Protokoll der Sitzung vom 02.09.2015

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie ganz herzlich willkommen zu unserer heutigen, der 90. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich fünf Abgeordnete entschuldigt. Ihre Namen werden, wie immer, in das Protokoll aufgenommen.

Wir dürfen auch heute gleich drei Kolleginnen und Kollegen zum Geburtstag gratulieren, und zwar von der Fraktion der CDU Frau Kirstin Korte und Herrn Thorsten Schick und von der Fraktion der SPD Herrn Christian Dahm.

(Beifall von allen Fraktionen)

Allen drei Kolleginnen und Kollegen herzliche Glückwünsche des Hohen Hauses. Wir wünschen Ihnen – auch wenn der Plenartag vielleicht lange dauert – einen angenehmen Geburtstag in unserer Mitte.

Wir treten nunmehr in die Beratung der Tagesordnung ein, und ich rufe auf:

1 Aktuelle Situation der Flüchtlingspolitik

Unterrichtung durch die Landesregierung

Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/9652

In Verbindung mit:

Mehr Pragmatismus in der Flüchtlingspolitik – Bearbeitungsstau beenden, Verfahren beschleunigen, Einwanderung vom WestBalkan steuern

Antrag der Fraktion der FDP Drucksache 16/9512

Und:

Kosovo, Albanien und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten gemäß § 29a Asylverfahrensgesetz einstufen

Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 16/9514

Entschließungsantrag der Fraktion der PIRATEN Drucksache 16/9653

Und:

Konzept statt Krisenmodus – Die Landesregierung muss ihrer Verantwortung in der Flüchtlingspolitik gerecht werden!

Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 16/9583

Sowie:

Aus der Vergangenheit lernen: NordrheinWestfalen muss sich der politischen Verantwortung als Aufnahmeland stellen!

Antrag der Fraktion der PIRATEN Drucksache 16/9588 – Neudruck

Der Chef der Staatskanzlei hat mir mit Schreiben vom 14. August 2015 mitgeteilt, dass die Landesregierung beabsichtigt, den Landtag in der heutigen Plenarsitzung zu dem Thema „Aktuelle Situation der Flüchtlingspolitik“ zu unterrichten. Die Unterrichtung wird durch die Ministerpräsidentin erfolgen.

Wir kommen nunmehr zur Unterrichtung, und ich erteile Frau Ministerpräsidentin Hannelore Kraft das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Jeden Tag erreichen uns derzeit schreckliche Bilder: von Flüchtlingen, die in Lkws zusammengepfercht wurden und qualvoll erstickt sind, von Menschen, die auf Schiffen unterwegs sind, die den Begriff „Schiff“ eigentlich gar nicht führen dürfen, von völlig erschöpften und hungrigen Kindern, Frauen und Männern, verzweifelten Familien mit ihren Großeltern auf Bahnsteigen, in überfüllten Zügen, von Menschen am Ende ihrer Kräfte, denen der Weg durch Stacheldraht und Polizeiketten verwehrt wird.

Wir erleben in Europa zurzeit die größte Flüchtlingsbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Millionen Menschen, vor allem aus den Krisenregionen des Nahen und Mittleren Ostens, aus Afghanistan, aus afrikanischen Unruhegebieten südlich der Sahara sind auf der Flucht vor Vertreibung, Krieg, politischer Verfolgung.

Aber auch viele aus dem Westbalkan machen sich auf den Weg hierher, weil sie in ihrer Heimat keine Perspektive mehr sehen. Wie groß muss die Verzweiflung der Menschen sein, dass sie unter solchen Umständen ihre Heimat verlassen und sich für ihre Familien in solche Situationen begeben, solche existenziellen Gefahren in Kauf nehmen?

Meine Damen und Herren, wir sind sehr dankbar dafür, dass in Nordrhein-Westfalen so viele Menschen helfen, dass es viele gibt, die nicht abgestumpft und gleichgültig sind, sondern anpacken. Ich bin stolz auf unser Nordrhein-Westfalen und auf die ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft, die es in unserem Land gibt.

(Beifall von allen Fraktionen)

Bei meinen Besuchen in Flüchtlingsunterkünften, Notunterkünften, bei Gesprächen mit haupt- und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern gab es viele zutiefst berührende Begegnungen.

Eine Frau, die ich fragte: „Warum sind Sie hier, warum helfen Sie mit?“, sagte: Es gab einen Aufruf, Bettwäsche zu spenden. Ich bin hierhergekommen, und hier ging organisatorisch alles drunter und drüber. Da habe ich mit angepackt. – Seitdem ist sie seit vielen Wochen im Einsatz, jeden Tag und immer wieder, bis an die Grenzen ihrer physischen Kräfte.

Ein Mann hat wie selbstverständlich seinen Urlaub abgesagt, weil er sagt: Ich werde doch hier gebraucht. Ich kann doch jetzt nicht in Urlaub fahren.

Eine Studentin kam gerade aus dem Freiwilligen Sozialen Jahr aus dem Ausland zurück, ist sofort, übergangslos in die Notunterkunft gegangen und hat mit angepackt. Sie fragte: Wer hilft denn hier weiter, wenn ich zurück ins Studium gehe?

Einen ehemaligen Lehrer hat man in dieser Situation gefragt: Kannst du nicht mit Deutsch unterrichten? Wir brauchen hier dringend Unterstützung. Wir müssen doch dafür sorgen, dass diejenigen, die bei uns untergebracht sind, sich auch mit dem beschäftigen können, womit sie sich beschäftigen wollen, nämlich die Sprache zu lernen. Sie wollen die Sprache lernen, weil sie wissen: Das ist der Schlüssel für ein gutes Leben hier. Dieser Lehrer stellte dann schnell fest, dass es bei einigen mit dem Sprachelernen nicht so ging, wie er sich das vorgestellt hatte, weil die Kenntnisse des Alphabets fehlten. Er hat sich dann selbst auf die Socken gemacht und Schülerinnen und Schüler gefunden – 14, 15, 16 Jahre alt –, die jetzt bei der Alphabetisierung der Flüchtlinge helfen.

Eine Lehrerin, die ich in einer Flüchtlingsklasse am Berufskolleg traf, hat mit leuchtenden Augen von ihren Schülerinnen und Schülern berichtet und gesagt: Zum Ende meiner Schullaufbahn habe ich jetzt noch einmal Schülerinnen und Schüler, die dermaßen motiviert sind. Es ist so fantastisch, das zu erleben. – Dabei leuchteten ihre Augen. Sie weiß, in diesem Fall ist sie nicht nur Lehrerin, sondern sie ist Kummerkasten. Sie ist diejenige, die die jungen Menschen auch bei Besuchen von Ämtern begleitet.

Das alles sind Menschen, die in unserem Land mit anpacken, und dafür sage ich heute stellvertretend an alle: Danke!

(Beifall von allen Fraktionen und der Regie- rungsbank)

Manchmal geht es ganz unproblematisch. Viele fragen: Wie kann ich denn helfen? – Meine Antwort ist immer: Gehen Sie hin. Gehen Sie in die Flüchtlingsunterkunft, sagen Sie: Hier bin ich. Was kann ich tun? – Es wird immer etwas zu tun geben.

Auf Facebook meldete sich ein Bürger: Falls ihr zum Wochenende Dolmetscher braucht, könnte ich mich für Kurdisch und eventuell für Arabisch zur Verfügung stellen. – Fußballvereine, Bundesligavereine laden Flüchtlinge zu Spielen ein. In vielen Kommunen sind Bürgerinnen und Bürger aktiv. Bei mir zu Hause in Mülheim sind es mit „Willkommen in Mülheim“ inzwischen über 50 Bürgerinnen und Bürger, die sich selbst über das Netz koordinieren.

Ich denke an die Frau im Paderborner Land, die eine unbegleitete Minderjährige bei sich zu Hause aufgenommen hat. Ich denke an den Gastwirt, der das tut, was er kann: Er hat eine riesige Paella für 40 Flüchtlinge auf den Tisch gestellt. Ich denke an die Anwältin, die dabei hilft, mit Formularen zurechtzukommen.

Ich denke an meinen Besuch in Iserlohn von Mitte August, bei dem mehr als 100 Bürgerinnen und Bürger mit Schildern „Ein Herz für Flüchtlinge“ vor mir standen. Sie kämpfen darum, dass sie „ihre“ Flüchtlinge, die dort jetzt untergebracht sind, behalten können.

All das sind Menschen, auf die wir in unserem Land stolz sein können.

(Beifall von allen Fraktionen und der Regie- rungsbank)

Ja, wir alle sind den Abertausenden dankbar, die sich hauptamtlich oder ehrenamtlich für Flüchtlinge einsetzen. In jeder Stadt, in jeder Gemeinde unseres Landes gibt es diesen vorbildlichen Einsatz. Danke für so viel Herz und für die Nächstenliebe. Wie gesagt: Diejenigen, die noch nicht wissen, wie sie es anpacken können, wenn sie helfen wollen, sollten sich schlicht und einfach vor Ort melden.

Anlässlich dieser Debatte äußere ich einen Wunsch an die Kolleginnen und Kollegen von den Medien: Ich wünsche mir manchmal weniger Fragen nach dem Zeitpunkt, wann es denn kippen könnte. Ich wünsche mir mehr Berichte über die leuchtenden Augen der Helferinnen und Helfer, über die Einzelschicksale. Ich glaube, auch das würde dazu beitragen, dass die Stimmung nicht kippt.

(Beifall von allen Fraktionen und der Regie- rungsbank)

Auch den Unternehmen können wir dankbar sein, die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter freistellen

und auch selbst konkret helfen. Ich war in dieser Woche bei Evonik. Dort wird eigens eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um konkret Hilfen für Flüchtlinge zu organisieren. Das ist vorbildlich, und das zeigt, was wir schaffen können.

Eine tolle Idee, die uns begegnet ist, ist der Bildungsbus, den das Innovationszentrum Fennel auf die Reise schickt – direkt in die Unterkünfte, um schnell zu ermitteln, über welche Qualifikationen die Menschen dort verfügen, damit sie zügig eine berufliche Perspektive erhalten.

Ich bin den hauptamtlichen Beschäftigten in den Kommunen, in den Schulen, in den Hilfsorganisationen, bei der Polizei, den Feuerwehren, bei den Kirchen, den Landkreisen und nicht zuletzt auch bei den Bezirksregierungen sowie bei vielen anderen Arbeitgebern dankbar. Ihr Einsatz geht weit über das hinaus, was das Übliche ist – sehr oft weit über die eigenen physischen Grenzen.

Sie schaffen immer wieder das scheinbar Unmögliche: Sie sorgen dafür, dass Tag für Tag Tausende Menschen, die neu zu uns kommen, ein Dach über dem Kopf haben, mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden und oft bereits die ersten Schritte der Integration gehen können.