Armin Laschet
Sitzungen
16/13
16/18
16/24
16/32
16/48
16/49
16/52
16/56
16/59
16/62
16/65
16/66
16/69
16/70
16/75
16/78
16/83
16/86
16/87
16/90
16/91
16/93
16/95
16/97
16/99
16/100
16/102
16/104
16/106
16/108
16/111
16/114
16/115
16/119
16/120
16/121
16/125
16/130
16/131
16/133
16/136
16/137
16/138
16/141
16/142
Letzte Beiträge
Herr Präsident, wir stellen heute die gesamten Regeln der Geschäftsordnung auf den Kopf. Gerade war der Bundesfinanzminister im Landtag. Ich habe ihn verlassen, weil mir jemand sagte, dass Rainer Priggen gerade seine letzte Rede hält, und da bin ich dann herbeigeeilt. Die Kurzintervention war schon vom Parlamentarischen Geschäftsführer beantragt. Wir haben eine Übertragung auf einen anderen Redner, der sich nicht angemeldet hat, erreicht.
Herr Präsident, schön dass Sie das möglich machen; denn Rainer Priggen war auch für die Opposition ein vertrauenswürdiger, engagierter Abgeordneter, ein Kollege, mit dem man ringen konnte – hart in der Sache, über Braunkohle und vieles andere mehr –, wenn er jedoch eine Rede gehalten hat, ging man nachher raus und sagte: Doch, da war auch eine neue Idee dabei; da gab es etwas, worüber man noch einmal nachdenken sollte.
Deshalb, lieber Rainer Priggen: Es freut mich, dass sich das mit der Ministerpräsidentin am Telefon so schön anhört. Du hast viel dafür getan, dass RotGrün in diesen 17 Jahren gut funktioniert hat.
Wir haben viel dafür getan, oder: Irgendwie hat es funktioniert.
Wir wollen alles tun, damit das anders wird. Dennoch: Danke für diese Kollegialität, für deine Arbeit hier im Landtag. Du hast dem Land gut getan, du hast dem Landtag gut getan. Wir werden dich vermissen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit über drei Monaten hält uns der furchtbare Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz immer noch in Atem, und das zu Recht. Es war der größte islamistische Anschlag, den wir in Deutschland erlebt haben. Die Opfer: zwölf unschuldige Menschen, auch aus Nordrhein-Westfalen. Der Täter: ein behördenbekannter Gefährder aus Nordrhein-Westfalen.
Öffentlichkeit und Opfer verlangen zu Recht Aufklärung: Wie konnte es dazu kommen? Hätte man den Mann stoppen können? Hätte man den Anschlag verhindern können? Diese ganz normalen Fragen stellt sich jeder Mensch. Ich finde, die müsste sich auch eine Regierung stellen.
Es geht doch darum – wenn das an einem Montag in Berlin passiert und die ersten Informationen offenkundig werden –: Was ist dann die Rolle eines Regierungschefs? Sagt er nach innen und nach außen: „Ich erwarte jetzt volle Transparenz“? Will er dann sehen: Sind bei uns Dinge schiefgelaufen? Welche Fehler wurden gemacht? Wo sind Schwachstellen, die man abbauen kann?
Von Anfang an ist das Gegenteil passiert!
Am Mittwoch nach dem Anschlag gibt Herr Jäger, der Innenminister, eine Pressekonferenz. Der Täter war nicht einmal öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben. Diese Pressekonferenz und alles, was man sagt, dient nur einem einzigen Ziel, nämlich zu erklären: Der war in Berlin, der war weg, wir haben mit nichts etwas zu tun. – Das konnten Sie selbst an diesem Mittwoch noch gar nicht wissen, Herr Minister Jäger. Deshalb war das von Anfang an exakt das falsche Signal.
Was hätten Sie sich denn vergeben, wenn Sie gesagt hätten: „Es war ein schrecklicher Anschlag. Ich will jetzt sehen, was bei mir in Nordrhein-Westfalen schiefgelaufen ist. Hier bin ich verantwortlich. Ich will
Schwachstellen abbauen. Ich bin der Chefaufklärer in dieser Sache, nicht der Chefverteidiger“?
Seit Sonntag aber wissen wir – das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten, Frau Ministerpräsidentin –: Diese Strategie wurde aus der Chefetage so gesteuert. Man hat nicht gesagt „Lieber Innenminister, nächsten Dienstag ist Kabinettssitzung; ich will, dass du mir mal berichtest“, sondern wie bei der Kölner Silvesternacht ist das Prinzip der Staatskanzlei: verharmlosen, verbergen, vertuschen.
Sie haben der Öffentlichkeit – auch von diesem Pult aus – Aufklärung versprochen. Am Tag, nachdem Sie das versprochen haben, schreiben sich zwei Abteilungsleiter in der Staatskanzlei gegenseitig per Mail, das Jäger-Ministerium darum zu bitten, die Chronologie im Hinblick auf das, was außerhalb von NordrheinWestfalen falsch gelaufen ist, noch mehr zu optimieren. Es gab also quasi die Weisung an Herrn Jäger, seine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit noch weiter zu verbessern mit dem Ziel, möglichst Schuldige außerhalb von Nordrhein-Westfalen zu identifizieren.
Der MCdS, also der Chef Ihrer Staatskanzlei, fragt, ob man nicht streuen sollte, dass die von Amri aufgesuchten Moscheen überwiegend nicht salafistisch geprägt seien. – Ja, mein Gott! Jeder wusste: Dieser Mann stand mit den schlimmsten Salafisten im Land in Kontakt. Das muss man dann auch öffentlich sagen und nicht eine Gegenstrategie entwickeln.
Was muss in den Köpfen der Opfer vor sich gehen, wenn sie so etwas erleben?
Deshalb will ich heute von Ihnen wissen, liebe Frau Ministerpräsidentin: Waren es Alleingänge in der Staatskanzlei, dass man diese Vertuschungsstrategie gestartet hat? Oder reden Sie nach außen anders, als Sie nach innen öffentliche Weisungen geben? – Das ist die Kernfrage, auf die wir heute eine Antwort erwarten.
Das nächste Täuschungsmanöver betrifft nun den sogenannten unabhängigen Regierungsgutachter. Die Täuschungsmaschinerie in Ihrem Hause macht ja selbst vor Ihrem eigenen Regierungspartner nicht Halt. Oder wie erklären Sie sich, Frau Ministerpräsidentin, dass die Grünen sagen: „Dieser Gutachter kann nicht unabhängig gewesen sein; wir brauchen einen neuen Gutachter“? Einen solchen Vorgang habe ich den sieben Jahren Ihrer Amtszeit noch nicht erlebt.
Die Ministerpräsidentin beruft jemanden, und die Grünen sagen: Nein, das ist nichts. Bitte einen neuen
Gutachter. – Das ist nach sieben Jahren des Regierungsstils, den Sie hier praktiziert haben, eine Misstrauenserklärung.
Sie haben den Menschen an diesem Pult im Landtag versprochen: Der Mensch, der berufen wird, wird unabhängig sein, autark arbeiten und Zugang zu allen Akten und Dokumenten haben. – In Bezug auf diese drei Punkte wissen wir heute, dass all das, was Sie hier erklärt haben, nicht eingetreten ist:
Zum Ersten: Der Gutachter verhandelt über die Modalitäten seines Wechsels an eine nordrhein-westfälische Universität und damit in den Landesdienst. Die Frage ist: Ist das die Unabhängigkeit, die Sie meinen? Wenn Sie meinen, dass er trotzdem unabhängig ist, warum sagen Sie nicht von vornherein: „Der, den ich berufen habe, ist zwar im Moment in Verhandlungen, ich halte ihn aber trotzdem für unabhängig“? Es musste erst aufgedeckt werden, worüber er hier im Land wirklich verhandelt.
Zum Zweiten: Zentrale Dokumente lagen dem Gutachter nicht vor. Wir wissen heute, dass der PUA inzwischen mehr Dokumente hat, als sie der Gutachter hatte. Sie wollten den Zugang zu allen Dokumenten ermöglichen. Ich frage mich inzwischen, ob sich nicht auch der Gutachter getäuscht fühlen muss, weil er mit wesentlichen Dokumenten nicht konfrontiert war und in der Öffentlichkeit als jemand erscheint, der Gefälligkeitsgutachten geschrieben hat.
Zum Dritten erwähne ich das, was die Grünen hier vorsichtig „neuer Gutachter“ und die Grünen in Berlin „peinlich“ nennen. Damit ist die Regierungsverantwortung im Land NordrheinWestfalen gemeint.
Deshalb ist der PUA der richtige Ort für die Aufklärung. Ich hätte mir gewünscht, man hätte gleichermaßen im Deutschen Bundestag in Berlin einen PUA eingerichtet.
Das haben Volker Kauder und ich Anfang Januar vorgeschlagen. Aber die Sozialdemokraten in Berlin verweigern sich einem solchen Ausschuss.
Jetzt geht das ja weiter.
Ihr eigenes LKA sagt: Wir hatten belastbare Erkenntnisse, der Mann musste in Haft genommen werden. – Und was tun Sie im Ausschuss? Es heißt, das war nur eine Tischvorlage. – Eine Tischvorlage!
Mein Gott, wenn ein LKABeamter das auf einen Bierdeckel geschrieben hätte, hätte ich gesagt: Was schreibt er denn da? Dem müssen wir nachgehen. – Man kann doch nicht immer einfach alles wegwischen, was Beamte aufschreiben.
Ich schließe damit, Frau Präsidentin, dass ich sage: Die Behörden in Berlin haben Fehler eingestanden. Man kennt die Mängel im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum, man arbeitet an diesen Mängeln. Aber in Nordrhein-Westfalen gilt nur das Prinzip, wie Sie es so schön am Sonntag genannt haben, dass hier Kinkerlitzchen aufgebauscht würden. Ich sage Ihnen: Das sind keine Kinkerlitzchen. Das ist ein leibhaftiger Skandal, den Sie zu verantworten haben, Sie persönlich in diesem Land.
Also, die Ministerpräsidentin ruft mir zu: Vielleicht entschuldigt er sich jetzt einmal.
Ich möchte aber, Frau Ministerpräsidentin, noch einmal um Antwort bitten – nicht durch Verbalinjurien von Herrn Römer, sondern vielleicht durch Sie persönlich. – Herr Römer, das war unterirdisch, aber darüber brauchen wir nicht weiter zu reden.
Ich möchte die gleichen Fragen, die ich eben gestellt habe, hier noch einmal wiederholen. Da gibt es nichts zu entschuldigen. Entschuldigen müssen sich vielleicht andere in diesem Moment, die wegtun, wegdrücken und machen.
Warum hat man nicht von Anfang an bei einem solchen Anschlag gesagt, hier ist was schiefgelaufen, und jetzt klären wir das auf, jetzt suchen wir die besten Mittel der Aufklärung!?
Das war meine Frage. Die habe ich hier an drei, vier Punkten gestellt, aber von den ersten Tagen an, während noch nicht einmal öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben wurde: Warum kann ein Innenminister nicht mal 48 Stunden schweigen und den Dingen nachgehen, ehe er überall in der Welt Leute veralbert?
Das war meine Frage. Diesen Modus hat die Kollegin der Piraten doch treffend beschrieben.
Sie sind an dieser Aufklärung nicht in dem Umfang interessiert, wie es nötig wäre.
Jetzt hat Herr Lersch-Mense gerade zu dem Gutachten sehr sachlich geschildert: Die Informationen des Landeskriminalamtes und auch der Ausländerbehörde Kleve sind nicht in dem Gutachten drin! Darauf hat er doch zu Recht hingewiesen. Dann war vielleicht dieser Gutachtensweg falsch. Dann kann man das doch sagen! Die Grünen sagen das offen: Wir brauchen ein zweites Gutachten.
Er hat gesagt: Das vom LKA ist deshalb nicht drin, weil der Generalbundesanwalt das nicht freigegeben hat.
Okay! Also muss man doch sagen: Dann war der Gutachtensweg falsch, dann war der Parlamentarische Untersuchungsausschuss der richtige Weg!
Weil wir das wissen wollen!
Weil es doch relevant ist! Wir wüssten bis heute nichts von diesem LKA-Vermerk mit der Warnung „Dies ist ein gefährlicher Terrorist“, wenn es nicht den Untersuchungsausschuss …
Wären wir – Herr Schemmer, Frau Präsidentin –, wären wir Ihnen gefolgt,
wären wir der Methode ab dem Anschlag gefolgt, die die Landesregierung, die Ministerpräsidentin, der Innenminister vorgeschlagen haben, wäre es also bei diesem Gutachter geblieben, dann wüsste die Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag, Frau Ministerpräsidentin, nicht, …
Frau Ministerpräsidentin, ich weiß nicht, warum Sie so unbeherrscht dazwischenreden, wenn ein Redner hier Fragen stellt! Unglaublich!
Das ist doch nicht der Stil einer Ministerpräsidentin, wenn hier gefragt wird. Ihr Weg wäre gewesen, einen Gutachter zu benennen.
Herr Lersch-Mense schildert gerade, dass diesem Gutachter wegen eines Einspruchs des Generalbundesanwalts bestimmte Dokumente nicht vorlagen. Das sind die LKA-Akten, das sind die Akten, wonach Landesmitarbeiter sagen: Das ist ein gefährlicher Terrorist!
Also ist doch der Schluss richtig: Ihr Gutachterweg war falsch! Der PUA-Weg ist richtig; denn nur der PUA kann das aufklären, was hier im Land schiefgelaufen ist! Das müssen Sie sich anhören!
Dieser PUA: Sie wollen diese Aufklärung nicht; denn dieser PUA … – Wir haben in dieser Wahlperiode ja viele Streitigkeiten gehabt.
Wir haben fünf PUAs. Bei vier PUAs hat das ganze Haus gesagt: Wir wollen gemeinsam aufklären. – Bei diesem PUA haben Sie nicht die Hand gehoben, sondern auf diesen Gutachter gesetzt und gedacht, Sie könnten damit manches unter der Decke halten. Das ist das Ergebnis, was wir heute feststellen.
Das ist alles. Man kann diesen Herrn als Gutachter berufen; das ist ja in Ordnung. Aber dann kann man doch dazusagen: Da steht zwar, er arbeitet an der Universität Gießen, aber wir sagen dem Parlament dazu: Er hat seit über einem Jahr eine Berufung nach Bielefeld und steht im Moment noch in Verhandlungen. – Ihr Problem ist doch, dass so etwas immer später herauskommt, dass irgendjemand es aufdecken muss, weil Sie es nicht in aller Klarheit sagen!
Deshalb haben die Grünen recht. Dieses Gutachten ist nichts wert, weil es nur eine halbe Information enthält. Herr Lersch-Mense, der Gutachter hat ein paar Formulierungen gewählt wie: Wenn das so und so wäre, hätte man den Paragrafen so und so anwenden können. – Wir wissen heute, dass es so und so war. Wenn der Gutachter die Fakten des Untersuchungsausschusses gekannt hätte, wäre er zu anderen Schlüssen gekommen, wie unser Recht anzuwenden wäre. Deshalb bleibt dieser politische Streit.
Er ist auch in einem Wahlkampf nötig.
Mein Gott, sind Sie albern!
Ich wünsche mir einen Innenminister, der sagt: Beteiligt mich an diesen schwerwiegenden Dingen. Lasst uns bis an die Grenzen des Rechtsstaates gehen. – Der Generalbundesanwalt hat ja geschildert: Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich mitgemacht. – Die Richter sagen: Wenn man uns das vorgelegt hätte, hätten wir entschieden. – Ich erwarte, dass ein Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen dies tut.
Ich teile die Rücktrittsforderung nicht. Das kann man immer wieder machen. Frau Kraft glaubt ja, es ist der Beste, den sie finden kann. Wenn sie solchen Kram erzählt, habe ich manchmal den Eindruck: Das ist wie bei der Oscar-Verleihung. Sie hatte den falschen Namen im Umschlag und lobt dauernd Herrn Jäger.
Aber das ist die Entscheidung der Ministerpräsidentin. Auch wenn Sie das noch zehnmal fordern, Herr Stamp, macht sie es nicht. Sie findet, er ist der Beste. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn sie das so denkt, ist der Wähler derjenige, der entscheidet, ob Herr Jäger die nächsten fünf Jahre Innenminister dieses Landes ist.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Vorsicht, Faktencheck!“, rief ein Kollege der SPD gerade. Den wollen wir jetzt mal vornehmen. Wir sind am Ende einer siebenjährigen rot-grünen Regierungszeit, am Ende einer fünfjährigen Wahlperiode. Deshalb ist es in der Tat der Zeitpunkt, einen Faktencheck vorzunehmen: Wo steht heute das Land Nordrhein-Westfalen bei den wichtigen Themen „Sicherheit“, „Bildung“ und „Wirtschaft“?
Frau Ministerpräsidentin, dieses Wort vom „Kinkerlitzchen“, was Sie da erfunden haben, wodurch vieles, was schiefläuft, nicht mehr wahrgenommen wird, weil Sie sagen: „Das sind nur Kinkerlitzchen“, dazu sage ich Ihnen: Vieles von dem, was die Bürger aufregt, was in den Schulen schiefläuft, was auf den
Straßen und Plätzen schiefläuft, sind keine Kinkerlitzchen.
Wir müssen uns darum kümmern, dass das besser wird.
Ich habe auch keine Lust, alle paar Wochen irgendeine Zeitung aufzuschlagen und zu lesen, wir seien das Griechenland Deutschlands und ähnliches.
Wenn das irgendwo geschrieben wird, muss man sagen: Da sollen mal andere Länder stehen, aber nicht immer unser Land mit unseren Zahlen und mit unserer Bilanz!
Sie haben dann über die Frau Bundeskanzlerin gesagt, entweder hätte sie ein schlechtes Gedächtnis oder ihr lägen falsche Zahlen vor. – Das ist schon eine starke Aussage. Ich hoffe, dass wir heute mal die richtigen Zahlen hören. Mein Eindruck ist, dass die Bundeskanzlerin mit sehr präzisen Zahlen das gemessen hat, was hier in Nordrhein-Westfalen schiefläuft. Ich glaube eher, dass das Problem darin liegt, dass Sie den Menschen im Land nicht mehr zuhören,
die diese Probleme beschreiben, über die wir jetzt reden werden.
Ich fange bei der Bildung an, Herr Ott, bei ausreichender, flexibler, qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung in Nordrhein-Westfalen. Es ist nirgendwo in Deutschland so schwierig, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, wie in Nordrhein-Westfalen. Wir sind 16. von 16 bei den U3-Plätzen.
Jetzt habe ich beim DGB gelernt, als wir dort miteinander diskutiert haben: Das Argument ist jetzt nicht mehr: „Ja, wir wollen da besser werden, wir mussten viel aufholen, die schwarz-gelbe Regierung war besonders schlecht“, also alles das, was man da immer …
Ja, ja, ja. Sie wissen genau, dass wir, als ich Familienminister wurde, nach 39 Jahren Rot-Grün eine U3-Quote von 2,8 % hatten.
Wir haben das erst nach oben getrieben. Familien haben Sie doch überhaupt nicht interessiert. Aber das sei jetzt dahingestellt.
Bisher gab es dieses
Schwarze-Peter-Spiel, was die Öffentlichkeit inzwischen langweilt: Vor sieben Jahren hat mal eine andere Regierung dieses und jenes falsch gemacht, und wir sind in der Aufholjagd.
Aber das neue Argument, das ich beim Deutschen Gewerkschaftsbund gelernt habe, heißt jetzt: Es gibt den Bedarf überhaupt nicht. Gäbe es den Bedarf bei uns in Nordrhein-Westfalen, gäbe es ja eine Klagewelle. Und da niemand klagt, gibt es auch den Bedarf nicht, und insofern haben wir eigentlich eine gute Deckung an Kita-Plätzen.
Daraufhin hat mir ein Kölner Anwalt, als er das gehört hat, der sich speziell um solche Verwaltungsgerichtsverfahren kümmert, geschrieben und geschildert, er führt seit 2013 300 solcher Prozesse. Und viele Eltern, schildert er, klagen nicht, weil sie die Angst haben, danach kriegen sie überhaupt keinen Platz mehr bei diesem Jugendamt. Deshalb machen sie es nicht.
Aber ich sage Ihnen nur eines dazu: Sie waren mal vor langer Zeit die Interessenvertreter von Leuten, …
Sie waren mal vor langer, langer Zeit die Interessenvertreter von Menschen, denen es nicht so gut ging. Sie waren mal die Interessenvertreter von Menschen, die nicht jeden Tag drei Anwälte an der Hand hatten, um ihr Recht durchzusetzen.
Aber wenn eine sozialdemokratische Ministerpräsidentin sagt: „Es gibt kein Problem im Land, weil die Leute nicht klagen“, ist das eine Bankrotterklärung des Willens zu sozialer Gerechtigkeit.
Jetzt kommt das Zweite: Sie sagen, 30 Stunden frei, das kostet ca. eine Milliarde. – Sie hören aber gar nicht mehr denen zu, die im Land Probleme haben. Im Oberbergischen Kreis haben Deutsches Rotes Kreuz und AWO Kitas – da haben wir zwölf Kitas –, die in den letzten Tagen sagen: Wir halten das nicht mehr durch, wir müssen aussteigen. – Das Bistum Essen hat 100 katholische Kitas von 290, die sagen: Wenn nicht schleunigst Geld ins System kommt, dann werden wir aus der Finanzierung aussteigen. – Die Folge wird sein, dass es am Ende wieder die Kommunen übernehmen müssen.
Als wir das Kinderbildungsgesetz 2008 mit der Unterschrift von sechs Wohlfahrtsverbänden, drei kommunalen Spitzenverbänden und zwei Kirchen gemacht haben, haben wir verabredet: So ist der Personalschlüssel 2008, aber das muss überprüft werden im Jahre 2011. – Im Gesetz steht: Diese Evaluierung muss stattfinden.
Sie haben rechtswidrig, Herr Jörg, seit sechs Jahren diese Evaluierung nicht gemacht.
Sie haben den Leuten erst gesagt, Sie wollten ein neues Gesetz machen. Dann haben Sie gesagt: Das kriegen wir nicht mehr hin; jetzt machen wir Eckpunkte. – Aber Sie haben mit den Trägern, den Kirchen und den kommunalen Spitzenverbände bis zum heutigen Tag, 40 Tage vor der Wahl, nicht über diese Finanzierung gesprochen. Insofern sage ich: Das System steht vor dem Zusammenbruch.
Frau Altenkamp, Sie wissen es ganz genau, weil Sie etwas von Kitas verstehen.
Wir werden ab 14. Mai dort den ersten Schwerpunkt setzen und den Trägern, den Kirchen das Geld geben, das sie brauchen.
Nirgendwo – und das ist der Kontrast zu dem, was der charmante Kollege aus Würselen uns jeden Tag erzählt – in Deutschland hängt der soziale Aufstieg so von der Herkunft der Eltern ab wie in NordrheinWestfalen.
Ich will, dass wir wieder zu einem Aufsteigerland werden, wie wir das einmal waren, wo es den Kindern besser ging als den eigenen Eltern. Aber Ihre Politik, beispielsweise Unterrichtsausfall stillschweigend hinzunehmen,
ist der größte Angriff auf gerade diese Kinder, deren sozialen Aufstieg wir wollen.
Jetzt werden Sie sagen: Das stimmt alles nicht, geht alles nicht. – Dazu schreibt Anjo Horstmann, ein Sechstklässler aus der Realschule Dortmund-Asseln, ich glaube, an alle Kollegen im Land eine E-Mail und sagt: Das ärgert mich. Wochenlang fällt bei uns Mathe aus. – Ich hätte mich nie beklagt, dass Mathe ausfällt.
Aber dieser Junge empfindet das selbst als Problem für seine Bildungschancen. Er findet 347 Mitschüler, die einen Appell unterschreiben und sagen: Bitte, tut was gegen den Unterrichtsausfall! – Und die Landesregierung sagt: Gibt es nicht, 1,8 %,
es gibt kein echtes Problem. Das muss sich ändern. An jeder Schule muss das gemessen werden, damit man helfen kann!
Dann lädt mich – zum Thema Zuhören – die „NRZ“ auf eine Lesertour ein, rein zufällig. Sie treffen auf 90 Bürger; Sie wissen nicht, wer da ist. Das würde ich Ihnen auch einmal empfehlen, Frau Ministerpräsidentin: einfach mal auf so ein Schiff steigen, so eine Einladung annehmen, ungeplant, unkoordiniert, einfach mal nicht organisiert von der Staatskanzlei auf normale Menschen treffen. Sehr lehrreich!
Ich würde empfehlen, …
Für was denn?
Ist ja in Ordnung. Aber ich will Ihnen doch nur nahelegen, …
Frau Ministerpräsidentin,
ich würde Ihnen empfehlen, häufiger mit ganz normalen Menschen zu reden. Das ist eine ganz einfache Bitte.
Ich wollte Ihnen aber etwas ganz anderes erzählen.
Auf diesem Schiff war ein Mensch, der war Schulpflegschaftsvorsitzender einer Grundschule in Duisburg, und der schilderte mir die Situation an dieser Schule, wo die Lehrer nicht da sind, wo die Leiterstellen unbesetzt sind, wo Räumlichkeiten fehlen. Er sagt: Wir haben an die Landesregierung geschrieben, wir haben keine Antwort bekommen. – Inzwischen gibt es 78 Grundschulen in Duisburg, die sich zusammengetan haben. Und dann sagen Sie: Im Land ist alles toll, und die Bundeskanzlerin hat keine Ahnung.
Die Leute vor Ort haben Ahnung, wie es ihnen geht, und sie wollen Veränderung bei der Bildung in Nordrhein-Westfalen
700, 800 Schulen ohne Leitung.
Es ist doch nicht möglich, Menschen genau bei dieser Bildung zu unterstützen, wenn diese Minimalvoraussetzungen in Nordrhein-Westfalen fehlen.
Jetzt kommt ein Zweites. Wie Kinderarmut entsteht, hat uns die Hans-Böckler-Stiftung ja nahegelegt: weil wir zu wenig Industriearbeitsplätze und Arbeitsplätze haben.
Sozial ist, was Arbeit schafft. Da sagt der DGB: Moment mal, aber nicht prekäre Arbeit. Da sage ich: Einverstanden, stimmt. Aber jeder neue Arbeitsplatz, der geschaffen wird, holt Menschen aus Armut heraus und ermöglicht Kindern und Alleinerziehenden, mit dieser Situation zu leben.
Wenn wir nur den Durchschnitt der letzten sieben Jahre hätten, die gleiche Entwicklung wie im Bundesdurchschnitt,
dann hätten wir 90.000 Menschen weniger in Arbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen. Da müssen wir Priorität setzen, nicht Herrn Remmel immer nur neue Dinge erfinden lassen, wie man das noch behindert, sondern es muss wieder Priorität haben in den nächsten Jahren, Arbeit zu schaffen in diesem Land.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel, Firma LANXESS, alles aus dieser Woche. Sie können so eine Schlusslichtbilanz aus einer Woche bespielen, weil überall etwas schiefläuft. Die Firma LANXESS hat eine Tochterfirma Saltigo, für die seit März 2015 ein Erlass gilt: Bei jedem neuen Bauprojekt, was den Immissionsschutz betrifft – als einziges Land in ganz Deutschland, bei uns ist man auch noch stolz darauf –, muss jetzt im Internet jedes Detail dieses Bauprojekts offengelegt werden, bei jeder chemischen Anlage.
Der Vorstandsvorsitzende von LANXESS hat mir einmal die Unterlagen gezeigt.
Die kann ein normaler Mensch gar nicht verstehen. Es gibt nur zwei Leute, die die verstehen. Das eine ist der Wettbewerber in China, und der Zweite ist ein
potenzieller Attentäter oder Terrorist, der jetzt alle Details einer solchen Chemie-Anlage kennt.
Das hat mit Transparenz nichts zu tun. Das verhindert Arbeitsplätze.
Wo, glauben Sie denn, wird jemand, der investieren will, demnächst eine chemische Anlage aufbauen? Er hat 15 deutsche Bundesländer, wo es eine solche Vorschrift nicht gibt. Wir haben das hier im Land schon einmal zum Thema gemacht. Er hat in der Europäischen Union, die wir gerade so gewürdigt haben, zig Orte, wo er investieren könnte. Aber hier ist eine Landesregierung mit einem grünen Minister, der sich jeden Tag überlegt: Wie kann ich das noch komplizierter machen, dass irgendeiner hier investiert?
Die Unternehmen müssen dann zum Gericht gehen und ihr Recht …
Herr Ott, was mit LANXESS in Köln und Leverkusen passiert, sollte Sie auch interessieren, wenn Sie Ihre Region vertreten würden.
Ich sage Ihnen, Herr Ott: Ich schaue mir diesen Erlass an, und wenn er Chemie-Ansiedlungen verhindert, wird dieser Erlass nach dem 14. Mai abgeschafft. So geht man mit Wirtschaftsförderung um.
Über das Thema innere Sicherheit haben wir hier sehr häufig gesprochen. Auch da ist die Bilanz …
Sie finden wahrscheinlich auch toll, Herr Körfges, dass hier 144 mal am Tag eingebrochen wird, dass wir mehr Einbrüche haben als in Bayern, BadenWürttemberg, Niedersachsen, Hessen, Sachsen und Sachsen-Anhalt zusammen. Sie finden toll, dass Nordrhein-Westfalen, die Kölner Silvesternacht, Negativbeispiel in ganz Deutschland ist. Sie finden toll, dass die Gewerkschaft der Polizei Ihnen sagt, es gibt No-go-Areas in manchen Stadteilen, dass Polizistinnen Bücher schreiben, wie sie als Frauen behandelt werden. Das finden Sie alles toll. Wir sagen: Wir finden das nicht toll. Wir wollen das ändern. Das ist unser Ziel. – Vielen Dank.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben darauf hingewiesen, dass dieser Landtag seit 1989 über dieses Thema berät. Das mag so sein, aber er hat sich aus guten Gründen nie dazu entschieden, zu beschließen, was Sie jetzt erneut versuchen, weil es integrationsschädlich ist.
Ich habe diese Position seit zehn Jahren – auch als Minister – engagiert vertreten. Wir wollen mehr Einbürgerungen. Wir wollen den Menschen Partizipation auf Bundes-, Landes- und europäischer Ebene ermöglichen.
Das gehört zusammen. Als die Integrationsräte da waren, bin ich auf die Landtagswiese gegangen und habe genau …
Da waren Sie auch. Tun Sie nicht so, als ob. Für solche Dümmlichkeiten brauchen Sie nicht Herrn Lauscher und den WDR zu zitieren.
Diese Position vertreten wir seit Jahren, Herr Körfges. Es ist Prinzipientreue, sich auf die Wiese zu stellen und den Menschen zu erklären, es sei nur ein Scheinargument, sie ausschließlich bei Kommunalwahlen wählen zu lassen. Wir wollen echte Partizipation. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten und soll deutscher Staatsbürger werden. Das ist unsere Position. Deshalb sind Sie auf dem Holzweg.
Weiterhin ist Ihre Position verfassungswidrig. Schleswig-Holstein hat das schon einmal versucht, und das Bundesverfassungsgericht hat entschieden.
Was das Bundesverfassungsgericht sagt, interessiert Sozialdemokraten und Grüne überhaupt nicht.
In was für einer Zeit leben wir? Wir erleben im Moment, wie der türkische Staatspräsident unsere Gesellschaft spalten will, wie er es schafft – das war 1989 noch nicht so –,
innerhalb von Stunden beispielsweise in Köln und Leverkusen mit örtlichen Truppen, mit UETD und vielen anderen die Sartory-Säle zu mieten, einen Brautsaal zu mieten und in Gaggenau eine Veranstaltung aus dem Boden zu stampfen.
Diese Organisationen von Herrn Erdogan sind heute so gut örtlich vernetzt, dass ich Ihnen garantiere: Wenn das durchkommt, was Sie hier wollen, haben Sie demnächst in jedem Stadtrat in Nordrhein-Westfalen Herrn Erdogan sitzen. So ist die Realität. So ist es!
Ja, bitte.
Ich muss sagen: Bei diesem Wortbeitrag habe ich nicht ganz genau verstanden, was Sie fragen wollen. Sie haben jetzt alles, den Bundesparteitag, den Zeitpunkt und die AKP, miteinander vermischt. Nicht richtig ist mir hier der Fragecharakter deutlich geworden.
Ich kann Ihnen aber Folgendes sagen: Viele Kurden und Aleviten, die hier leben, sind mit die Ersten, die sagen: Wir wollen Deutsche werden. Wir sind froh, dass wir in diesem Land diese Rechte genießen können. – Viele, die sich aber diesem Prozess verweigern, die ganz bewusst türkische Staatsbürger bleiben wollen, und die, die Herrn Erdogan zujubeln in Oberhausen und anderswo, sind exakt diese.
Deshalb sage ich – das war ja Ihre Frage –: Das können wir gleichzeitig auch noch auf Russlanddeutsche übersetzen. Da gibt es manche Russen, die ganz bewusst russische Staatsbürger bleiben. Die Frage ist:
Wollen wir eine Gesellschaft, in der alle Bürger sind mit allen Rechten und Pflichten, oder wollen wir einer Gruppe, die eigentlich einem anderen Staatspräsidenten zujubelt, Platz in unseren Räten geben?
Da sagen wir: Nein, das wollen wir nicht. Das wollen wir nicht.
Nein, ich war noch nicht ganz fertig. Deshalb haben Sie gefragt: Ist der Zeitpunkt richtig? – Ich frage mich: Ist eigentlich Ihr Zeitpunkt richtig, nachdem die Verfassungskommission das über zwei Jahre beraten hat, in dieser Phase der deutsch-türkischen Beziehungen, in der wir diplomatisch über vieles nachdenken müssen, Herrn Erdogan zu sagen: „Hier ist die Grenze, bis hier und nicht weiter“, dass an einem solchen Tag der Landtag in Nordrhein-Westfalen allen Ernstes beschließen will, türkischen Staatsbürgern, ohne dass sie die Einbürgerung beantragt haben, hier auch noch Wahlrecht zu geben?
Was ist denn das für ein Signal an die Türkei? Sind Sie denn noch zu retten? Ich verstehe das nicht.
Ja.
Nein. Schön, dass Sie es fragen. Dann kann ich es wenigstens klarstellen.
Ich habe gesagt, allen denen, die Erdogan-Anhänger sind, die bestens organisiert sind – ich habe das an Beispielen aus unserem Land Nordrhein-Westfalen benannt –, die häufig eben nicht deutsche Staatsbürger sind, sondern die türkische Staatsbürgerschaft behalten haben und deshalb da auch wählen können, helfen Sie in dieser neuen Phase, in der wir nur eine 2,5-%-Klausel haben, was wir früher nicht hatten, und in der sie besser organisiert sind als früher. Dieser Gruppe helfen Sie in die Stadträte. Sie polarisieren die Politik in jedem einzelnen Stadtrat in Nordrhein-Westfalen.
Das war meine Antwort.
Nein, ich habe jetzt zwei Fragen beantwortet.
Wir haben das Prinzip seit Jahren durchgehalten, Sie seit 1989 Ihr Prinzip. Über die FDP haben Sie eben gesprochen. Das muss ich nicht bewerten. Wir haben schon von Beginn dieser Diskussion an das Prinzip: Rechte und Pflichten gehören zusammen. Einbürgerung ist unser Ziel. Wer nicht eingebürgert wird, kann auch nicht mitbestimmen, wer in unseren Städten den Oberbürgermeister und die Mehrheit stellt. Daran halten wir fest. Dabei bleibt es.
Vielen Dank. – Ich frage Sie, lieber Herr Kutschaty, ausdrücklich auch als Justizminister. Es gibt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu dem schleswig-holsteinischen Fall, wo man exakt das getan hat, was wir heute hier machen. Die Argumente lauten nun: Das war vor dem Maastricht-Urteil, und der Maastricht-Vertrag hat für die EU-Bürger kommunales Wahlrecht möglich gemacht, also würde das Bundesverfassungsgericht heute anders entscheiden. So ähnlich ist ja die Argumentation.
Für die EU-Unionsbürgerschaft, die man da gefasst hat, hat man das Grundgesetz geändert. Deshalb steht das heute auch so im Grundgesetz. Meine Frage ist: Wenn Sie es als Justizminister rechtlich für möglich halten, dass inzwischen auch ein Land über kommunales Wahlrecht beschließen kann, können Sie sich dann erklären, warum die Fraktionen von SPD, Grünen und Piraten hier nicht ein normales Gesetz vorgelegt haben? Das hätten Sie sogar mit Mehrheit beschließen können, und dann hätte man diesen Vorgang vor dem Bundesverfassungsgericht klären können.
Was also ist der Grund, dass man absichtlich eine Verfassungsänderung nimmt, die gegenüber dem Bundesrecht genauso wirksam ist wie ein ganz normales Gesetz?
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden in dieser Aktuellen Stunde über ein ernsthaftes Thema. Frauen und Kinder wurden im öffentlichen Raum angegriffen. Die Betroffenen haben eine mangelnde Polizeipräsenz beklagt. Gastmannschaften mussten um Polizeischutz bitten, weil sie in Nordrhein-Westfalen besonders schlechte Erfahrungen gemacht haben. Polizisten sind verletzt worden.
Unser Kollege Sieveke hat heute in der Debatte beginnend mit dem Zitieren des Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft, Herrn Plickert, eine sachliche Rede gehalten und ruhig Fragen gestellt, die Sie, Herr Minister, gerade nicht beantwortet haben. Ihre Reaktion war die Reaktion, die wir in Fragen der inneren Sicherheit leider seit Monaten erleben.
Sie haben jetzt leider noch einmal belegt, dass Ihnen eine Gabe abhandengekommen ist, die ein guter Politiker braucht: zuhören.
Den Menschen zuhören.
Ich kann Ihnen das kurz belegen.
Um 9:55 Uhr, acht Minuten vor dem Beginn dieser Debatte, schickt Herr Jäger sein Redemanuskript an die Journalisten. Darin steht das, was wir gerade hier gehört haben:
Scheinbar ist es Ihnen und Ihrer Fraktion nicht möglich, wenige Monate vor der Wahl ein Thema sachlich und differenziert zu betrachten.
Das hat diese Debatte leider erneut gezeigt.
Stattdessen verfallen Sie hier in bekannte Wahlkampfmuster: Schelte an der Polizei, Schelte an den Vereinen, Schelte am Innenministerium. Und ich sage Ihnen Herr – Klammer auf – Redner der CDU – Klammer zu …,
weil er noch nicht wusste, wer geredet hat.
Meine Damen und Herren, wenn die Frau Ministerpräsidentin jetzt hier wäre, würde ich sie um etwas bitten. Daher wende ich mich jetzt an die stellvertretende Ministerpräsidentin: Besprechen Sie bitte in der nächsten Kabinettssitzung einmal die Frage, wie man mit Wortmeldungen von Abgeordneten, mit Fragen von Mitarbeitern in der Landesregierung umgeht.
Es geht nicht an. Ich könnte das jetzt noch stundenlang vortragen. Das ganze Haus hat auch schon Redebausteine: Wenn er das und das sagt, dann kommt dieser und jener Konter.
Das Haus ist nicht mehr mit innerer Sicherheit, sondern nur mit der Verteidigung dieses Ministers befasst. Das akzeptieren wir nicht!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Anschlag in Berlin treibt die Menschen in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland weiter um. Vor zwei Monaten, am 19. Dezember 2016, kamen beim bislang folgenreichsten islamistischen Anschlag auf deutschem Boden zwölf Menschen ums Leben und 50 wurden zum Teil schwer verletzt.
Der Täter Anis Amri war kein Unbekannter. Den Behörden war er bekannt als gewaltbereit und islamistisch radikalisiert. Er hat sich dem IS als Selbstmordattentäter angeboten. Er hat einem V-Mann erzählt, er wolle im Namen Allahs töten. Er hat sich nach Schusswaffen und der Herstellung von TNT erkundigt. Er war unter 14 verschiedenen Aliasnamen hochmobil zwischen den Bundesländern unterwegs, und er hat Sozialbetrug begangen.
Nordrhein-Westfalen hat über weite Strecken und im Wesentlichen die Zuständigkeit für Amri gehabt.
Wer ruft: „Das stimmt doch nicht!“? – Herr Stotko?
Herr Stotko, da exakt fängt das Problem an. Wenn man nicht einmal weiß, wofür man als Landesregierung Verantwortung trägt, macht man auch die Fehler, die gemacht wurden.
Ich muss jetzt erst die Frage von Herrn Stotko beantworten. – Deshalb darf ich Ihnen kurz die Rechtslage erklären: Für die Beobachtung des Gefährders Amri war ausschließlich Nordrhein-Westfalen zuständig. Für die Strafverfolgung des notorischen Mehrfachtäters Amri war Nordrhein-Westfalen zuständig. Und auch für die Abschiebung des abgelehnten Asylbewerbers Amri war Nordrhein-Westfalen und niemand anders zuständig. So ist die Rechtslage!
Nein, im Moment nicht. – Das ist das eine.
Und jetzt kommt der Innenminister des Landes – das führt zum eigentlichen Problem – und erklärt den Menschen in Nordrhein-Westfalen, erklärt dem Landtag, erklärt der deutschen Öffentlichkeit: Wir sind bis an die Grenzen des Rechtsstaates gegangen.
Das macht fassungslos. Das vertritt in Deutschland juristisch niemand – weder Heribert Prantl, noch Georg Mascolo, noch der Deutsche Richterbund,
noch irgendjemand, der etwas von juristischen Sachverhalten versteht.
Die Menschen im Land – nicht zuletzt die Angehörigen der Opfer vom Breitscheidplatz – fragen sich doch, wenn das stimmt, was Herr Jäger sagt: Was ist denn das für ein Rechtsstaat? Was muss man in Deutschland denn noch tun, damit der Rechtsstaat das Recht durchsetzt und solche gefährlichen Leute aus dem Verkehr zieht?
Zwei Monate nach dem Anschlag lesen wir heute: Der Bundesjustizminister – der hat wahrscheinlich nach Ihrer Auffassung, Herr Stotko, auch keine Rechtskenntnis – erklärt gegenüber dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages, dass es elf Strafverfahren gegen Herrn Amri gab. – Das hätte ich gern mal hier im Landtag gehört, das hätte ich gern mal von unserem Innenminister gehört! Warum müssen immer Journalisten oder Bundesbehörden etwas aufdecken, was durch das Land Nordrhein-Westfalen verdeckt und uns nicht mitgeteilt wird?
Das hätten Sie uns doch auch mal sagen können! Warum machen wir drei Innenausschusssitzungen, wenn am Ende Justizminister Heiko Maas die Antworten geben muss, die dieser Minister, der eigentlich zuständig ist, der Öffentlichkeit hätte geben können?
Was ist das nun? Wir waren doch alle der Meinung, es gebe nur diesen einen Fall aus Duisburg. Wir wissen aber jetzt: Es gibt Ermittlungsverfahren gegen Amri bei Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Berlin, als da wären: unerlaubte Einreise; Freiburg: Erschleichung von Leistungen; unerlaubter Aufenthalt im Bundesgebiet und Urkundenfälschung, Diebstahl, Verstoß gegen das Asylgesetz, Verdacht des Leistungsbetrugs in Kleve, in Duisburg, in Arnsberg – lauter Staatsanwaltschaften, die ermitteln.
Und all das geschah in einer Zeit, in der Herr Amri angeblich nahezu lückenlos beobachtet wurde und in der unser Innenminister hier im Landtag sagte: Alle Behörden wussten immer alles. – Nur die eigenen Staatsanwaltschaften nicht,
die die vorhandenen Strafbefehle nicht zustellen konnten, weil sie nicht wussten, wo Herr Amri sich aufhält. Die Einzigen, die wussten, wo Herr Amri sich aufhält, waren Herr Jäger, das Innenministerium und die Landesbehörden;
sie wussten immer alles. Aber die Staatsanwaltschaften im Land, die die Strafbefehle hätten zustellen müssen, wussten nicht immer alles.
Deshalb muss das Handeln der nordrhein-westfälischen Behörden im Fall Amri aufgeklärt werden. Begangene Fehler oder folgenreiche Unterlassungen müssen offen und deutlich benannt werden. Auch die Behauptung, man sei bis an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen, kann man, wenn alle Dokumente auf dem Tisch liegen, besser beurteilen als heute.
Unsere Aufgabe ist es, das Vertrauen in den Rechtsstaat wiederherzustellen, das Sie durch Ihre Öffentlichkeitsarbeit in den letzten Wochen zerstört haben.
Unser und mein Versprechen an die Opferfamilien und die Öffentlichkeit gilt: Wenn Nordrhein-Westfalen schon nicht alles getan hat, um Amri von seiner Tat abzuhalten, ihn aufzuhalten, in Haft zu setzen, dann wollen wir wenigstens dafür sorgen, dass bei der Aufklärung nichts unterlassen wird und alles offen auf den Tisch kommt, was erforderlich ist.
Wir haben einen wochenlangen Abwägungsprozess durchgeführt. Wir haben in der Debatte hier vor einem Monat bereits über die Frage gesprochen. Folgende Argumente haben uns dazu gebracht, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen:
Erstens. In den letzten Wochen ist der Eindruck gewachsen, dass im Fall Amri von der Landesregierung aus eigenem Antrieb keine Transparenz mehr erwartet werden kann.
Wir können nicht darauf warten, dass uns Heiko Maas oder andere zufällig helfen. Sie von der Landesregierung haben die Transparenz nicht hergestellt. Es gab im Landtag drei Innenausschusssitzungen und eine Plenardebatte, und Sie haben auf viele Fragen nicht geantwortet.
Herr Hübner, wenn Sie mal vertraulich mit Herrn Jäger reden, sagen Sie ihm doch mal: Es wäre klug gewesen, wenn nicht Heiko Maas, sondern du das der Öffentlichkeit gesagt hättest. – Warum stellt dieser Minister nie aus eigenem Willen Transparenz her, sondern immer nur, wenn etwas von anderen – von den Recherchediensten von „NDR“, „WDR“, der „Süddeutschen Zeitung“ – aufgedeckt wird? Warum?
Zweitens. Der Innenausschuss ist an seine Grenzen gestoßen, weil er den Minister nicht unmittelbar befragen kann. Der Minister weist das ab, und dann antwortet dieser und jener.
Aber dass der Minister als Zeuge Antworten gibt – auf Frage um Frage –, das ist im Innenausschuss nicht möglich.
Drittens: Beweissicherung. Wir haben bei dem Fall „Kölner Silvesternacht“ erlebt, dass plötzlich Akten gelöscht wurden, weil ein Beweisantrag nicht schnell genug gestellt wurde und Behörden einfach sagen: Nach drei Monaten wird gelöscht.
Und zufällig fängt plötzlich jemand an zu löschen: bis zum Datum 4. Januar.
Deshalb ist es erforderlich, jetzt alle Akten zu sichern, damit für jeden, der löschen will, klar ist: Das Parlament hat heute einen Beschluss gefasst. – Schnell müssen Beweissicherungsanträge folgen, damit nicht erneut, wie bei der Kölner Silvesternacht, getrickst und gelöscht wird. Das muss verhindert werden.
Viertens. Nordrhein-Westfalen ist der wichtigste Ausschnitt im Gesamtbild der Beurteilung des Vorgangs. Hier lag die Zuständigkeit für den Gefährder, für den ausreisepflichtigen, notorisch straffälligen Asylbewerber und für die polizeiliche Gefahrenabwehr.
Jetzt meinen manche – Herr Hübner hat das gerade intoniert –: Das ist ja Wahlkampf. – Ich habe das hier schon mal gesagt: Dieser Landtag hat einmal – das sage ich auch selbstkritisch an uns – die größte Katastrophe in der Landesgeschichte nicht aufgeklärt – die Loveparade –, weil zufällig ein Wahldatum dazwischen lag: Die alte Regierung hat es vorbereitet, und die neue Regierung war gerade erst im Amt. Ich will mir nicht ein zweites Mal den Vorwurf machen lassen, dass ein Wahldatum die Aufklärung verhindert hätte.
Deshalb muss jetzt der Beschluss kommen. Dieses Mal machen wir es nicht wie beim letzten Mal.
Jetzt können wir es so machen, dass alles konfrontativ geht, oder wir machen es zusammen mit der Kooperationsbereitschaft der Landesregierung.
Wir haben Sie vor zwei Wochen eingeladen, unserem Antrag beizutreten. Wir haben Ihnen unseren Beschlussentwurf geschickt. Erst am vergangenen Montagabend haben wir 40 Änderungswünsche in Bezug auf unseren Antrag bekommen. Die haben wir in ganz kurzer Zeit – von Montagabend bis zu unserer Fraktionssitzung – intensiv geprüft. Die Piraten und die FDP haben desgleichen getan. Wir haben 23 dieser Anregungen komplett übernommen und vier in geänderter Fassung. Das ist zwei Drittel dessen, was Sie uns vorgeschlagen haben.
Nein, ich mache das jetzt schnell zu Ende. – Ja, oder? Ja, bitte, machen wir eine Zwischenfrage.
Herr Körfges!
Das habe ich doch gesagt. Also, ich verstehe jetzt …
Ja, ich weiß es doch! Ich habe es doch gesagt!
Also, ehe sich …
Darf ich jetzt die Frage von Herrn Körfges beantworten? – Frau Kraft hat mir – das ist wahrscheinlich der Grund Ihrer Frage – gerade zugerufen: Sie wollten den doch nicht! – Mit „Sie“ meint sie uns, die CDU. Die Antwort ist: Ja. Ich habe gesagt: Das war
eine Phase, in der eine alte Regierung vor der Landtagswahl die Loveparade vorbereitet hatte. Die CDU/FDP-Regierung war – um es konkret zu sagen – in der Vorbereitung für die Loveparade im Amt. Dann fand die Loveparade statt.
Ja, das habe ich doch eben dargestellt. – Frau Kraft, hören Sie doch mal …
Wenn Frau Kraft und Sie jetzt mal aufhören, dazwischenzubrüllen, kann ich auch die Frage beantworten! Mein Gott noch mal! Das ist doch nicht so schwer!
Haben Sie doch einfach einmal die Geduld, sich einen einzigen Satz zu Ende anzuhören. Ich fange ihn gerne noch einmal an: Eine alte Regierung aus CDU und FDP hat dieses Großereignis in Regierungsverantwortung vorbereitet. Dann passierte die Katastrophe – zehn Tage, nachdem eine neue Regierung im Amt war. Insofern kann man das der neuen Regierung auch gar nicht vorwerfen. Weil aber der Wahltag dazwischen lag – das ist ja mein Argument – haben weder die SPD noch die CDU noch irgendein anderer einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gestellt.
Und mein Argument – eigentlich ist das intellektuell gar nicht so schwer zu verstehen – ist:
Die Zufälligkeit eines Wahldatums – wer auch immer dafür verantwortlich ist – hat dazu geführt – ich sage das selbstkritisch für uns, weil wir dann Opposition waren –, dass man diesen Vorgang nicht restlos aufgeklärt hat. Und das darf jetzt nicht wieder passieren. Das ist das Argument – ein ganz einfaches Argument.