerdings wenige Stunden nach der Veröffentlichung Herr Priggen im Wirtschaftsausschuss hier im Landtag, als er von 15, 20 Jahren sprach. Deswegen möchte ich schon darum bitten, dass Sie dieses „wir“ noch einmal präzisieren, da Sie in dieser wesentlichen Frage für den Industriestandort Nordrhein-Westfalen chronisch zerstritten sind.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Infrastruktur, Verkehr: Ich halte eigentlich nichts davon, aber ich hatte es so schön in meiner Mappe. Sehen Sie das?

(Der Redner hält ein Schaubild hoch.)

Rot-Grün wenig, Schwarz-Gelb viel, Rot-Grün wieder wenig Investitionen in Verkehrsinfrastruktur. Sie hätten es längst anders machen können.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Das ist der Mittelabfluss aus dem Bundesverkehrswegeplan für Nordrhein-Westfalen. Wenn Sie heute eine Umkehr ankündigen, gerne. Das hätte ein bisschen früher passieren können.

(Lachen von Britta Altenkamp [SPD])

Digitalisierung: Herr Priggen, ich weiß nicht, wo Sie waren. Sie machen ja noch nicht so lange Wirtschaftspolitik, aber eigentlich sind Sie immer recht fleißig hier im Plenum.

(Lachen von den GRÜNEN)

Wir haben allein zehn Anträge zum Thema „Breitbandausbau“ gestellt, von den großen Fragen zu EFRE bis zum kleinen Bürgerbreitbandantrag. Da können Sie nicht sagen: Bei der Digitalisierung habt ihr nichts gemacht.

Wir haben hier eine Start-up-Debatte zu der Frage geführt: Welche Bedingungen brauchen Start-ups in Deutschland, in Nordrhein-Westfalen in Bezug auf ihre Finanzierung? So viel öffentliche Kohle, wie privat unterwegs ist und Anlagen sucht, kann man gar nicht ausgeben, darf man in dem Bereich auch nicht. Man muss nur die richtigen steuerrechtlichen Rahmenbedingungen schaffen, um so Wachstum zu generieren. Sie haben uns als Steuerhinterzieher und

Ähnliches bezeichnet. Das alles hatten wir hier. Sie haben es immer abgebügelt.

(Beifall von der CDU)

Irgendwann haben Sie dann gemerkt – Stichwort „Infrastruktur“ –, dass Sie Ihre Planzahlen zum Breitbandausbau, die durchaus ehrgeizig sind, nicht mehr erreichen. Herr Bolte musste irgendwann in der Sommerpause mit Herrn Becker ein Papier vorlegen, in dem es dann hieß: Den Zwischenschritt – wie Herr Minister eben gesagt hat – mit Vectoring, bis zu 50 MBit/s, müssen wir wohl gehen.

Bis dahin hatten Sie sich der Debatte total verweigert. Sie haben nicht zur Kenntnis genommen, dass unsere Industrie in Nordrhein-Westfalen, unser Mittelstand dezentral organisiert ist und mit der Politik „ausschließlich Glasfaser“, die Sie bisher vertreten haben, abgehängt wurde.

Im letzten Sommer sind Sie umgedreht, haben sich technologieneutral aufgestellt und haben erklärt: Glasfaser reicht auch später!

Aber jetzt können wir im ländlichen Raum auch eine etwas andere Politik fahren. Im letzten Sommer hatte Bayern schon ein Konzept mit 600 Kommunen, die uns jetzt die Fördermittel aus dem Bund abspenstig machen. Sie haben das nicht hingekriegt, weil Sie viel zu spät erkannt haben, dass es im Land nicht nur Großstädte gibt, sondern dass der Mittelstand dezentral ist.

Dann haben Sie angefangen, sich um Förderungen zu kümmern, und haben gemerkt, dass Sie dafür eigentlich keine Kohle haben. Dann haben Sie ein bisschen Geld für Gewerbegebiete zur Verfügung gestellt.

90 % der Gewerbe- und Industriegebiete in Nordrhein-Westfalen haben keinen Breitband-Internetanschluss. Was machen Sie? Sie warten auf das Geld vom Bund und fangen mit der ganzen Geschichte viel zu spät an. – Das war das Zweite.

Das dritte Stichwort: Industrie und Digitalisierung. Sie sprechen jetzt von Industrie 4.0. Da wäre es wirklich interessant, zu wissen, was in Ihrer Regierungszeit hier wirklich passiert ist.

Sie haben einen Digitalexperten, Herrn Prof. Kollmann, berufen. Er hat im Sommer 2014 ein erstes Interview gegeben und gesagt: Ja, wir haben 400 Start-ups. Das könnte mehr sein. Aber jetzt bin ich ja da und gebe Gas. – Ein Jahr später hat er wieder ein Interview gegeben und in der „WELT AM

SONNTAG“ erklärt: Ich bin jetzt ein Jahr da. Hurra; wir haben 400 Start-ups.

Die spannende Frage wäre doch jetzt: Haben Sie in der Zwischenzeit einmal versucht, eine andere Politik aufzusetzen? Haben Sie versucht, die traditionelle Industrie mit Start-ups zusammenzubringen? Sind es vielleicht andere Start-ups?

In der Summe kann ich keinen Fortschritt erkennen. Die entscheidende Frage, wie man aus einem alten Industriestandort mit langen Wertschöpfungsketten und viel Industrie auch in der Ära „Industrie 4.0“ einen erfolgreichen Standort macht, ist längst nicht beantwortet. Herr Kollmann beantwortet sie jedenfalls zahlenmäßig nicht. Da sind Sie noch ein paar Antworten in der Sache, in der Substanz schuldig.

Dann sagen Sie: Wir weinen nicht dem Alten hinterher. Wir setzen auf Neues. Wir sind verliebt in das Neue. – Alle diese Sprüche sind wunderbar. Lesen Sie heute einmal die „Westfälischen Nachrichten“. Herr Schöler vom Care-Institut ist aus Münster fortgegangen. Er wurde von Ihnen – nicht von Ihnen persönlich; da muss ich jetzt dorthin gucken – vergrault und ist nun in Bayern. Er hat dort den gleichen Antrag vorgelegt und wird mit offenen Armen empfangen. Sie wollten ihn nicht haben. Stammzellenforschung war mit Ihnen nicht zu machen. Das Neue ist aus Nordrhein-Westfalen abgehauen. Diese Politik vertreibt es.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Genauso war aus Ihrer Sicht die Politik aus der Zeit der Regierung Rüttgers/Pinkwart nicht mehr up to date, die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Hochschulen zu fördern. Da haben Sie sich mit Ihrer Hochschulpolitik geradezu an der Zukunft des Landes versündigt.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das passt nahtlos da hinein. Sie stellen sich hierhin und sagen: „Wir wollen das Neue; wir wollen Innovationen“, haben aber das Gegenteil davon gemacht. Entweder war es wirklich Ihr Sputnik-Schock, und Sie kehren jetzt bei Infrastruktur, Digitalisierung und Zusammenarbeit von Hochschulen und Wirtschaft um, oder es ist alles heiße Luft. Dann werden wir das in den nächsten Monaten verfolgen können.

Gestern Abend hat der Präsident von unternehmer nrw, Horst-Werner Maier-Hunke, Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass er in diesem Jahr mit Minuswachstum rechnet. Jetzt kann man sich über die Wortwahl „Minuswachstum streiten“. Das ist kein Wachstum mehr; das ist ein deutlicher Rückschritt. Deswegen müssen wir schon darauf bestehen, dass das heute keine heiße Luft bleibt, sondern hier wirklich eine Umkehr stattfindet.

Es hat mich fast traurig gemacht, dass ein gestandener Mann im Alter von Horst-Werner Maier-Hunke da vorne stehen und zum wiederholten Male flehen muss, dass in diesem Land endlich eine Willkommenskultur für Unternehmen vorherrscht.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Es hat mich fast beschämt, dass Sie das immer noch nicht mit ihm geklärt haben. Er fühlt sich offensicht

lich genauso wie die Unternehmen und die Verbände, die er repräsentiert, nicht ausreichend willkommen. Das muss sich ebenfalls ändern, und nicht nur die Rhetorik. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Wüst. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Hübner.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wüst hat gerade die Willkommenskultur angesprochen. Warum schaut China positiv gestimmt nach Nordrhein-Westfalen? Weil wir Strukturwandel können; weil wir Strukturwandel in den letzten Jahrzehnten bewiesen haben und gemacht haben. Dazu will ich Ihnen auch das eine oder andere Bild aus der kommunalen Perspektive zeichnen.

Als Opel vor rund 40 Jahren nach Bochum gegangen ist, hatte das auch etwas mit Strukturwandel zu tun. Wie Reiner Priggen gerade gesagt hat, stand nämlich der Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau damals schon bevor, und eine der Ansiedlungen war das Holen von Opel nach Bochum. Opel wurde nach Bochum geholt, und es war ein toller Erfolg. Die Leute und die Beschäftigten im Ruhrgebiet haben Autos von Opel gekauft, und Autos von Opel wurden dort gefahren.

Ein zweites Beispiel für den Strukturwandel, der eingeleitet worden ist und der heute immer noch gestaltet werden muss: Siemens wurde nach Gladbeck geholt. Siemens, ein großes Unternehmen, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Süddeutschland angesiedelt war, hat gesagt: Wir gehen nicht irgendwohin; wir gehen ins Ruhrgebiet. – Sie sind dann nach Gladbeck gegangen.

1989 haben wir Siemens in Gladbeck abgewickelt. Seitdem läuft der Strukturwandel in Gladbeck weiter. Seit der Schließung von Opel in Bochum läuft er auch in Bochum weiter. Das begleiten wir seit der Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen, indem wir Veränderungen einleiten und den Strukturwandel vernünftig gestalten.

Das sind keine abgedroschenen Phrasen, wie Herr Lindner es heute Morgen eingangs gesagt hat, sondern das ist Politikgestaltung. Das haben wir immer als ernsthaften Politikansatz verfolgt und werden es in der Wirtschafts- und Strukturpolitik hier in Nordrhein-Westfalen entsprechend fortführen.

(Beifall von der SPD)

Heute Morgen hat Christian Lindner gesagt, im Saarland gebe es auch einen Strukturwandel. Ja, die Kollegin Kramp-Karrenbauer hat auch etwas zu leisten. Was vergleichen Sie denn da, Herr Lindner? Das

Saarland hat ein Bruttoinlandsprodukt von rund 33 Milliarden €, während das Bruttoinlandsprodukt von Nordrhein-Westfalen bei annähernd 630 Milliarden € liegt. Ich erwähne diese Zahlen, damit wir uns einmal über die Verhältnismäßigkeit unterhalten können.

Der Umsatzeinbruch bei E.ON und bei RWE – diese Unternehmen haben hier in der Debatte ja auch eine Rolle gespielt – betrug alleine vom Jahr 2013 auf das Jahr 2014 bei E.ON etwa 8 Milliarden € und bei RWE 6 Milliarden €. Rund 2 Milliarden € haben wir bei den Stadtwerken verloren. Das entspricht der Hälfte der Wirtschaftsleistung des Saarlands, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und da sagen Sie, das Saarland stehe vor der gleichen Herausforderung wie wir? Was Sie da machen, ist unlauter. Das geht von der Argumentation her überhaupt nicht.

Dazu will ich Ihnen noch ein Beispiel geben. Wir haben letztlich 16 Milliarden € Umsatz verloren. Es hat zu einem, wie Sie sagen, Nullwachstum geführt – wobei man abwarten muss, inwieweit es wirklich ein Nullwachstum sein wird. Herr Minister Duin hat Sie ja schon darauf hingewiesen, dass man vielleicht noch einmal das eine oder andere Gespräch mit dem einen oder anderen Wirtschaftsexperten führen sollte. Wenn Sie das so angehen, wie Sie es heute Morgen vorgetragen haben, kann das für Sie nur hilfreich sein.

Was bedeuten diese 16 Milliarden €, also 50 % des saarländischen Bruttoinlandsprodukts? Ich will das für Sie einmal auf eine durchschnittliche Pommesbude umrechnen. Vielleicht verstehen Sie die Zahl, die wir in Nordrhein-Westfalen haben, dann etwas besser. Die durchschnittliche Pommesbude macht 300.000 € Umsatz im Jahr. Wenn Sie 16 Milliarden € verlieren, entspricht das etwa 53.000 Pommesbuden. Dann sagt man vielleicht, dass eine Pommesbude im Saarland noch einen erheblichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum im Saarland leisten kann.

(Lutz Lienenkämper [CDU]: Das ist ein Wirt- schaftsexperte!)

In Nordrhein-Westfalen ist das aber nicht der Fall. Die Wirtschaft, insbesondere die mittelständische Wirtschaft, ist hier so stark, dass diese 16 Milliarden € kompensiert worden sind. Es hat immerhin noch zu einem Nullwachstum gereicht.