Protokoll der Sitzung vom 03.09.2015

ben: Pläne von EU-Kommissar Oettinger lassen das freie und offene Internet sterben

Antrag der Fraktion der PIRATEN Drucksache 16/9590

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Fraktion der Piraten dem Kollegen Kern das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe verbliebene Zuschauer hier im Saal, aber vor allem zu Hause am Stream! Wenn Sie sich gerade fragen: „Netzneutralität – was ist das? Geht mich das überhaupt etwas an?“, dann rufe ich Ihnen zu: Ja, verdammt! Ich sage Ihnen jetzt auch gleich, warum.

Netzneutralität ist das universelle Grundprinzip, nach dem das Internet funktioniert: offen und diskriminierungsfrei. Alle Daten sollen gleichberechtigt an die Nutzer gesendet werden – egal woher sie stammen, egal welchen Inhalt sie haben. Das Internet ist sozusagen der Bürgersteig des 21. Jahrhunderts. Es ist das Konzerthaus und die Videothek des 21. Jahrhunderts. Es ist auch der Marktplatz des 21. Jahrhunderts. Kurzum: Hier tauschen sich Menschen aus, machen Geschäfte und kommunizieren. Hier findet immer mehr das gesellschaftliche Leben

statt. Sie selbst werden das alles jetzt vielleicht noch nicht machen, aber Ihre Kinder tun es bereits.

Die Bedeutung des Internets für die Zukunft Europas hat auch die EU-Kommission entdeckt und den Verordnungsvorschlag (2013) 627 vorgelegt. Sie ist dabei auf den grandiosen Einfall gekommen, dass man auf diesen digitalen Bürgersteig doch auch Maut erheben könnte – sozusagen eine DigitalMaut. Und für diese Digital-Maut soll der Grundsatz der Netzneutralität sterben.

Das ist also die digitale Agenda der EU: die Erhebung von Wegezoll. So soll unsere Zukunft also gestaltet werden: Mit einem Geschäftsmodell, das schon die Bibel kennt, sollen im 21. Jahrhundert Arbeitsplätze in Europa geschaffen werden – absurder geht es nicht!

(Beifall von den PIRATEN)

Das ist alles Teil des schwarz-roten Jurassic Park, von dem mein Fraktionsvorsitzender Michele Marsching heute Mittag in der Haushaltsdebatte sprach, und den es leider auch hier in NRW gibt.

Zwar beteuern Oettinger, Dobrindt und Co. stets, dass das freie Internet nicht in Gefahr sei, doch in Wahrheit wollen sie es insgeheim abschaffen. Der Verordnungstext ist so schwammig gehalten, dass später sicherlich eine industriefreundliche Auslegung gefunden werden wird. Damit wäre dann die Einführung eines Zweiklasseninternets besiegelt. Ohne Netzneutralität werden sich finanzstarke Großkonzerne zukünftig eine Überholspur für ihre eigenen Onlinedienste erkaufen können. Wer die Maut nicht zahlt, bleibt im Stau stehen.

Die vorgeschobenen Rechtfertigungen könnten verlogener nicht sein.

Erstes Beispiel: Telemedizin, also beispielsweise Operationen übers Internet. Lebensbedrohliche Eingriffe sind jedoch per Internet überhaupt nicht machbar, da niemand eine hundertprozentig stabile Internetverbindung garantieren kann.

Zweites Beispiel: autonomes Fahren. Digitale Überholspuren, so hört man, seien für den Autoverkehr der Zukunft unverzichtbar. Dumm nur, dass selbst bei Google und seinem Roboterauto keine Rede davon ist, auf eine Internetverbindung angewiesen zu sein.

(Michele Marsching [PIRATEN]: Deswegen heißt es auch „autonom“!)

Genau.

(Daniel Schwerd [PIRATEN]: Überraschung!)

Aber mit Lügen und der Unwissenheit der Wähler kann man leicht Politik machen. Das gilt hier wie bei der Vorratsdatenspeicherung.

Um es einmal deutlich zu sagen: Die Abschaffung der Netzneutralität ist der Triumphzug der

Mainstream-Medien und ein Angriff auf die Presse-

und Informationsfreiheit. Subkultur wird in die Warteschleife geschickt, und echte Informationsfreiheit wird zu einer Frage des Geldbeutels. Wer sich die Netzneutralität nicht leisten und somit nicht erkaufen kann, ist auf die sogenannten Zero-Rating-Dienste der Großkonzerne angewiesen.

(Matthi Bolte [GRÜNE]: Das ist das Problem!)

Die gleichen Großkoalitionäre, die im Januar noch den Terror gegen „Charlie Hebdo“ verurteilten, sorgen jetzt für das nächste Attentat auf die Medienvielfalt.

(Beifall von den PIRATEN – Nadja Lüders [SPD]: Das ist unterste Schublade!)

Ich komme zum Schluss. Ende Juni haben sich Ratskommission und Vertreter des EU-Parlaments auf eine fatale Aufweichung der Netzneutralität verständigt. Die Vereinbarung muss aber noch durchs Parlament, das im Herbst final abstimmen wird. Bis dahin können noch Änderungen vorgenommen werden. Daher müssen wir hier heute diese Debatte führen. Mit der Abschaffung der Netzneutralität soll das Kulturbiotop für eine kommerzielle Betonwüste geopfert werden. Wir Piraten kämpfen weiter für ein freies Internet. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Kern. – Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Schneider.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Piratenfraktion, um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Wir lehnen Ihren Antrag ab.

(Daniel Schwerd [PIRATEN]: Überra- schung! – Nicolaus Kern [PIRATEN]: Surpri- se, Surprise!)

Das hat zwei Gründe, und die möchte ich Ihnen im Folgenden auch erklären.

(Michele Marsching [PIRATEN]: Brauchen Sie nicht! Setzen Sie sich einfach wieder hin!)

Der erste Grund ist: Wir in Nordrhein-Westfalen haben uns schon früh deutlich für die Netzneutralität ausgesprochen. Sie kennen sicherlich noch den rotgrünen Antrag – da bin ich mir sicher – mit dem Titel „Für echtes Netz: Netzneutralität dauerhaft gewährleisten und gesetzlich festschreiben!“. Das war im Mai 2013. Damals haben wir sehr deutlich klargemacht, dass im Internet nur die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Datenpakete – unabhängig von Inhalt, Dienst, Anwendung, Herkunft oder Ziel – der Garant für ein freies Netz ist. Das hat Sie so sehr überzeugt, dass wir anschließend gemeinsam mit Ihnen den Änderungsantrag Drucksache

16/5777 eingebracht haben. Das war vor etwas mehr als einem Jahr.

Herr Kollege, der Kollege Kern von der Piratenfraktion möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Das können wir alles regeln. Gerne.

Bitte schön.

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, Herr Kollege.

Ich stimme Ihnen zu, dass in dem damaligen gemeinsamen Antrag von Netzneutralität die Rede war. In dem vorliegenden Antrag steht aber auch drin, dass Spezialdienste zugelassen sind und dass sich mittlerweile herausgestellt hat, dass sich die damals vorgeschobenen Argumente im Wesentlichen als unwahr herausgestellt haben.

(Zurufe von der SPD: Wo ist die Frage? Zum Thema! – Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Ru- he! – Matthi Bolte [GRÜNE]: Sie haben den Antrag nicht verstanden, dem Sie selbst zu- gestimmt haben!)

Sehen Sie ein, dass sich die Sachlage geändert hat?

Bitte schön.

Natürlich hat sich die Sachlage in der EU geändert, aber wir stehen weiterhin – ich denke, das gilt für Sie genauso wie für uns – zu unserem Wort „pro Netzneutralität“. Wir haben uns – und das ist der erste Grund, warum wir Ihren Antrag ablehnen – intensiv damit auseinandergesetzt, sowohl in den Fraktionen als auch hier im Plenum, und zumindest wir drei Fraktionen haben uns deutlich dazu positioniert.

Der zweite Grund, warum wir Ihrem Antrag heute nicht zustimmen können, ist einer, der auch mich betrübt: Er kommt schlicht zu spät. In Brüssel sind die Würfel längst gefallen, und auch wenn es Sie und mich persönlich nicht glücklich macht, ist eine Mehrheit der EU-Parlamentarier dazu bereit, die Netzneutralität zugunsten einer Roaming-Regelung zu opfern, die letztlich sogar hinter den Summer Specials der meisten Mobilfunkbetreiber zurückbleibt. Das ist bedauerlich.

Viel interessanter finde ich aber, heute einmal die Frage zu stellen – Sie haben es ansatzweise gerade gemacht, Herr Kern –, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Für mich ist die Antwort ganz einfach: Netzpolitische Themen finden meist unter

Ausschluss der breiten Öffentlichkeit statt, zum Beispiel um kurz vor 19 Uhr in bundesdeutschen Parlamenten.

Während in den USA scheinbar jedes Kind begriffen hat, was ein freies Internet mit weitestreichender Netzneutralität bedeutet, erntet man hierzulande mitleidige Blicke, wenn man von den Vorzügen des freien Internets berichtet. Amerika hat die Netzneutralität weitestgehend gerettet. Europa hingegen wird sie für ein bisschen Applaus im Zusammenhang mit den Roaminggebühren komplett versenken. Da gebe ich Ihnen recht.

Mangelndes Verständnis für das Thema ist der Grund, warum immer wieder Pseudoargumente – und einige davon haben Sie gerade auch genannt – bei den Entscheidern haften bleiben, die nichts mit der digitalen Realität zu tun haben. Ich denke nur einmal an das Märchen – gerade ist es schon angeklungen – von Günther Oettinger, wonach Netzneutralität autonomes Fahren unmöglich mache. Datenaustausch von und zwischen den Autos müsse eben immer prioritär im Netz befördert werden, so Oettinger.

Das ist Quatsch, und das wissen wir alle. In Funklöchern und Tunneln wäre autonomes Fahren nach dieser Lesart völlig unmöglich. Dennoch höre ich dieses Argument immer wieder, und dem müssen wir entgegentreten. Denn mit der Netzneutralität verhält es sich wie mit einem Soufflé: Sticht man an einer Stelle hinein, fällt das ganze schöne Soufflé in sich zusammen. Und Nadelstiche hat es in den vergangenen Trilogverhandlungen eine Menge gegeben.

Nehmen Sie nur das sogenannte Zero Rating von Spezialdiensten. Für mich persönlich gehört ein Verbot dieses Zero Ratings zu einer starken Netzneutralitätsregelung einfach dazu. Warum das so ist, zeigt aktuell der Fall des Musik-StreamingAnbieters Spotify, der beispielsweise im TelekomMobilfunknetz bevorzugt behandelt wird. Nutzern des Dienstes wird das mobile Streamen von Musik derzeit nicht auf das monatliche Freivolumen angerechnet.

Das ist eine Ungleichbehandlung, die es Nutzerinnen und Nutzern momentan schwermacht, den neuen Nutzungsbedingungen von Spotify zu widersprechen. Denn auf welches Angebot soll man denn ausweichen, wenn man Standort und Bewegungsdaten, Bilder und Kontakte eben nicht mit Spotify und seinen Werbepartnern teilen möchte?

(Michele Marsching [PIRATEN]: Deezer! iTu- nes!)