Wir behandeln diesen Tagesordnungspunkt in Verbindung mit der Aktuellen Stunde. Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 9. November gemäß
§ 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu einer aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.
Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen und die Landesregierung sind damit einverstanden, dass die Aktuelle Stunde im Rahmen der Unterrichtung durch die Landesregierung beraten wird.
Die Unterrichtung durch die Landesregierung erfolgt durch Herrn Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales Laumann. Ich erteile dem Herrn Minister das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute, am 11.11., spüren wir in Nordrhein-Westfalen besonders, dass in diesem Jahr alles anders ist. Traditionell beginnt an diesem Tag die Karnevalszeit, und die Kinder freuen sich auf den Sankt Martin. Menschen kommen zusammen, um zu singen und zu feiern – heute müssen sie darauf verzichten. Statt Frohsinn ist Vorsicht das Gebot der Stunde, statt Ausgelassenheit Abstand halten.
Heute haben wir in Nordrhein-Westfalen 180.000 gemeldete Coronafälle, davon gelten 62.900 Menschen als aktuell infiziert. Elf Kreise und kreisfreie Städte weisen eine Inzidenz von über 200 auf, weitere 38 berichten einen Wert von über 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Einwohnerinnen in den letzten sieben Tagen. Die Wocheninzidenz liegt hoch, und zwar bei 167,9 Fällen je 100.000 Einwohner. Die Zahlen bleiben in besorgniserregender Dimension, die Reproduktionszahl lässt aber darauf schließen, dass ein infizierter Mensch derzeit nur noch etwa einen weiteren ansteckt.
Kommunen und Gesundheitsämter nehmen bei der Bekämpfung der Coronaausbreitung eine, aus meiner Sicht sogar die zentrale Rolle ein. Die Beschäftigten leisten angesichts der großen Aufgaben und der nicht darauf ausgerichteten personellen Ausstattung Außerordentliches. Ich denke, wir können wirklich sagen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Gesundheitsämter in ganz Nordrhein-Westfalen machen seit Wochen einen tollen Job. Dafür ein herzliches Dankeschön!
(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und der Regierungsbank – Verein- zelt Beifall von der AfD)
Die Pandemie zeigt: Der Öffentliche Gesundheitsdienst ist unverzichtbar. Mit dem Pakt für den ÖGD stärken Bund und Länder gemeinsam mit den Kommunen den ÖGD.
Natürlich ist das Gesundheitsministerium in einem ständigen Austausch und einem ständigen Kontakt mit unseren Gesundheitsämtern. Die Kommunen unternehmen große Anstrengungen, das notwendige Personal besonders für die Kontaktverfolgung sicher
zustellen. Sofern es zu Engpässen kam, sorgte vor allen Dingen der Einsatz der Bundeswehr für eine schnelle Unterstützung. Inzwischen helfen in über 40 Gesundheitsämtern mehr als 900 hochmotivierte Soldatinnen und Soldaten mit. Auf das Engagement unserer Truppe, finde ich, können wir alle stolz sein. An dieser Stelle auch ein herzliches Dankeschön an die Soldatinnen und Soldaten!
(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und der AfD – Vereinzelt Beifall von der Regierungsbank)
Die personelle Situation hat sich mit der zweiten Welle verschärft. Die Nachverfolgung der Kontaktpersonen bleibt unentbehrlich, um Infektionsketten zu unterbrechen. Bei einer Wocheninzidenz von 50 war schon die Auffassung des RKI, fünf Kräfte auf 20.000 Einwohner bereitzustellen und dieses natürlich immer lagebedingt anzupassen. Bei einer Inzidenz von über 200 weiß jeder, dass es personell mehr als eng wird.
Eine Abfrage im Oktober hat ergeben, dass die von den Kommunen selbst noch kurzfristig zu aktivierenden 2.100 Kräfte nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. Mit finanzieller Unterstützung des Landes und Zustimmung des Landtags können deshalb von den Kommunen rund 800 Aushilfen bis zu sechs Monate befristet eingestellt werden. Hierfür stellt das Land Nordrhein-Westfalen 25 Millionen Euro zur Verfügung.
Im Grunde ist es doch jetzt so, dass alle drei staatlichen Ebenen, also der Bund über Soldaten und RKIScouts, das Land Nordrhein-Westfalen über Landespersonal und erhebliche finanzielle Mittel und die Kommunen durch Umschichtung in den Kreis- und Kommunalverwaltungen, eine gemeinsame solidarische Verantwortung für die Gesundheitsämter übernehmen.
Unsere Krankenhäuser müssen erhebliche Belastungen stemmen. Die Landesregierung unterstützt sie dabei. Sie hat zu Beginn der Coronakrise die systematische Erfassung der Intensiv- und Beatmungsplätze durchgesetzt. Damit war die Grundlage gelegt, die Kliniken gut vorzubereiten. Das Land hat rund 100 Millionen Euro aus Landesmitteln in Beatmungsgeräte investiert. Außerdem haben wir zusätzliche Intensivplätze genehmigt. Aus Mitteln des Gesundheitsfonds haben wir 50.000 Euro Bonus pro Intensivbett und über 100 Millionen Euro an die Krankenhäuser verteilt. Auch das Bundesgesundheitsministerium hat Beatmungs- und Monitorgeräte beschafft. Dem Land wurden für seine Kliniken insgesamt 1.273 Beatmungsgeräte und 1.822 Patientenmonitore zugewiesen.
Heute stehen über 33 % mehr Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeiten zur Verfügung als vor der ersten Coronawelle. Am 1. März standen 4.179 Intensivbetten mit Beatmung in den Krankenhäusern bereit, heute sind es 5.522. Rund 1.000 Intensivbetten mit Beatmung sind zurzeit frei; weitere Kapazitäten sind verfügbar, wenn verschiebbare Eingriffe aufgeschoben werden. Dieses kann natürlich wieder notwendig werden. Diese Entscheidung möchte ich aber so lange wie möglich vermeiden. Wir beobachten das Infektionsgeschehen und sind mit Krankenhäusern, Krankenhausgesellschaften, Ärztekammern und Bezirksregierungen in dieser Frage in einem ständigen Dialog.
Im Übrigen, Krankenhäuser sind verpflichtet, täglich ihre Bettenzahl in das landeseigene Erfassungssystem einzupflegen. Krankenhäuser sollen dort nur Betten mit entsprechendem Personal melden, die der Versorgung auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Das ist die Grundlage, die von Beginn an Geschäftsgrundlage des Meldesystems war: nur Betten zu melden, für die auch das Personal zur Verfügung steht. Wenn Sie sich einmal in das System einklicken, lesen Sie sofort in roter Schrift am Anfang dargestellt, dass nur Betten zu melden sind, für die auch Personal zur Verfügung steht.
Experten warnen anhand von Hochrechnungsszenarien: Ein ungebremster Anstieg der Infektionszahlen könnte zu Kapazitätsengpässen in den Kliniken führen. So weit darf es eben nicht kommen. Dafür muss die Reproduktionszahl deutlich unter den Wert von eins gedrückt werden. Alle Maßnahmen der Landesregierung in der Pandemie dienen dem Ziel, vulnerable Menschen vor Ansteckung zu schützen. Dazu zählen natürlich insbesondere die Älteren, Pflegebedürftige, Menschen mit Vorerkrankungen. Wir wissen heute mehr über das Virus und seine Verbreitung als im Frühjahr. Die Einrichtungen haben Hygienekonzepte und schützen so Bewohner, Personal und Besucher. Die neuen Schnellteste helfen, Betreuung, soziale Teilhabe und Besuche sicher zu ermöglichen.
Ich weiß, dass es in der Praxis noch Fragen gibt, auch hinsichtlich der Höhe der Kostenerstattungen rund um die Testungen. Aber hier ist die Situation so, dass der Gesetzgeber eine eindeutige Rechtsgrundlage in der Pflegeversicherung geschaffen hat, dass die Pflegekasse die Kosten, die mit der Durchführung von Schnelltesten verbunden sind, den Einrichtungen zu finanzieren hat. Jetzt ist das Problem, dass die Pflegekassen bis jetzt den Heimen nicht gesagt haben, was sie bereit sind, dafür zu zahlen, und die Verhandlungen zwischen Pflegekasse und Verbänden der Pflegeeinrichtungen auf der Stelle treten. Ich stelle mir so die Verantwortung einer Pflegekasse in der jetzigen Situation nicht vor. Auch diese Frage muss schnellstens geklärt werden.
An dieser Stelle ist es mir natürlich auch wichtig, den Pflegekräften in den Altenheimen, in den Krankenhäusern,
in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe und in allen Bereichen der sozialen Arbeit für ihre aufopferungsvolle Arbeit unter schwierigen Bedingungen zu danken.
Ihre Rolle in der Krise bestärkt mich aber auch in dem Vorhaben, diese Berufe zu stärken. Sie müssen die ihnen gebührende Wertschätzung und am Ende die notwendige Bezahlung erhalten, und deswegen sage ich an dieser Stelle ganz klar: Tarifbezahlung muss im Bereich des Gesundheitssystems die Regel werden, und die tarifliche Bezahlung ist die einzige Grundlage, um zu gerechten Löhnen in diesem Sektor zu kommen. Wir brauchen hier mehr Tariftreue.
Denn der gerechte Lohn in der sozialen Marktwirtschaft ist der Tariflohn, und der Tariflohn muss finanziert werden.
Im Übrigen habe ich etwas damit zu tun, dass heute im Pflegeversicherungsgesetz steht, dass die Pflegekassen in allen Einrichtungen Tariflöhne zu refinanzieren haben. Da steht nicht „sollen“, sondern sie müssen Tariflöhne refinanzieren, und deswegen sind die Arbeitgeber, die immer noch keinen Tarifvertrag abgeschlossen haben, in dieser Frage nicht verantwortungsbewusst, wie wir uns das vorstellen. Der Tarifvertrag muss in der Pflege die Regel werden.
Die Testkapazitäten sind kontinuierlich ausgebaut worden. In den vergangenen Wochen wurden in Nordrhein-Westfalen 400.000 PCR-Teste durchgeführt. Bei dieser Anzahl an wöchentlichen Testen ist die Wartezeit auf das Ergebnis noch vertretbar. Die Teste hatten zu fast 8 % ein positives Ergebnis. Diese Quote ist in den vergangenen Wochen stetig gestiegen. Das Virus ist damit in der Bevölkerung weiter verbreitet. Steigende Inzidenzen sind also daher kein Zufall.
Gerade deshalb hat die Landesregierung Ende Oktober nach Abstimmung mit dem Bund und den Ländern erneut Maßnahmen gegen die Virusverbreitung veranlasst. Die Infektionszahlen haben diesen Schritt erzwungen. Kontaktreduzierung, Abstand halten, Hygiene und Maskentragen sind die einzigen Möglichkeiten, Infektionsketten verlässlich zu unterbinden. Von den Restriktionen wurden das Wirtschaftsleben weitestgehend und der Bildungsbereich ausgenommen. Die Maßnahmen sind sorgfältig durchdacht und begründet, und sie halten auch einer rechtlichen Prüfung stand.
Bei mehr als 170 Anträgen im einstweiligen Rechtsschutz gegen die Coronaschutzverordnung hat das Oberverwaltungsgericht nur in einem einzigen Fall die Regelung der Verordnung in Nordrhein-Westfalen aufgehoben. Das ist ein Zeichen, dass die Landesregierung und das MAGS auch in der Lage sind, rechtssichere Coronaschutzverordnungen zu erlassen.
Die finanziellen Folgen der Krise sind für die Beschäftigten unterschiedlich. Viele müssen keine Geldeinbußen beim Gehalt hinnehmen. Als Arbeitsminister habe ich die im Blick, die coronabedingt weniger im Geldbeutel haben als zuvor durch ihre Arbeit. Die Arbeitslosigkeit ist durch die Maßnahmen gegen Corona gestiegen. 756.000 Arbeitslose im Oktober 2020 sind knapp 21 % mehr als im Jahr davor.
Der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung für Arbeitssuchende sichert die Existenz vieler Betroffener. Kurzarbeit ist für viele Unternehmen und für viele Beschäftigte ein vernünftiger und solider Rettungsanker. Ich bin froh, dass unsere Sozialversicherungen funktionieren. Wie wertvoll sie sind, sehen wir mit Blick auf die Soloselbstständigen. Sie genießen keinen Schutz durch die Sozialversicherungen und sind deshalb ausschließlich auf Rettungsprogramme von Nordrhein-Westfalen und dem Bund angewiesen.
Auch die berufliche Bildung behalten wir im Auge. Der Ausbildungskonsens NRW hat ein Konzept verabschiedet, wie die Partner den Ausbildungsmarkt in Coronazeiten gezielt stärken können. Er umfasst unter anderem natürlich auch Förderprogramme; wir werden im Januar darüber reden, in welchem Umfang und in welchen Regionen wir sie einsetzen. Dafür hat das MAGS eine Vorsorge von rund 25 Millionen Euro getroffen.
Bisher wurden in 2020 mehr als 83.000 neue Lehrverträge beschlossen, davon alleine in den letzten drei Monaten über 40.000. An dieser Stelle möchte ich sagen: Weil wir vom Frühjahr bis zum Sommer Monate verloren haben, in denen die Schulen nicht geöffnet hatten, und das System des Übergangs Schule/Beruf deswegen nicht funktioniert hat, haben wir jetzt noch viele freie Lehrstellen, die mit passenden Bewerberinnen und Bewerben besetzt werden müssen. Deswegen bin ich auch den Kammern sehr dankbar, dass alle die, die bis Ende Januar nächsten Jahres eine Ausbildung anfangen, zum ersten Lehrjahr gehören und keine Zeit verlieren. Ich möchte mich bei all denjenigen bedanken, die sich zurzeit sehr darum kümmern, dass möglichst viele Ausbildungsverträge noch in diesem Coronajahr zustande kommen.
Derzeit bereitet sich das MAGS auf den Einsatz eines hoffentlich bald zu erwartenden Impfstoffes vor.
Bund und Länder haben letzte Woche ein gemeinsames Vorgehen vereinbart. Der Bund beschafft die Impfstoffe, die Länder kaufen Impfzubehör und verantworten die Verimpfungsorganisation. Das MAGS steht damit vor einer gewaltigen Aufgabe, Strukturen für eine baldige Impfung der Bevölkerung aufzubauen. Hierbei gilt für mich folgender Grundsatz: Die Menge des verfügbaren Impfstoffes soll das Tempo bestimmen, weil die Struktur jederzeit einsatzbereit sein wird.
Wir sind derzeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung, den kommunalen Spitzenverbänden und den Krankenhäusern dabei, diese Strukturen zu planen, und selbstverständlich werden wir auch den zuständigen Ausschuss des Landtages nicht nur ständig informieren, sondern auch mit seinen Überlegungen beteiligen.
Diese Krise ist – so sagen manche – eine Naturkatastrophe. Aber ich finde, es ist keine Naturkatastrophe, der wir hilflos gegenüberstehen. Jeder kann etwas tun, man kann durch richtiges Verhalten die Verbreitung des Virus bremsen. Ich glaube, dass unstreitig ist, dass Deutschland und Nordrhein-Westfalen im Vergleich zu vielen anderen Regionen – auch in Europa – bis jetzt ziemlich gut durch die Krise gekommen sind. Ich finde, das haben wir gesellschaftlichen Kraftanstrengungen seit Ende Februar zu verdanken.
Wir profitieren dabei – so denke ich – von dem vitalen Bürgersinn, der unser Land prägt. Natürlich gibt es viele, die die Maßnahmen für überzogen halten, aber ich bekomme auch viele Briefe von Menschen, die sich dafür bedanken, dass die Landesregierung konsequent handelt und den Schutz der Menschen an erste Stelle setzt und dass es darüber auch hier im Landtag ein fraktionsübergreifendes Einvernehmen unter den demokratischen Fraktionen gibt.
Viele sehen die Notwendigkeit der Einschränkungen ein. Die Solidarität zwischen vulnerablen und nicht vulnerablen Menschen in unserem Land ist ein Pfund, mit dem wir in dieser Krise wuchern können. Ich glaube sowieso, dass die Grundsätze der christlichen Soziallehre, Eigenverantwortung und Solidarität, jetzt das Gebot der Stunde sind. Jeder muss für sich selber Eigenverantwortung tragen, sich eben nicht zu infizieren, sich so zu verhalten, dass er auch andere Menschen nicht infiziert.
Allerdings müssen wir auch von unseren Mitmenschen die Solidarität erwarten können, dass sie sich in dieser Frage genauso verhalten. Natürlich gehört zur Bekämpfung einer solchen Pandemie auch die Solidarität der Gesunden, auf Kontakte zu verzichten, damit auch die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen durch diese Krise kommen.
Zu dieser Krise gehört nach meiner Meinung auch, dass diejenigen – und damit meine ich auch alle, die hier im Saal sitzen –, auf deren Konten am Monatsende genauso viel Geld fließt wie vor der Krise, Solidarität üben müssen mit denjenigen, bei denen das nicht so ist und die besonders unter diesen Maßnahmen, die wir für die Bekämpfung des Virus und den Schutz der Bevölkerung erlassen haben, leiden müssen.
Deswegen finde ich, dass die Leistungen, die hier etwa über die Arbeitslosenversicherung zur Verfügung gestellt werden, die Leistungen, die zusätzlich über die Grundsicherung zur Verfügung gestellt werden, aber auch die enormen Kraftanstrengungen, die über die Haushalte von Bund und Ländern gestemmt werden, sprich über die Steuerzahler, ein wichtiges Zeichen der Solidarität sind, dass wir diejenigen, die besonders unter den Maßnahmen leiden, schlicht und ergreifend nicht im Stich lassen.