Wir brauchen auch wissenschaftliche Aufarbeitung, und der Zugang zu staatlichen Archiven muss erleichtert werden. An einem runden Tisch sollten alle Beteiligten zusammengeführt werden, um die Aufklärung gemeinsam voranzutreiben. Warum hat der Staat nicht hingeschaut, was hinter den Mauern von Kinderkurheimen passierte? Wer trug die Verantwortung? Wer hat davon finanziell profitiert?
Das mögen unangenehme Fragen sein, es ist aber unsere Aufgabe als gewählte Volksvertreterinnen und Volksvertreter, Unrecht als dieses zu benennen. Es ist auch unsere Aufgabe, sichtbar zu machen, was viel zu lange im Dunkeln geblieben ist.
Zeit heilt alle Wunden, heißt es im Volksmund. Manche Wunden sind aber so tief, dass Zeit alleine nicht reicht. Wir sollten uns dieser Aufgabe widmen. Der Landtag erkennt das Leid, das zahlreiche Verschickungskinder erfahren mussten, an und spricht sein Mitgefühl für erlittenes Unrecht aus.
Unser Staat hat diese Kinder einmal im Stich gelassen. Von nun an sorgen wir gemeinsam dafür, dass dies kein zweites Mal geschieht.
„,Es waren ausnahmslos traumatisierende Erlebnisse, die mich noch heute belasten“, „danach war alles anders“, schreiben zwei weitere. Neun von zehn ehemaligen Kurkindern geben in ihren Erfahrungsberichten an, dass sie die Kur schon als Kind belastet habe. Viele hätten tagelang geweint, schwere Angst vor den Erzieherinnen gehabt und unter starkem Heimweh gelitten. Die Kur sei „Psychoterror“ und „Folter“ gewesen, „ein Aufenthalt in der Hölle“, ein „dunkler Fleck in der Kindheit“.
„Verschickung“ lautete nach 1945 der Sammelbegriff für das Verbringen von Klein- und Schulkindern, die wegen gesundheitlicher Probleme in Kinderholungsheimen und -stätten untergebracht waren. Die erhoffte Kur wurde vielfach zum Alptraum, der nicht selten zu neuen, oft massiveren Erkrankungen führte.
Gewalt und Züchtigungen haben während des vermeintlichen Kuraufenthaltes oft eine große Rolle gespielt. Es wurde viel geschrien, Befehle wurden erteilt, keines der Kinder konnte mal für sich sein.
Auch das Essen wurde zur Folter. Ein Betroffener schildert, er habe Hagebuttentee trinken müssen. Er habe dagegen eine Abscheu gehabt und würgen müssen. Andere Betroffene schildern, wie sie ihr Erbrochenes wieder aufessen mussten.
Viele Kinder hätten das Gefühl gehabt, diese Zeit nicht überleben zu können. Ein Betroffener schildert, dass eine Masernerkrankung seine Rettung gewesen sei. Er wurde isoliert, kam in ein Krankenzimmer, und man ließ von ihm ab.
Wir wissen, dass in den 50er- und 60er-Jahren körperliche Züchtigung als gesellschaftliches Erziehungsmittel durchaus akzeptiert war. Erst im Jahr 2000 wurde ein gesetzliches Verbot der körperlichen Züchtigung eingeführt. Bis in die 1960er-Jahre
dominierten überwiegend autoritäre und autokratische Erziehungsmodelle. Gehorsam und Respekt standen hier an erster Stelle; das wissen wir alle. Kinder waren im Elternhaus, aber auch in Schulen und anderen Einrichtungen stets einer strikten Hierarchie und der jeweils geltenden Hausordnung unterworfen.
Die von zahlreichen Betroffenen geschilderten sogenannten Erziehungsmethoden während der Kinderlandverschickung lassen sich damit aber nicht rechtfertigen. Sie sind ganz klar einer Schwarzen Pädagogik zuzuschreiben und galten schon damals als nicht geeignete Erziehungsmethoden.
Hier ist eindeutig von systematisch schlechter Behandlung zu sprechen, zum Teil sogar von Misshandlung. 93 % der ehemaligen Kurkinder bewerten ihre Erholungskur dem anfangs zitierten Bericht zufolge negativ. Mehr als 60 % der Betroffenen äußern, noch heute unter den Erlebnissen zu leiden – in Form von Angst- und Essstörungen, Panikattacken und Depressionen.
Vieles, was wir heute über die psychischen und physischen Folgen für die sogenannten Verschickungskinder wissen, basiert im Wesentlichen auf Erlebnisberichten der Betroffenen und der „Initiative Verschickungskinder“. Auch eine abschließende Zahl betroffener Verschickungsheime in Nordrhein-Westfalen liegt nicht vor.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung und wir als NRW-Koalition unterstützen ausdrücklich den Wunsch der ehemaligen Verschickungskinder nach Aufarbeitung der damaligen Vorkommnisse. Leider gestaltet sich diese Aufarbeitung schwierig, da es keine zentrale Datenerfassung aus diesen Jahren gibt und uns keine genauen Erkenntnisse zur konkreten Anzahl der Betroffenen vorliegen.
Einzelne Länder haben bereits erste Versuche einer Aufarbeitung gestartet. Dort hat sich gezeigt, dass eine Aufarbeitung auf Landesebene nicht zum gewünschten Erfolg führt, da die Betroffenen aus dem gesamten Bundesgebiet kommen. Erschwerend kommt hinzu, dass für diese schrecklichen Vorkommnisse unterschiedliche Einrichtungen und Träger verantwortlich waren.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung wird sich daher für eine bundesweite Aufklärung und Aufarbeitung der Geschehnisse einsetzen. Unabdingbar ist dabei, die bisherigen Berichte und Erkenntnisse der Opfer einzubeziehen.
Wichtig für die Betroffenen ist auch, dass sie bei Erfüllung der rechtlichen Voraussetzungen nach dem Opferentschädigungsgesetz, OEG, einen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz haben. Für Personen, die vor dem Inkrafttreten des OEG am 15.05.1976 geschädigt wurden, können sich Ansprüche auf
Die Politik muss prüfen, wo sie helfen kann. Das Ziel muss sein, die Vorfälle aufzuarbeiten und den Opfern Entschädigungen zukommen zu lassen. Wir müssen aber auch systematisch aufklären, damit die Träger, Gesundheitsämter und Kassen Verantwortung übernehmen.
Insofern sind wir gespannt auf die weitere Diskussion im Ausschuss und stimmen der Überweisung selbstverständlich zu. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Vorrednerin und mein Vorredner haben bereits viel Richtiges zu dem vorliegenden Antrag gesagt. Ich möchte das nicht wiederholen.
In der Gegenwart diskutieren wir viel über das Thema „Kinderschutz“ und den sexuellen Missbrauch von Kindern.
Es ist aber auch wichtig, den Blick nach hinten zu wenden und festzustellen, welches Leid und Unrecht Kindern angetan wurden. Welches Leid und welche Traumata sich ausgerechnet hinter dem Begriff der Kinderkur in den vergangenen Jahrzehnten verborgen haben, lässt mich erschaudern, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Welche Demütigungen und Übergriffe im Namen der Gesundheit Kinder und Jugendliche bis weit in die 80er-Jahre hinein über sich ergehen lassen mussten, kann niemanden kaltlassen.
Wie bereits gesagt, wir sprechen hier nicht von einer härteren Hand, wie sie früher in der Kindererziehung noch allzu oft vorkam. Es geht um seelischen und körperlichen Missbrauch, teils um sexuelle Übergriffe und wohl auch um Delikte mit Todesfolge. Diese jahrzehntelange Praxis wurde durch ein im wahrsten Sinne des Wortes unheilvolles Gemisch überhaupt erst möglich: fehlende staatliche Kontrolle der Einrichtungen, bundesweite Verschickungen, die massiv zur Unübersichtlichkeit beigetragen haben, und Erziehungsmethoden, die teils sogar an die Tradition der herz- und mitleidlosen NS-Ideologie erinnern.
Daher ist es gut und richtig, dass dieses Thema nicht nur hier im Landtag beleuchtet wird, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der SPD ausdrücklich für den vorliegenden Antrag.
um den Opfern und ihren Angehörigen Gewissheit, Klarheit und Unterstützung zukommen zu lassen. Viele Betroffene haben in der letzten Zeit bereits einiges dafür getan, damit dieses Anliegen erfüllt wird.
Mit der „Initiative Verschickungskinder“ gibt es nun eine Plattform zur Vernetzung und regionalen Organisation. Ich freue mich, dass die Landesregierung bereits in engem und konstruktivem Austausch mit der Initiative steht, ihre Unterstützung zugesichert und auch intern erste Schritte vorgenommen hat, um einen Beitrag zur Aufarbeitung des Schicksals der Verschickungskinder leisten zu können.
Wenig geholfen wäre den Opfern allerdings, wenn wir die spezifischen Umstände wie unterschiedliche Zuständigkeiten und auch geografische Besonderheiten außer Acht ließen. Das betrifft Zugänge zu Archiven, Akteneinsicht oder aber lokale Fälle zwischen Ostsee und Alpenvorland. Dazu brauchen wir ein gut abgestimmtes und umsichtiges Vorgehen.
Die Jugend- und Familienministerkonferenz geht mit ihrem einstimmigen Beschluss genau diesen Weg und hat die Bundesregierung bereits im Mai 2020 aufgefordert, die bundesweite Aufklärung anzugehen. Dieser Beschluss macht aus unserer Sicht die im vorliegenden Antrag geforderte Bundesratsinitiative überflüssig.
Nichtsdestotrotz freuen wir uns ausdrücklich auf die weiteren Beratungen im Ausschuss. Gerne kommen wir zu einem fraktionsübergreifenden Ergebnis; ich denke, das wäre im Sinne der Betroffenen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Verschickung“, das war nach 1945 ein Sammelbegriff für das Verbringen von Kindern und Jugendlichen in sogenannte Kinderkuren wegen angenommener oder tatsächlicher gesundheitlicher Probleme. Sie sollten sich erholen, und – wir haben es schon gehört – sie sollten vor allem aufgepäppelt werden.
Die Ähnlichkeit mit dem Wort „Kinderlandverschickung“ der Nationalsozialisten – das fällt relativ schnell auf – ist wohl eher kein Zufall. Auch dabei ging es ja nicht rein um frische Luft und die Rettung vor dem Bombenkrieg, sondern es ging den Nationalsozialisten damals vor allem um Drill, um ideologische Erziehung, und das mit Mitteln, die für uns heute nicht mehr nachvollziehbar sind.
Was die sogenannten Verschickungskinder bis in die 1980er-Jahre hinein in diesen Einrichtungen erleben
mussten, bezeichnet man zu Recht als Schwarze Pädagogik. Aber die traumatischen Erfahrungen und das Leid, das die Betroffenen oft erst Jahrzehnte später überhaupt beschreiben können, ist mit diesem Begriff nicht wirklich zu greifen.
Allein, weit weg von zu Hause und Eltern erlebten viele Kinder keine Erholung, sondern sie erlebten eine Hölle: eine Hölle aus Gewalt, Erniedrigung, Isolation, Angst und auch sexuellen Übergriffen. Viele von ihnen hatten Heimweh. Aber das durften sie ihren Eltern nicht mitteilen, weil Briefe zensiert wurden, weil Nachrichten nach Hause vielleicht abgefangen wurden, weil es gar nicht erlaubt war, mit den Eltern zu sprechen. Sie waren einsam, und sie spürten diese Einsamkeit, weil sie keiner gehört hat, weil sie keiner tröstete und weil keiner ihnen half.
Die Betroffenen berichten – das haben auch die Kollegen durch ihre zitierten Berichte schon deutlich gemacht – von erzwungenem Essen, selbst wenn sie sich erbrechen mussten, von Schlägen und von Demütigungen, wenn Kinder begannen, wieder einzunässen.
Bis zu 12 Millionen Kinder wurden verschickt, und viele erlebten Traumatisches, was sie teilweise ihr Leben lang begleitet. Das Schlimme ist: Auch später hörte man sie nicht. Erst waren es die eigenen Eltern, die sie vielleicht nicht hörten, die es vielleicht nicht glaubten und es sich vielleicht auch nicht vorstellen konnten. Dann hörte man sie aber auch in der Öffentlichkeit nicht; denn die Misshandlungen in den Kinderkurheimen waren lange ein Tabuthema. Die Betroffenen fanden kein Gehör, keine Unterstützung, und es gab auch keine öffentliche Debatte darüber.
Mir geht es genauso wie dem Kollegen Maelzer. Auch ich wusste lange überhaupt nichts von dieser Thematik. Es macht mich sehr betroffen, dass so viele Kinder über so viele Jahre und Jahrzehnte so Schreckliches erlebt haben, das nie ein Thema gewesen und bis heute nicht richtig aufgearbeitet ist.
Die „Initiative Verschickungskinder“ will dies jetzt ändern. Sie will Betroffenen eine Stimme geben. Sie will ans Licht bringen, woran staatliche Stellen, Sozialversicherungsträger, Gesundheitsämter, Kinderärzte und unterschiedlichste Träger beteiligt waren. Und sie will aufarbeiten – man muss es so deutlich sagen –, warum der Staat und staatliche Kontrollen damals versagt haben.