Protokoll der Sitzung vom 20.02.2014

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich heiße Sie alle ganz herzlich willkommen zu unserer heutigen, 52. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich insgesamt zehn Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden wir in das Protokoll aufnehmen.

Vor Eintritt in die Tagesordnung will ich Sie darüber unterrichten, dass wir, wie bereits gestern mitgeteilt, die heutige Tagesordnung ändern werden. Die Landesregierung hat bekanntlich für heute als Tagesordnungspunkt 1 eine Unterrichtung angemeldet, die in Übereinkunft mit den Fraktionen mit der ursprünglich als Tagesordnungspunkt 1 vorgesehenen Aktuellen Stunde verbunden wurde. Die Rednerreihenfolge und die jeweiligen Redezeiten ergeben sich aus der aktuellen Tagesordnung.

Zweitens. Auf Wunsch der antragstellenden Fraktionen von CDU und FDP haben die Fraktionen übereinstimmend das Beratungsverfahren in Tagesordnungspunkt 6 und Tagesordnungspunkt 7 geändert. Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, eine Aussprache heute nicht durchzuführen. Aussprache und Abstimmung sollen nach Vorlage der Beschlussempfehlung erfolgen. – Ich sehe hiergegen keinen Widerspruch. Dann verfahren wir entsprechend.

(Unruhe)

Ich würde mich sehr freuen, wenn der Geräuschpegel jetzt mit Eintritt in die Tagesordnung sinken würde. – Ich rufe jetzt nämlich auf:

1 Verhandlungen mit den kommunalen Spitzen

verbänden über einen Ausgleich möglicher finanzieller Auswirkungen einer zunehmenden schulischen Inklusion im Zuge der Umsetzung des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes

Unterrichtung durch die Landesregierung

In Verbindung mit:

Landesregierung verursacht Chaos beim Inklusionsprozess – Kinder, Schulen und Kommunen werden im Stich gelassen – Qualität und Finanzierung sind bis heute ungesichert

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der FDP Drucksache 16/5083

Der Chef der Staatskanzlei hat mit Schreiben vom 18. Februar dieses Jahres mitgeteilt, dass die Landesregierung beabsichtigt, zu dem zuerst genannten Thema zu unterrichten.

In Verbindung damit behandeln wir die Aktuelle Stunde, die die Fraktion der FDP mit Schreiben vom 17. Februar dieses Jahres gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik beantragt hat.

Die Unterrichtung durch die Landesregierung erfolgt durch Frau Ministerin Löhrmann, der ich jetzt das Wort erteile.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Landtag hat das Ministerium für Schule und Weiterbildung im Oktober 2013 durch Art. 4 § 3 Abs. 1 des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes dazu verpflichtet, im Rahmen einer gesonderten Untersuchung unter Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände zu ermitteln, ob und welche finanziellen Auswirkungen für die Kommunen im Zusammenhang mit den Veränderungen des regionalen Schulangebots durch dieses Gesetz entstehen.

Diese Regelung war das Ergebnis einer Verständigung zwischen dem Land und den kommunalen Spitzenverbände, die letztlich dem gemeinsamen Willen entspringt, die UN-Behindertenrechtskonvention zum Wohle der betroffenen Kinder und Jugendlichen schrittweise und so gut wie möglich umzusetzen.

Angesichts der näher rückenden Umsetzungsphase hatten sich die Beteiligten mit dem 31.01.2014 einen sehr anspruchsvollen zeitlichen Rahmen gesteckt. Über Verlauf und Stand der Gespräche möchte ich Sie heute informieren.

Unverzüglich nach der Verabschiedung des Gesetzes noch im November vergangenen Jahres haben wir einen entsprechenden Arbeitsprozess mit allen Beteiligten begonnen. Im Vorfeld hatten sich die Vertreterinnen und Vertreter des Landes und der kommunalen Seite über die Grundlagen für die Gespräche, die Gründung einer Arbeitsgruppe und deren Arbeitsweise verständigt. Diese Gruppe hat auf Arbeitsebene insgesamt sieben Mal unter Vorsitz von Herrn Staatssekretär Hecke getagt, erstmals am 19.11. letzten Jahres, letztmalig am 04.02. dieses Jahres.

Gegen Ende der Erarbeitungsphase haben wir auch mehrere flankierende und begleitende Gespräche auf politischer Ebene mit den Hauptgeschäftsführern, aber auch den Vorständen der kommunalen Spitzenverbände geführt. Nach meinem Eindruck waren diese Gesprächsrunden durchweg sachbezogen und konstruktiv. Hierfür bin ich ausgesprochen dankbar, vor allem auch den Fraktionsvorsit

zenden der Regierungsfraktionen, die sich engagiert in die Gespräche eingebracht haben.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, zur Abschätzung der auf Schulträgerseite möglicherweise entstehenden Kosten hat mein Ministerium von der in der Gesetzesbegründung beschriebenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, einen Gutachter zu beauftragen. Im Einvernehmen mit den kommunalen Spitzenverbänden hat die Landesregierung daraufhin Herrn Prof. Klemm mit der Aufgabe betraut. Er war im Übrigen auch einer der von den kommunalen Spitzenverbänden vorgeschlagenen Experten.

Ziel des Gutachtens war es, eine bildungsökonomische Bewertung vorzunehmen. Herr Prof. Klemm war ausdrücklich nicht damit beauftragt, Aussagen zur rechtlichen Einordnung des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes im Hinblick auf das Konnexitätsprinzip zu treffen. Beide Seiten – Land und Kommunen – hatten sich nämlich darauf verständigt, in Kenntnis ihres Dissenses zur Konnexitätsfrage zunächst die Chance einer einvernehmlichen Lösung im Vorfeld einer rein juristischen Bewertung zu ergreifen. Diese gemeinsame Zielsetzung schloss dabei im weiteren Verlauf die Möglichkeit der formellen Anerkennung oder Teilanerkennung der Konnexität durch das Land nicht aus.

Als zu untersuchende Gebietskörperschaften haben die Beteiligten die Stadt Krefeld und den Kreis Minden-Lübbecke ausgewählt. In der Arbeitsgruppe herrschte Einvernehmen darüber, dass diese Kommunen zwar nicht im wissenschaftsstatistischen Sinne repräsentativ für das ganze Land sind. Mit der bewussten Auswahl eines kreisangehörigen und eines kreisfreien Raumes sollte gleichwohl die Grundlage für eine Abschätzung der Gesamtkosten auf Landesebene geschaffen werden.

Neben der Auswahl der Bezugskommunen stand die Auswahl der relevanten Kostenblöcke im Mittelpunkt. Ohne Präjudizierung der Konnexitätsfrage wurden auf ausdrücklichen Wunsch der kommunalen Spitzenverbände auch mögliche Personalmehrkosten für nicht lehrendes Personal – zum Beispiel Schulpsychologen – in die Aufwendungen für sozialrechtliche Ansprüche auf Integrationshelfer untersucht. Damit war – ich stelle dies ausdrücklich klar – für beide Seiten keine Vorentscheidung über die unterschiedlichen Auffassungen zur rechtlichen Relevanz dieser Kostenblöcke verbunden. Ich habe ja gestern im Rahmen der Fragestunde ausführlich über die aktuelle Rechtsprechung in dieser Frage berichtet.

Meine Damen und Herren, Herr Prof. Klemm hat in nur wenigen Wochen und dennoch mit großer Sorgfalt in den ausgewählten Kommunen die in den kommenden drei Schuljahren zu erwartenden Kostenentwicklungen in den Blick genommen, und zwar aufgeteilt in zwei Kostenblöcke. Kostenblock I um

fasst Mehraufwendungen der Schulträger durch zusätzlichen Raumbedarf, Herstellung von Barrierefreiheit, Schülerbeförderung und Bereitstellung zusätzlicher Lehrmittel – also klassische Schulträgeraufgaben.

Kostenblock II umfasst Ausgaben für Integrationshilfe, Schulsozialarbeit, Schulpsychologie und Ganztag.

Für den Kostenblock I hat der Gutachter auf der Basis der aus beiden Kommunen eigenverantwortlich zugelieferten Daten für das ganze Land und die kommenden drei Jahre Kosten in Höhe von 76 Millionen € und für den Kostenblock II Kosten in Höhe von 37,5 Millionen € ermittelt – wie gesagt, diese Zahlen immer für drei Jahre.

Prof. Klemm weist ausdrücklich darauf, dass, bedingt durch die Setzung dieses Zeitraums die zu erwartenden Entlastungseffekte insbesondere durch das Auslaufen von Förderschulen noch nicht sichtbar werden. Eine abschließende verlässliche Bewertung ob das 9. Schulrechtsänderungsgesetz dauerhaft Mehrkosten bei den Kommunen als Schulträger verursacht, ist daher zum jetzigen Zeitpunkt im Grunde noch nicht möglich. Darum gibt es längere Evaluationszeiträume.

Im Übrigen leiten sich die gewonnenen Ergebnisse nicht in allen Punkten aus dem Gesetzestext ab und beruhen zum Teil auch auf vom Gutachter selbst gesetzten fachlichen Annahmen. Diese Annahmen werden nicht in jedem Einzelfall vonseiten der kommunalen Spitzenverbände vorbehaltlos akzeptiert, etwa das Konzept der Schwerpunktschulen.

Darüber hinaus war Prof. Klemm in einigen Bereichen – sei es aus Zeitgründen, sei es aufgrund unzureichender Datenlage – gezwungen, Schätzungen vorzunehmen. Das sagt er aber immer selbst. Hieraus leiten sich unvermeidlich gewisse Ungenauigkeiten her. Dennoch waren die kommunalen Spitzenverbänden im Sinne eines konstruktiven Beratungsprozesses bereit, die erstellten Prognosen mangels Alternativen als Orientierung für die angestrebte Einigung zu akzeptieren.

Um den nachvollziehbaren Belangen beider Seiten Rechnung zu tragen, war und ist die Landesseite zu folgendem Angebot bereit, das sich an den Zahlen des Klemm-Gutachtens orientiert und juristische Positionen teilweise zurückstellt – Sie mögen an diesem Angebot die Einigungsbereitschaft des Landes erkennen –:

Erstens. Die Kommunen erhalten ab dem Schuljahr 2014/2015 eine pauschalierte Zuwendung in Höhe von 25 Millionen € jährlich für investive Maßnahmen zur Förderung der Inklusion. Deren Verteilung erfolgt auf der Grundlage des jeweiligen Anteils an den Schülerzahlen an allgemeinen Schulen. Um Planungssicherheit zu gewähren, bindet sich das Land sogar nicht nur für drei, sondern für fünf Jahre.

Zweitens. Der Forderung nach Anerkennung der Konnexität beim Kostenblock II kann das Land nicht entsprechen. Dies gilt insbesondere für etwaige bundesrechtlich begründete Individualansprüche

gegen die kommunalen Träger der Sozial- und Jugendhilfe.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Gleichwohl erklärt sich das Land bereit, in multiprofessionelle Teams als zusätzliche Unterstützung zu investieren und ab dem Haushaltsjahr 2015 jährlich 10 Millionen € als freiwillige Leistung pauschaliert bereitzustellen. Wie sinnvoll solche multiprofessionellen Teams sind, haben zumindest die Mitglieder des Schulausschusses in der letzten Sitzung durch den Beitrag von Prof. Huber anschaulich bestätigt bekommen. Das ist wichtig für die systemische Unterstützung. Das wollen wir, das würden wir bereitstellen: 50 Millionen € obendrauf.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Drittens. Die kommunalen Spitzenverbände haben in den Verhandlungen deutlich gemacht, dass ihre Mitglieder eine rechtliche Absicherung zugesagter Leistungen des Landes erwarten. Die Wunden der Regierung Rüttgers/Pinkwart scheinen wirklich sehr tief zu sein.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zu- rufe von der CDU und der FDP: Oh!)

Anders kann ich mir das Misstrauen der kommunalen Spitzenverbände gegenüber dieser Landesregierung nicht erklären,

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – La- chen und lebhafter Widerspruch von der CDU und der FDP)

die etliche Maßnahmen der Rüttgers-Regierung zurückgenommen hat

(Lebhafter Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Weitere Zurufe von der CDU und der FDP)

und die mit dem kommunalen Stärkungspakt von 4,6 Milliarden € reine Landesmittel ihren Beitrag dazu leistet, dass die Kommunen aus ihrer Verschuldungsfalle herauskommen. Diese Landesregierung hat gehalten, was sie gegenüber den Kommunen versprochen hat.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zu- rufe von der CDU)

Trotzdem haben wir dieses Anliegen akzeptiert und ernst genommen. Wir haben daher angeboten, dem Landtag noch vor Inkrafttreten des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes – das ist ja erst der 1. August 2014 – entsprechende Gesetzentwürfe zuzuleiten, um all diese Maßnahmen, die 125 Millionen € und die 50 Millionen €, rechtlich leistungsmäßig abzusichern. Uns hätte interessiert, ob Sie dem dann zustimmen oder was Sie bieten würden.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Zur Erinnerung, meine Damen und Herren: Die Klagefrist für die Kommunen beträgt ein Jahr ab dem Zeitpunkt 1. August 2014, das heißt ein Jahr zusätzlich, anderthalb Jahre insgesamt. Die Kommunen haben also keinerlei Zeitnot, sich jetzt unbedingt entscheiden zu müssen, ob sie klagen oder nicht. Sie können die Entwicklung durchaus abwarten. Das möchte ich für die gesamte Öffentlichkeit noch einmal ausdrücklich deutlich machen.