Protokoll der Sitzung vom 06.04.2017

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was wir anlässlich der Einbringung und in vielen Beratungen im Rahmen der Verfassungskommission zu dem Thema gesagt haben. Ich möchte an einen Grundgedanken anschließen, an eine Handlungsmaxime, die im Oktober 1969 durch Willy Brandt für die Sozialdemokratie formuliert worden ist. Er hat bei seiner ersten Regierungserklärung gesagt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ – Gemessen an dem Anspruch, der damals artikuliert worden ist und sich auf die Überwindung verkrusteter Strukturen bezog, ist das, was wir, die antragstellenden Fraktionen, heute zur Abstimmung stellen, ein ganz geringes Wagnis.

(Beifall von den PIRATEN)

Es ist überhaupt kein Wagnis, wenn man Vertrauen in die Urteilsfähigkeit von 300.000 jungen Menschen hat. Wenn man Vertrauen in unsere Demokratie hat, geht man überhaupt kein Wagnis ein, dann ist keinerlei Skepsis geboten, dann muss man eigentlich auch zur Stärkung unserer eigenen Legitimation den Weg dafür freimachen, dass demnächst junge Menschen ab dem 16. Lebensjahr bei uns an Landtagswahlen teilnehmen dürfen.

(Beifall von den PIRATEN)

Eine weitere Tatsache möchte ich in den Fokus rücken. Es geht nicht darum, dass wir hier und heute aktiv beschließen, das Wahlalter tatsächlich abzusenken. Uns geht es lediglich darum – das hat auch mit dem Ablauf der Wahlperiode zu tun –, den Weg

zu ebnen, diese verfassungsrechtlich vorgesehene Sperre zu beseitigen, sodass der Gesetzgeber ein Wahlrecht für junge Menschen ermöglichen kann. Das war der Kompromiss, auf den sich die Verfassungskommission hätte einigen können. Das ist mit nicht mehr und nicht weniger verbunden, als damit, eine absolut überflüssige Hürde in unserer Landesverfassung zu beseitigen.

Für alle, die sich ansonsten gern rechtliche Zweifel und rechtliche Skepsis zu eigen machen, kann ich absolute Entwarnung geben. Wir dürfen Ihnen versichern – darüber haben wir Hunderte Statements und Dutzende gutachterliche Stellungnahmen –, es ist nicht nur mit der Verfassung, mit unserer Rechtsordnung, vereinbar; es wird sogar von Leuten, die sich über unsere Demokratie Gedanken machen, ausdrücklich befürwortet. Ein Wahlrecht für junge Menschen ab 16 Jahren ist ein Plus für unsere Demokratie in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Es gibt immer wieder Schutzbehauptungen nach dem Motto: Die jungen Menschen sind noch nicht reif dafür. – Dazu können Sie jede Entwicklungspsychologin und jeden Entwicklungspsychologen befragen und bekommen ganz eindeutige Antworten. – Oder aber die Behauptung: Die jungen Leute gehen doch alle nicht wählen! – Das ist erstens total falsch. Es gibt Erhebungen darüber, dass gerade die von uns angesprochene Altersgruppe eher mehr und intensiver an Wahlen interessiert ist als darauffolgende Altersgruppen. Was für ein demokratietheoretischer Blödsinn ist es darüber hinaus, zu sagen, wir stellen das Wahlrecht für eine gewisse Gruppe infrage, weil ein Teil dieser Gruppe von dem Wahlrecht keinen Gebrauch macht?

(Beifall von Michele Marsching [PIRATEN] und Torsten Sommer [PIRATEN])

Ich möchte nicht darauf verweisen, dass uns alle wichtigen Jugendverbände in unserem Land eindringlich darum bitten, diese Option zu eröffnen, und dass alle Nachwuchsorganisationen der politischen Parteien … Entschuldigen Sie, nicht „alle“! Liebe Freunde von der Jungen Union, ihr müsst ja nicht wählen gehen. Bitte nehmt aber den anderen nicht das Recht, zur Wahl zu gehen!

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Wir wollen uns an dieser Stelle vergewissern, wie wir es denn mit unseren eigenen Prinzipien halten. Ich will den Kolleginnen und Kollegen von der FDP nicht wieder ihre eigene Beschlusslage, die Praxis der vielen FDP-Fraktionen in den anderen Landesparlamenten oder gar ihre Jungen Liberalen oder ihre eigenen Parteitagsbeschlüsse vorhalten. Ich habe den Eindruck, dass es darum gar nicht geht. Vielleicht

kommt das alles nur zu einem falschen Zeitpunkt. Wir haben an einem anderen Punkt, der sicherlich von wesentlich geringerer Bedeutung ist, kurzfristig überlegt, ob es nicht sinnvoll ist, zu breiteren Mehrheiten zu kommen und den Weg für eine große Zustimmung im Haus zu eröffnen. Wenn es nur darum geht, zu verhindern, etwas mit den falschen Mehrheiten auf den Weg zu bringen, werfen Sie bitte Ihr Herz über die Hürde!

Es geht nicht darum, ein Ampelsignal zu setzen. Es geht darum, junge Menschen mit ihren Anliegen ernst zu nehmen und ihnen die Möglichkeit zu Teilhabe und Partizipation in unserer Gesellschaft zu eröffnen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um demokratisches Selbstverständnis. Deshalb werbe ich noch einmal dafür: Stimmen Sie mit uns gemeinsam für die Möglichkeit, dass wir demnächst das Wahlalter ab 16 Jahren einführen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Körfges. – Für die CDU-Fraktion spricht nun Herr Jostmeier.

Herr Präsident Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir sind auch für Teilhabe und Partizipation. Wir haben mit diesem und den nächsten sechs Tagesordnungspunkten, bis zum Tagesordnungspunkt 12, Themen zu behandeln, die wir bereits in der Novembersitzung, im Januarplenum und im Märzplenum behandelt haben und zweimal im Hauptausschuss, und zwar zuletzt am 23. März dieses Jahres. Wir haben dieses Thema in der Verfassungskommission lange diskutiert. – Herr Körfges, die Argumente sind in der Tat ausgetauscht worden.

Es geht nicht darum, dass wir nicht mehr Demokratie wagen wollen – im Gegenteil: Wir bieten den Jugendlichen, wo immer es möglich ist, die entsprechenden Beteiligungsmöglichkeiten an.

(Torsten Sommer [PIRATEN]: Pseudopartizi- pation!)

Was Sie aber zum Teil als wissenschaftliche Ergebnisse dargestellt haben, trifft nicht zu. Wir haben auch im Hauptausschuss mehrfach darauf hingewiesen, dass das Interesse an Politik bei den Sechzehn- und Siebzehnjährigen deutlich geringer ausfällt als bei den Achtzehn- bis Vierundzwanzigjährigen.

(Torsten Sommer [PIRATEN]: Ja, deshalb!)

Wir haben in Sachsen-Anhalt seit 1999 ein Wahlalter von 16 Jahren bei den Kommunalwahlen. Das Ergebnis kennen Sie, Herr Körfges, und das hätten Sie

auch der Vollständigkeit halber sagen sollen. Ergebnis ist, dass die Wahlbeteiligung der Jugendlichen im Durchschnitt niedriger ist als die durchschnittliche Wahlbeteiligung.

Es gibt zahlreiche Studien und Umfragen mit dem Ergebnis, dass die Jugendlichen das Wahlrecht mit 16 Jahren mehrheitlich ablehnen. Wir haben die Shell Jugendstudie aus dem Jahre 2002. Wir haben die Umfrage Grüne Jugend Ost-Alb 2009. Wir haben die forsa-Umfrage 2010. Wir haben eine Umfrage aus Österreich aus 2011. Das Durchschnittsergebnis dieser Umfragen lautet: 52 % dieser Jugendlichen lehnen das Wahlrecht mit 16 Jahren ab. 27 % der Jugendlichen sind dafür und 22,8 % dieser Jugendlichen ist es gleichgültig.

Herr Kollege.

Wir haben einen weiteren Punkt. Darf ich den eben zu Ende bringen, Herr Präsident?

Ja, bitte.

Wir hätten das Auseinanderfallen von aktivem und passivem Wahlrecht. Das ist keine Kleinigkeit. Dann gibt es ein Wahlrecht zweiter Klasse für die Jugendlichen, die nicht gewählt werden können, sondern die nur wählen dürfen.

Wir haben einen weiteren Punkt. Das Strafrecht zieht beim Jugendstrafrecht sehr deutlich eine Grenze bei 18 Jahren. Wir haben das BGB. Nach § 2 BGB beginnt die Volljährigkeit mit dem 18. Lebensjahr.

Herr Körfges, beim Wahlrecht mit 16 Jahren koppeln wir die Rechts- und Lebenswirklichkeit der Jugendlichen von der Institution des Wahlrechtes ab. Wir hätten eine Differenz und einen Konflikt zwischen Wahlrecht auf der einen Seite und den Bürgerrechten und den Bürgerpflichten auf der anderen Seite. In der Verfassungskommission haben wir das Thema 15mal behandelt. Wir haben neunmal mit den Obleuten diskutiert. Wir hatten in der Verfassungskommission keine Zweidrittelmehrheit. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

Meine Damen und Herren von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dann kam hinzu, dass das Wahlalter als Wunsch zur Verfassungsänderung zum Knackpunkt für ein Paket der Verfassungskommission gemacht worden ist. Daran ist es dann gescheitert. Sie wissen ganz genau, dass wir zu einer anderen Regelung hätten kommen können, um das ganze Paket zu retten. Das war von Ihnen nicht gewollt.

(Beifall von der CDU)

Deswegen lehnen wir diese Verfassungsänderung heute ab. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Herr Kollege Jostmeier, ich hätte gern eine Zwischenfrage angefragt. Aber Sie wollten sie nicht, glaube ich.

Wenn Sie mögen …

Doch noch? Gut, also ausnahmsweise. Ich mache das immer so ungern hinterher. – Ausnahmsweise dürfen Sie noch eine Zwischenfrage stellen, Herr Körfges.

Dann bleiben Sie bitte gleich am Pult stehen, Herr Jostmeier, weil Herr Marsching von der Piratenfraktion eine Kurzintervention angemeldet hat.

Zunächst aber die Zwischenfrage. Bitte schön, Herr Körfges.

Vielen Dank, Herr Jostmeier, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich habe jetzt die Möglichkeit, zwischen mehreren Frageoptionen zu wählen. Ich möchte nicht nach der Bertelsmann-Studie fragen. Ich frage nur, ob Ihnen bekannt ist, dass nach den jüngsten Erhebungen zur Wahlbeteiligung – insbesondere zur Wahl in Hamburg im Jahre 2015 – deutlich erwiesen ist, dass die Wahlbeteiligung der jungen Menschen von unter 18 Jahren um zehn Prozent höher liegt als in der nächstfolgenden Alterskohorte.

Ich streite nicht ab, dass der durchschnittliche Satz in den Wahlen der letzten Jahre gestiegen ist. Aber an den statistischen Ergebnissen, die ich hier vorgetragen habe, ändert das nichts.

Vielen Dank. – Nun die Kurzintervention von Herrn Marsching, dem Vorsitzenden der Piratenfraktion. Bitte schön, Herr Marsching, Sie haben das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Jostmeier, Sie haben gerade festgestellt, weil die Wahlbeteiligung bei den unter 18-Jährigen im Durchschnitt unter dem Gesamtdurchschnitt liegt, lehnen Sie das Wahlrecht für unter 18-Jährige ab 16 Jahren ab.

Wir möchten das gar nicht ändern. Wir möchten nur die Möglichkeit für das nächste Parlament eröffnen. Davon abgesehen frage ich mich zwei Dinge, nämlich erstens, ob die Wahlbeteiligung der Altersgruppen tatsächlich dafür herhalten sollte, wer wählen

darf. Eine Studie der Bundeszentrale für politische Bildung zeigt die unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung aller unter 40 Jahren auf. Wenn ich danach gehe, muss ich sagen, jeder unter 40 Jahren darf ab jetzt nicht mehr wählen gehen. Nach Ihrer Logik müssten wir also das Wahlrecht ab 40 Jahren einführen. Dann steigt übrigens auch wieder der Durchschnitt. Damit hätten wir ein Problem.

Stimmen Sie zweitens mit mir überein, wenn ich sage, das Wahlrecht ist ein Recht und keine Pflicht und sollte nicht davon abhängig gemacht werden, ob man von diesem Recht Gebrauch macht?

(Beifall von den PIRATEN)

Der Frage zwei stimme ich zu. Zur Frage eins, ob die Beteiligung ein Indiz dafür sein muss: Jeder kann sich an den Wahlen so beteiligen, wie er möchte. Ich habe als Hauptargument vorgetragen, wir möchten mit dem Wahlrecht keine Differenz zu und keine Abkoppelung von den normalen Lebenswirklichkeiten und den rechtlichen Gegebenheiten, die wir unter anderem durch das BGB haben, die wir unter anderem beim Strafrecht haben, die wir unter anderem beim Führerschein haben und die wir unter anderem bei der Wehrpflicht hatten

(Zurufe)

und nun nicht mehr haben.