Protokoll der Sitzung vom 09.06.2016

Allerdings hat sie gesagt: Ich will kein Kind zurücklassen. – Das war der Anspruch. Wir haben letzte Woche eine kleine Bilanz erlebt. 18 Modellkommunen haben das gemacht, was wir seit vielen Jahren machen: Prävention, Kinder früh begleiten, Jugendämter sensibilisieren, bereits nach der Geburt erste Projekte durchführen.

(Nadja Lüders [SPD]: Schon vor der Geburt!)

Das hat schon die Regierung davor gemacht. – Frau Kraft hat das weitergeführt. Dafür hat sie 1,9 Millionen …

(Zuruf von Norbert Römer [SPD])

Ich bringe Ihnen die Broschüren aus meiner Zeit als Familienminister zu diesem Thema einmal mit, Herr Römer. Das Thema „Familienzentren“, behauptet

Frau Kraft, hätte sie auch erfunden. Also, da gehört schon viel Kreativität dazu, was sie jetzt macht.

(Heiterkeit und Beifall von der CDU)

Aber über das, was jetzt nötig ist, wollen wir gar nicht streiten, denn es ist richtig, Prävention zu betreiben. Nur, mit 1,9 Millionen € in 18 Modellkommunen von 2012 bis 2015 einmal etwas zu probieren, ist nicht der Anspruch einer Regierungserklärung.

(Beifall von der CDU)

Deshalb möchten wir heute einen Vorschlag dazu unterbreiten – wie wir das bereits bei der inneren Sicherheit und anderen Themen in Aktuellen Stunden getan haben –: Wie können Sie wirklich dafür sorgen, dass kein Kind zurückgelassen wird? Da kann man in den Grundschulen ansetzen. Da muss man im Bildungssystem ansetzen. Deshalb ist das auch so alarmierend, dass in der einzigen Schule, in der noch alle Kinder zusammen sind und in der vom ersten bis vierten Schuljahr die Grundlage gelegt wird, der Zustand so ist, wie er durch die VBE-Umfrage repräsentativ in fast allen Grundschulen des Landes erfasst wurde.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wenn nur 30 % der Schulen ausreichend Unterricht für Kinder mit Förderbedarf anbieten, wenn man die Inklusion mit der Brechstange umsetzt, die Förderschulen schließt,

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Das ist doch Unfug! – Eva Voigt-Küppers [SPD]: Jawohl!)

aber dann in den Schulen den Kindern keine Sozialpädagogen bietet, Frau Beer, dann lassen Sie Kinder zurück!

(Beifall von der CDU)

Sie lassen Kinder zurück. Wenn Unterrichtsausfall der Maßstab Ihrer Regierung ist, wenn das wirklich stimmt, was der VBE sagt, dass nach vier Grundschuljahren – bevor es auf die weiterführende Schule geht – ein Kind in Nordrhein-Westfalen ein halbes Jahr weniger Unterricht als in Bayern hat, dann ist das „Kinder zurücklassen“ in der schlimmsten Form!

(Beifall von der CDU und der FDP)

Bei allen diesen Dingen hat die Schulministerin schon fast Jägersche Züge: erst sagen „Das stimmt alles nicht“, das Problem banalisieren, mit den Betroffenen nicht reden. Wir haben die Antwort der Schulministerin zur FDP-Anfrage im letzten Jahr zu den 700 unbesetzten Rektorenstellen gehört: Schulbehörden können nicht für die Besetzung der Rektorenstellen sorgen. – Das ist wie bei Jäger; bei ihm ist die Polizei schuld. – Ich als Schulministerin habe nichts damit zu tun, wenn 700 Stellen nicht besetzt werden.

Dann gibt es einen Brief zur Situation der Flüchtlingskinder, die jetzt, in dieser angespannten Situation, auch noch integriert werden müssen. Es gibt eine WDR-Umfrage zum Zustand der Schulgebäude. Da sagt man: Die Kommunen sind schuld.

(Eva Voigt-Küppers [SPD]: Herr Laschet, Sie wissen doch, wer dafür verantwortlich ist! – Weitere Zurufe von der SPD)

Da kann man aber helfen. Ein Land kann sagen: Lassen Sie uns einmal gemeinsam mit den Kommunen darüber nachdenken, wie wir den Zustand in unseren Schulen verbessern. Man kann doch nicht alles abschieben!

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Dann kommt die Landeselternschaft und sagt: Der Unterrichtsausfall ist ein Riesenproblem, diese 1,7 % können nicht stimmen. – Wir schlagen Ihnen seit Monaten vor: Lassen Sie das digital erfassen.

(Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

Es gibt die Software; Frau Kraft war doch gerade in Estland und redet über Digitalisierung. Fangt doch mal in den Schulen hier an, zu messen, was es an Digitalisierung gibt!

(Beifall von der CDU und der FDP)

Dann diskreditieren Sie das große Projekt der Inklusion, das im Landtag Konsens war. Alle wollten Inklusion, aber richtig umgesetzt. Wenn die Diakonie Rheinland klagt, wenn der BVE sagt, in 66 % sei die personelle Ausstattung mangelhaft und ungenügend, dann lassen Sie auch hier Kinder zurück.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Deshalb, liebe Landesregierung, liebe Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Löhrmann: Machen Sie das jetzt ernsthaft zum Thema. Lassen Sie das mit den PR-Aktionen und Modellprojekten. Fangen Sie in unseren Grundschulen an. Geben Sie den Kindern in Nordrhein-Westfalen die Chance, einen guten Start in den Bildungsweg zu nehmen!

Wenn Sie das nicht tun, sind am Ende Ihrer Wahlperiode mehr Kinder zurückgelassen, als Sie 2010 übernommen haben, und das wäre eine schlechte Nachricht.

(Anhaltender Beifall von der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Laschet. – Für die FDP-Fraktion spricht jetzt Frau Kollegin Gebauer.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Landesregierung nutzt die hohe Eigenmotivation und das Engagement der Lehrkräfte schamlos aus.

(Beifall von der FDP und Michele Marsching [PIRATEN] – Zuruf von Karin Schmitt-Promny [GRÜNE])

Ja, liebe Frau Schmitt-Promny, da können Sie jetzt den Kopf schütteln und in meine Richtung schauen; der Satz stammt aber nicht von mir, sondern der Satz ist das Resümee des Vorsitzenden des VBE, Herrn Beckmann, zum rot-grünen Umgang mit den Grundschulen.

Geradezu im Wochentakt entlädt sich gegenwärtig in Umfragen die schlechte Stimmung an unseren Schulen in Nordrhein-Westfalen. Diese Umfragen zeigen schonungslos, welche desaströse Wirklichkeit hier jenseits der rot-grünen Propagandapolitik vorherrscht. Vom Recht eines jeden Kindes auf individuelle Förderung hat sich Nordrhein-Westfalen, hat sich die Politik unter dieser Landesregierung und unter der Schulministerin, schon länger verabschiedet.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Frau Ministerpräsidentin Kraft und Frau Ministerin Löhrmann, Sie beide loben sich immer wieder für eine angeblich erfolgreiche präventive Sozial- und Bildungspolitik. Aber ich sage Ihnen, die Realität an unseren Schulen und in unserer Gesellschaft schaut ganz anders aus. Aktuell weisen gleich mehrere Studien für Nordrhein-Westfalen nach, dass Kinderarmut – Herr Laschet hat es schon angesprochen – ein wachsendes Phänomen ist. Jüngst war den Statistiken der Bundesagentur zu entnehmen, dass mittlerweile nahezu jeder Fünfte – jeder Fünfte! – unter 15 Jahren auf die Grundsicherung angewiesen ist.

(Eva Voigt-Küppers [SPD]: Und das von der FDP!)

Im bundesweiten Vergleich ist die U3-Betreuungsquote – Herr Hafke spricht es permanent für uns an – die geringste. Laut Statistischem Bundesamt gehört Nordrhein-Westfalen bei den Ausgaben je Schüler regelmäßig zu den schlechtesten Bundesländern. Auch der Bildungsmonitor 2015 bescheinigt Nordrhein-Westfalen bei der Ausgabenpriorisierung der Bildung nur den 15. Platz, bei den Grundschulen sogar den letzten Platz. Die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptabschluss sinkt langsamer als in vergleichbaren anderen Ländern. Auch bei der Inklusion steigt laut verschiedenen Rückmeldungen die Zahl der behinderten Kinder, die nur noch eingeschränkt beschult werden können.

Diese Zahlen sind dramatisch. Trotzdem weigern Sie sich, diese Entwicklungen überhaupt zu erfassen. Meine Damen und Herren, diese Landesregierung spielt mit den Lebenschancen unserer jungen Menschen, unserer Schülerinnen und Schüler.

(Beifall von der FDP und der CDU – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

In all das reiht sich die VBE-Umfrage zur Lage der Grundschulen nahtlos ein. Laut Schulministerium genießen die Grundschulen unter Rot-Grün eine besondere Stellung. Vor solch einem Genuss und einer besonderen Stellung bei Rot-Grün müssen sich die Lehrerinnen und Lehrer anscheinend fürchten.

Wir bestreiten nicht, dass für die Grundschulen weitere Stellen bereitgestellt worden sind. Aber das Kernproblem ist, dass den Grundschulen ebenso wie vielen anderen Schulen hier in Nordrhein-Westfalen zu viel zugemutet wird. Es ist ein ständiges Hineinregieren. Es ist mehr Bürokratie. Es ist Unterrichtsausfall. Es ist die katastrophale Umsetzung der Inklusion. Jetzt kommt noch die Bewältigung der Flüchtlingssituation hinzu.

In Anbetracht dieser Ausführungen ist es kein Wunder, dass sich Lehrkräfte aufgrund dieser besonderen Stellung „abgehängt“ und „schamlos ausgenutzt“ fühlen.

Stellvertretend für eine riesige Zahl von Beschwerdebriefen aus Grundschulen möchte ich gerne aus dem Brandbrief zitieren. Herr Laschet hat ihn auch schon angesprochen.

In diesem erklären die Lehrkräfte, dass ihr Berufsbild durch verschiedenste zusätzliche Aufgabenbereiche so immens ausgeweitet wurde, dass die an sie gestellten Anforderungen schlicht und ergreifend nicht mehr erfüllbar sind. Sie müssen bei völlig unzureichender Ausstattung als Sozialpädagogen arbeiten und als Jugendhilfe agieren. Sie sind Psychologen. Sie sind Integrationshelfer, Sprachlehrer, ersetzen nicht vorhandene Sonderpädagogen und fungieren zudem als Mentoren für nicht ausgebildete Kolleginnen und Kollegen. Das Resümee lautet – wenn ich zitieren darf –:

Für die Förderung von begabten und sehr begabten Kindern und Jugendlichen, die für uns als heranwachsende Leistungsträger von morgen wichtig sind, stehen keine Ressourcen mehr zur Verfügung.

Meine Damen und Herren, diese Landesregierung von Rot-Grün lässt nicht nur kein Kind zurück. Sie holt viele Kinder erst gar nicht mehr ab.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Frau Ministerin Löhrmann, Sie werden jetzt gleich Zahlenreihen von sich geben, wie viele Stellen man für die Grundschulen angeblich bereitgestellt hat. Sie werden sagen, dass Grundschulen schließlich eine Bedarfsdeckung von deutlich über 100 % haben. Sie teilen in den Jahresauftaktpressekonferenzen immer mit, dass nur wenige Hundert Stellen angeblich nicht besetzt seien. Aber laut VBE erklären 38 % der Grundschulen, sie hätten nicht einmal die Lehrkräfte, die ihnen rein rechnerisch zustehen würden.