Protokoll der Sitzung vom 30.11.2012

Wir wollen hier bei 8,50 € beginnen. Wir wollen, dass dieser Mindestlohn von einer unabhängigen Kommission vor allem anhand der Kriterien Preisentwicklung, Produktivität und allgemeine Einkommensentwicklung kontinuierlich ausgestaltet und angepasst wird.

Bei der Leiharbeit geht es vor allem darum, das so genannte Synchronisationsverbot wieder einzuführen. Das heißt, es darf nicht mehr den Mechanismus geben, dass der Arbeitsvertrag eines Leiharbeitnehmers mit der Verleihfirma unmittelbar aufgelöst ist, wenn eine Verleihung nicht mehr stattfindet.

(Beifall von Walter Kern [CDU] und Peter Preuß [CDU])

Ich bedanke mich für den Beifall seitens der Opposition. Es gibt doch noch kluge Köpfe in der CDU. – Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass die Bundesarbeitsministerin darüber nachdenken sollte, ob Kurzarbeit nicht auch verstärkt für Leiharbeitsfirmen möglich sein sollte. Auch dies wäre ein richtiger Weg.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung wird die Politik der Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen fortsetzen. Wir haben in der vorletzten Woche über die Allgemeinverbindlichkeit für das Bäckereihandwerk und für die Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe für über 300.000 Menschen einen Tarifvertrag zugänglich gemacht – über 300.000 Menschen, die jetzt den Schutz eines Tarifvertrages für sich in Anspruch nehmen können. Das ist eine bemerkenswerte Zahl. Diese Politik muss weitergehen.

Meine Damen und Herren, wir wissen: Die Spaltung des Arbeitsmarktes, der Niedriglohnsektor und letztendlich die Spaltung der Gesellschaft gehen auch auf die Ideologie des Neoliberalismus zurück.

(Zurufe von der FDP: Oh!)

Ja, natürlich ist das so. Herr Lindner, natürlich ist das so!

(Zuruf von Christian Lindner [FDP])

Das kann ich gerne mit Ihnen im Rahmen eines Privatissimums tun.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Christian Lindner [FDP]: Brauche ich nicht!)

Ich habe mich seit 30 Jahren damit beschäftigt – länger als Sie vielleicht.

Armut entfernt sich immer mehr von den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Sozialer Ausgleich und die Fähigkeit, aber auch der Wille zum sozialen Kompromiss sind deshalb Gebot der Stunde. Wir wissen: Materielle Armut ist allzu oft auch Ursache für kulturelle Armut und Bildungsarmut. Wir wissen: Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen materiellem Kapital und kulturellem Kapital. Die Philosophie dieser Landesregierung beinhaltet deshalb die Bekämpfung von Armut in all ihren Facetten. Deshalb steht Bildungspolitik auch ganz oben auf der politischen Agenda.

Wir sind offen für jede Diskussion. Wir werden unser Konzept zur Bekämpfung der Armut in Nordrhein-Westfalen im nächsten Jahr vorlegen. Ich hoffe, der Bundesbericht ist nicht allzu sehr geschönt. Ich hoffe, dass sich dort die seriösen Kräfte durchsetzen, und freue mich auf eine angeregte Diskussion mit manchem Hinweis des Abgeordneten Lindner im Hinblick auf die Ideengeschichte im alten Europa. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Minister Schneider. – Ich vermute, Sie haben bemerkt, dass Sie die Redezeit überzogen haben. Zur Information der Kolleginnen und Kollegen: Es waren 4 Minuten und 17 Sekunden, die Sie als Fraktionen selbstverständlich bei der Debattenzeit dazubekommen. Ich will aber gleichzeitig darauf hinweisen,

dass die Debattenzeiten schon relativ großzügig bemessen sind.

Damit eröffne ich die Aussprache und erteile für die Fraktion der SPD Herrn Kollegen Scheffler das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland geht etwas schief. Oder besser gesagt: Es ist etwas in einer Schieflage, nämlich das soziale Gleichgewicht. Den Reichen geht es immer besser, den Armen immer schlechter. Die Kluft dazwischen wächst. Der Mittelstand schrumpft, wie wir das schon in Großbritannien oder in den USA verfolgen konnten. Die Lasten sind ungleich verteilt. Diejenigen, die den Wohlstand mehrheitlich erarbeiten, werden daran nicht mehr fair und gerecht beteiligt, meine Damen und Herren. Das ist skandalös und für ein reiches Land wie Deutschland ein Armutszeugnis im wahrsten Sinne des Wortes.

Das Unerträglichste ist für mich daran: Betroffen sind vor allem die Schwächsten und Hilflosesten in unserer Gesellschaft, die Kinder. Jedes fünfte Kind unter 18 Jahren lebt in einem einkommensarmen Haushalt. Besonders von Armut betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden.

Für Kinder bedeutet das häufig nicht nur materielle Armut. Arme Kinder haben laut Studien im Durchschnitt größere Risiken, krank zu werden und zu bleiben. Sie werden ungesünder ernährt, haben seltener Zugang zu kulturellen Ereignissen, leben in ungünstigeren Wohnverhältnissen und haben auch durchschnittlich geringere Bildungserfolge. Meine Damen und Herren, das bedeutet: Finanzielle Armut tut Kindern wie auch Erwachsenen nicht gut, bringt weitere Armut mit sich und wird ganz häufig auch weitervererbt.

Warum, so müssen wir uns fragen lassen, gibt es in unserem Land so viele arme Kinder? Die Antwort, meine Damen und Herren, ist eigentlich denkbar einfach: Weil es so viele arme Eltern gibt. Es gibt im Übrigen auch keine empirischen Untersuchungen darüber, dass arme Eltern ihre Kinder benachteiligen. Ich kenne nur eine Untersuchung der Stadt Nürnberg, die ganz klar und deutlich dokumentiert, dass auch Eltern, die Hartz IV beziehen, eher auf eigene Dinge verzichten, als dass ihre Kinder nicht genug zu essen haben oder nicht die materielle Ausstattung bekommen, die sie haben müssten. Meine Damen und Herren, auch daran sollten wir heute denken: Es geht nicht um die Lufthoheit über den Stammtischen, sondern wir sollten auch diesen Familien in der Beurteilung und Bewertung gerecht werden.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Meine Damen und Herren, zurück zu den Gründen. Der erste Grund ist natürlich – Guntram Schneider hat eben darauf hingewiesen – die Erwerbsarmut. Trotz ausgezeichneter Konjunktur und sehr stabiler Wirtschaftslage müssen in Deutschland zu viele Menschen von Niedriglöhnen leben. Teilweise sind sie sogar gezwungen, mit Transferleistungen aufzustocken.

Man bedenke, dass sich Unternehmen so auf Kosten der Steuerzahler – man kann es schon so sagen – bereichern. Ich sage hier eines ganz klar, meine Damen und Herren: Für die öffentlichen Haushalte wäre es ein gigantisches Einsparprogramm, wenn tarifgerechte Löhne bezahlt würden und keine Aufstockungen vorgenommen werden müssten. Ich glaube, das wäre für die öffentlichen Haushalte ein ausgezeichneter und guter Beitrag.

Im Übrigen gibt es im Beschäftigungssektor der Dienstleistungen immer noch Bereiche, in denen es keine Tarifverträge, geschweige denn Mindestlöhne gibt. Dazu sage ich eines ganz klar: Es ist gut, dass es jetzt in Nordrhein-Westfalen seit 1. Mai das Tariftreue- und Vergabegesetz mit einem Mindestlohn von 8,62 € gibt.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Das zeigt nämlich: Wir meinen das ernst, was wir sagen, und wir handeln auch so, meine Damen und Herren.

Seit Jahren ständig sinkende Reallöhne und prekäre Arbeitsverhältnisse wirken sich verheerend auf die Lebenssituation vieler Familien aus. Außerdem ist so absehbar, dass viele arbeitende Menschen nach ihrer Erwerbstätigkeit noch ärmer werden, da sie nämlich keine oder nur unzureichende Rentenansprüche erlangt haben. Altersarmut ist hier vorprogrammiert.

Meine Damen und Herren, der zweite Grund: Die Empfänger von Transferleistungen nach SGB II – Hartz IV – sind arm. Ich glaube, daran werden wir alle zusammen nicht deuteln wollen. Dass Kinder in SGB-II-Familien automatisch mit darunter leiden, ist für mich nicht hinnehmbar. Wir wissen, das Kindergeld wird auf den SGB-II-Bezug mit angerechnet, und viele Eltern haben nach wie vor Schwierigkeiten, ihren Kindern die notwendigsten Wünsche zu erfüllen.

Mangelnde Bildungsmöglichkeiten verfestigen aber die Armut bis in die nächste Generation, und so entsteht ein immer wiederkehrender Teufelskreis, der nicht nur die Betroffenen schädigt, sondern auch unserer Gesellschaft ganz viele Potenziale vorenthält. Deswegen ist das, was die Ministerpräsidentin auf den Weg gebracht hat – sie hat nämlich gesagt, dass wir kein Kind zurücklassen wollen –, der richtige bzw. der einzig richtige Weg, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wir haben es vorher gewusst, aber es ist jetzt noch einmal dokumentiert worden: Das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung hat daran nichts geändert. Es hat sich letztendlich nur als Bürokratiemonster entpuppt, das kaum in Anspruch genommen wird.

(Beifall von der SPD)

Nur knapp die Hälfte der Leistungen wurde in NRW abgerufen, und davon wurden die wenigsten Mittel für Lernförderung oder soziale und kulturelle Teilhabe ausgegeben.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung hat alles darangesetzt, die zuständigen Behörden mit Arbeitshilfen und Gesprächen bei der Umsetzung zu unterstützen. Das Bildungs- und Teilhabegesetz ist aber einfach zu kompliziert. Jetzt müssen alle Anstrengungen unternommen werden, damit die Kinder doch noch die Leistungen erhalten, die das Bundesverfassungsgericht ihnen zugesprochen hat. Kurzfristig bleibt für uns daher das Ziel, dass wir eine verfassungsgemäße, das heißt eine transparente, sachgerechte und realitätsgerechte Berechnung der Regelsätze haben wollen, gerade auch für Kinder.

Ein weiterer Punkt, der zur Armut beiträgt, sind die fehlenden Betreuungsmöglichkeiten. Vielen Alleinerziehenden fehlt schlicht und einfach die Möglichkeit, Vollzeit arbeiten zu gehen.

(Beifall von Walter Kern [CDU])

Alleinerziehende Mütter oder Väter würden gerne arbeiten, wenn sie ihre Kinder nur sicher betreut wüssten. Ohne vernünftige Betreuungsmöglichkeiten, insbesondere für unter Dreijährige, haben es Eltern schwer, über die Runden zu kommen – auch wenn sie nicht alleinerziehend sind.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es ist gut, dass diese rot-grüne Landesregierung im Sommer 2010 Gas gegeben hat, den U3-Ausbau zu forcieren,

(Lebhafter Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Widerspruch von der CDU)

nachdem die Vorgängerregierung hier kläglich versagt hat. Das werden Sie sich immer wieder anhören müssen.

(Lebhafter Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ich sage Ihnen eines: Da hilft eine Herdprämie in Höhe von 100 € ebenso wenig wie die wieder einkassierte Putzprämie für Haushaltshilfen – zur Not noch mit einem Stundenlohn von 6 €. Da frage ich mich, wo die Lohnuntergrenze von Herrn Laumann geblieben ist. Die haben Sie anscheinend genauso beerdigt wie alles andere.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das waren einige der wichtigsten Gründe für Armut bei Kindern und Familien.

Wir haben noch andere besorgniserregende Fälle von Armut zu beklagen. Rentnerinnen und Rentner leben oft in Armut. Viele Menschen leben in sogenannter versteckter Armut, weil sie zu stolz sind, Hilfen zu beantragen.

Wer aufmerksam durch seine Stadt geht, wer häufig im Zug unterwegs ist, wird immer mehr Menschen sehen, die Papierkörbe durchwühlen, die gucken, ob es irgendwo Dinge gibt, die sich noch gebrauchen lassen, etwa Pfandflaschen, die hinterher eingelöst werden können. Wer dieses Signal in der Gesellschaft nicht wahrnimmt, der sollte sich mal eines Besseren belehren lassen und überlegen, wo in unserer Gesellschaft der soziale Zusammenhalt fehlt.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Meine Damen und Herren, wie wir gehört haben, sind auch in Nordrhein-Westfalen Armut und Ungleichverteilung gestiegen. Eines aber ist gut und erfreulich: dass sich die Landesregierung der Problemlage annimmt und nach konstruktiven und vernünftigen Lösungen sucht. Die Lösungsvorschläge zur Bekämpfung der Armut lauten: