Das führt natürlich dazu, dass man verstärkt darüber diskutieren muss, öffentliche Angebote entsprechend zurückzuführen, dass man teils unpopuläre Entscheidungen treffen muss, indem man lieb gewonnene Einrichtungen vielleicht auch einstellen muss. Das setzt natürlich voraus, dass man dennoch versucht, diese Verantwortung, die man vor Ort hat, wahrzunehmen. Das fällt zunehmend schwerer, wenn insbesondere eine Vielzahl von Einzelbewerbern da ist, die nur aus ganz partikulären Interessen heraus gewählt worden sind und nur das Ziel haben, genau dieses partikuläre Interessenmoment auch weiterzutragen und entsprechend umgesetzt zu bekommen.
Jetzt komme ich zu Herrn Herrmann. – Das führt letztendlich dazu, dass die Einzelkämpfer in diesem Sinne, die Einzelbewerber, auch sehr schnell feststellen, dass sie nicht in der Lage sind, das umfassende Bild dessen, was Kommunalpolitik heute bedeutet, mit all der Verantwortlichkeit, die damit verbunden ist, mit der Vielzahl der Interessenlagen, die man zu durchschauen und zu durchdringen hat, bevor man sich selber zu einer politischen Meinung dazu durchringt, selber abzuarbeiten.
Deshalb stellen wir zunehmend fest, dass wir immer mehr Zusammenschlüsse haben – zu Gruppen oder Fraktionen, die wir technische Gruppen oder technische Fraktionen nennen, die das Ziel haben, genau diesen Punkt zu überwinden, nämlich Partner zu finden, mit denen man gemeinsam diese Aufgabe angehen kann, was natürlich auch voraussetzt, dass man sich politisch darüber verständigt, was man gemeinsam erreichen will, um diese Interessen dann auch gemeinsam vorzutragen, aber auch um Mittel zu generieren, aus denen heraus dann die eigentliche politische Arbeit geleistet werden soll.
Meine Damen und Herren, wir haben im Vorfeld sehr oft auch die Frage nach dem Erfolgswert der Wahlstimme diskutiert. Dabei haben wir Folgendes festgestellt: Eine faktische Sperrklausel existiert in Nordrhein-Westfalen gerade bei den kleineren Kommunen allein schon durch die zahlenmäßige Beschränkung; sie liegt zwischen 2,5 % und 2,8 %. Bei den großen Räten stellen wir eine noch viel größere Spreizung fest; da geht sie teilweise bis auf 0,8 % herunter.
Das führt letztendlich dazu, dass Bewerber in großen Räten – beispielsweise in meiner Heimatstadt Bielefeld – teilweise schon mit 0,9 % ein Ratsmandat bekommen, während die Kollegen der größeren Koalitionen alle 1,5 % brauchen. Würde man das entsprechend umsetzen, hätte man eine Vielzahl von Mandaten mehr.
Herr Kollege Nettelstroth, entschuldigen Sie, dass ich Sie ein zweites Mal unterbreche. Es ist wieder der Kollege Herrmann von den Piraten, der Ihnen eine Zwischenfrage stellen möchte.
Vielen Dank, dass Sie noch eine weitere Zwischenfrage zulassen. – Es geht mir noch einmal um das Thema „technische Fraktion“, wie Sie es nennen. Wenn Ihnen solche Zusammenschlüsse nicht gefallen, warum sperren Sie sich dann dagegen, die Unterstützung für Einzelbewerber zu stärken?
Wir haben im Kommunalausschuss darüber gesprochen, dass auch ein Einzelbewerber von der Verwaltung in seiner ehrenamtlichen Arbeit durch was auch immer noch weiter unterstützt wird. Derzeit bekommen ja nur die großen Fraktionen eine starke Unterstützung. Wäre es nicht sinnvoll, den Einzelbewerber zu stärken?
Herr Herrmann, ich gehe gerne darauf ein. Nein, ich habe nichts dagegen, dass sich Einzelbewerber zusammentun, um technische Fraktionen oder Gruppen zu bilden. Warum spreche ich das Thema an? Weil ich der Auffassung bin, dass genau dieser Prozess eigentlich schon vorher stattfinden müsste, damit sich diese Bewerber eben gemeinsam darstellen.
Deshalb geht auch der Vorwurf der Piraten, dass das ein undemokratisches Verfahren sei, vollkommen fehl; denn diese Bewerber sind durchaus in der Lage, auch mit anderen Mehrheiten vorzugehen, wenn sie ihr politisches Programm anders aufstellen.
Herr Herrmann schaut mich mit großen Augen an. Er weiß, dass ich aus Bielefeld komme. Er weiß auch, dass dort ein Pirat mit einem Vertreter der Bürgernähe zusammenarbeitet; die beiden kommen auf 3,1 %. Da frage ich mich: Warum tun sie sich nicht schon vorher zusammen?
Die Stimme ist mit Sicherheit nicht verloren. Da ist immer eine Möglichkeit gegeben, sich im Vorfeld entsprechend zusammenzuschließen, damit auch der Öffentlichkeit gegenüber deutlich zu machen, wie man politisch unterwegs ist, und so für entsprechende Stimmen zu werben.
Nunmehr stehen wir vor dem Schritt, diese Problemlage in Angriff zu nehmen. Mit der moderaten Sperrklausel von 2,5 %, die wir nun in Art. 78 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung entspre
chend absichern wollen und heute mit gebotener qualifizierter Mehrheit beschließen werden, machen wir deutlich, dass wir dieses Problem sehr wohl erkannt haben und der Auffassung sind, dass es einer solchen Sperrklausel bedarf.
Die Größenordnung von 2,5 % ist weise gewählt; sie bildet einen guten Mittelwert; ich hatte ja vorhin schon darauf hingewiesen, dass wir auch faktische Sperrklauseln von 2,8 % haben. Dadurch wird es allen, auch kleineren Parteien, ermöglicht, am politischen Leben teilzunehmen, wenn die Bereitschaft zur Zusammenarbeit da ist. Daher wird niemand ausgeschlossen.
Vielen Dank, Herr Kollege Nettelstroth. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Mostofizadeh.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einer pluralen und vielstimmigen Gesellschaft. Darüber bin ich sehr froh. Denn für uns Demokratinnen und Demokraten sind unterschiedliche Werte, unterschiedliche Interessen nicht nur etwas Alltägliches, sondern auch etwas Positives.
Ja, für uns ist klar: Vielfalt und Pluralität sind wesentliche Grundlagen unserer Demokratie. Aber gerade weil wir diese Vielfalt so schätzen, ist ein kluger und vernünftiger Umgang mit ihr so wichtig. Darum brauchen wir handlungsfähige demokratische Institutionen; wir brauchen handlungsfähige Kreistage, Stadträte und sonstige kommunale Gremien.
Vielfalt darf eben nicht identisch sein mit Zersplitterung, Gleichgültigkeit oder gar Fragmentierung. Sie darf Politik eben nicht handlungsunfähig machen.
Wenn wir heute eine Änderung des Wahlrechts diskutieren, dann wollen wir genau diese Vorkommnisse angehen. Dafür haben wir in diesem Parlament – Gott sei Dank – einen großen Konsens. Aber nicht alle wollen diesem Konsens folgen. Sie sagen, wir würden die Vielfalt mit unserem Vorschlag einschränken.
Ich jedoch sage Ihnen: Nein, das Gegenteil ist der Fall! Wir wollen, dass eine plurale Wirklichkeit in den Kommunen nicht bloß präsent ist, sondern auch politisch handlungsfähig und wirksam wird und damit erst zur Geltung kommt.
Aus meiner Sicht ist es ein Fehler, die bloß numerische Vielfalt mit einer handlungsfähigen demokratischen Institution zu verwechseln. Ob da nun viele bunte Farben unverbindlich im Rat unterwegs sind – sie stehen eben nicht für einen echten und streitbaren Dialog, der die Gesellschaft wirklich voranbringt. Ich meine einen Dialog, der die Argumente, die auszutauschen sind, aufzeigt, und die Fakten, die zu diskutieren sind, offenlegt – bei den Menschen, die sich tatsächlich ein eigenes Bild über den besten Weg machen möchten, wo Politik nicht simuliert wird und
Ich sage dies nicht mit erhobenem Zeigefinger. Gerade wir Grünen haben in den 80er-Jahren einen langen Weg der Selbstfindung und der Klärung von Prozessen zurückgelegt. Wir hatten eine bunte Vielfalt. Jetzt haben wir – das nehme ich für uns in Anspruch – die Prozesse geklärt und für programmatische Klarheit sowie für Handlungsfähigkeit in unserer Partei gesorgt.
Ich möchte Ihnen auch noch einmal, weil das immer so abgetan wird, das Bild eines Kommunalpolitikers beschreiben, das der Kollege Nettelstroth hier schon angesprochen hat. Ich habe das auch in den Ausschussberatungen schon einmal gesagt. Es ist nicht jedem zuzumuten, morgens um 5 Uhr aufzustehen, dann eine Schicht als Altenpfleger zu fahren, mittags die Vorbesprechung im Rat zu machen, nachmittags die Kinder von der Kita abzuholen, um dann wieder in die Fraktionssitzung zurückzukehren und bis in die Nacht an der Ratssitzung teilzunehmen. Das ist kein normales, menschenwürdiges Bild von Kommunalpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wenn Sie einen solchen Tagesablauf sehen, dann muss man sich nicht wundern, wenn Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, die jung oder in der Aufstiegsphase sind, dieses kommunale Ehrenamt für unattraktiv halten. Deswegen müssen wir da gegensteuern, weil es um die Menschen geht, die das Rückgrat – der Kollege Körfges hat es gesagt – unserer kommunalen Demokratie bilden. Und darum es geht es bei der Verfassungsänderung, die wir Ihnen heute vorschlagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu einem weiteren Aspekt, der eben auch schon einmal angesprochen worden ist. Wir haben faktisch eine Zweiklassensituation in den Stadträten. Da gibt es die Einzelvertreterinnen und Einzelvertreter, die sich dann in technischen Fraktionen zusammenschließen. Aber die politische Basis, das, was repräsentiert werden soll, wird eben nicht abgebildet. Ratspolitik wird dann wieder nur simuliert.
Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Demokratiepolitik, die rein numerisch auf Vielfalt guckt, steht übrigens auch in einem ganz praktischen Gegensatz zur direktdemokratischen Auseinandersetzung; denn direktdemokratische Elemente in der Gemeindeordnung – wir haben dafür, glaube ich, eine Menge getan – führen gerade nicht zu mehr Zerstü
ckelung, sondern zu einer Zuspitzung von Fragestellungen, zu politischer Entscheidbarkeit und dann eben auch zu einer massiven Mobilisierung von Bürgerinnen und Bürgern, die zu diesen Abstimmungen hingehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Zerstückelung in den Räten erschwert hingegen Mehrheitsbildung. In den meisten Räten – das ist eben auch mehrfach gesagt worden – ist die Große Koalition die, wie ich finde, unschöne Kopie des unschönen Spiels, das sich gerade in Berlin abspielt. Es führt, wenn viele Einzelvertreter da sind, nicht zu mehr Demokratie, sondern zu weniger Demokratie und zu weniger Transparenz in den Räten und Kreistagen.
Und wir haben ein anderes Ratsmodell als beispielsweise das in Baden-Württemberg. Unsere Räte haben umfassende Entscheidungsmöglichkeiten. Ich will nicht zuletzt auf das Recht der Allzuständigkeit hinweisen. Wir haben umfangreiche Zuständigkeiten und eine relativ geringe Dotierung. Wenn unsere Räte handlungsunfähig werden, dann schadet das den NRW-Kommunen unmittelbar und sehr nachhaltig.
Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen, der Folge von schwierigen Mehrheitsbildungen ist. Die Verwaltung und auch die Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister bzw. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister werden weiter handeln. Sie weiter Satzungen erlassen und Entscheidungen treffen. Die gewählten Ratsvertreterinnen und Ratsvertreter und sonstigen Gremienvertreterinnen gucken sich das dann an und können keine Entscheidung mehr treffen.
Das ist nicht unser Demokratiemodell. Wir wollen, dass diejenigen, die konkret gewählt worden sind, auch die Politik in den Räten und Kreistagen dieses Landes entscheiden.
Ich will noch einmal auf die 2,5 % zurückkommen. Prof. Bogumil hat diese Ausarbeitung gemacht. Er kommt zu 2,8 %. Deswegen macht auch dieser moderate Vorschlag deutlich, dass wir uns sehr genau angeguckt haben, an welcher Schwelle wir den Eingriff betreiben. Und diese 2,5 % sind deutlich moderater als das, was uns von den Sachverständigen vorgeschlagen worden ist.
Wir machen diesen Vorschlag, weil wir glauben: Vielfalt sollte nicht mit Fragmentierung verwechselt werdend. Der Vorschlag soll der Zersplitterung entgegenwirken, und die Kommunalpolitik soll tatsächlich wieder handlungsfähig gemacht werden.
Wir wollen mit dem heutigen Vorschlag dafür sorgen, dass es wieder gute und transparente Politik in gut
funktionierenden und demokratischen Institutionen gibt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sorgt für mehr Zusammenhalt. Deswegen machen wir Ihnen diesen Vorschlag.
Ich bitte um eine breite Unterstützung, damit die Verfassung heute und in dritter Lesung morgen geändert werden kann. – Danke für die Aufmerksamkeit.