Protokoll der Sitzung vom 26.06.2019

In dieser Wahlperiode beschäftigt sich die Enquetekommission „Subsidiarität und Partizipation“ mit diesem Thema. Auch hierbei geht es unter anderem um direktdemokratische Verfahren.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie der Gesetzentwurf der AfD einzuordnen ist. Neu ist das Thema jedenfalls nicht. Neu ist aber, dass die Forderung nach mehr direkter Demokratie nicht von eher progressiven Parteien erhoben wird, sondern nun von rechts propagiert wird.

Wir haben es schon gehört: Die AfD tut dies auf allen Politikebenen. Offensichtlich ist ihr dieses Thema sehr wichtig, doch die Problembeschreibung im Gesetzentwurf liefert dazu nur wenig Hintergrundwissen. Bezug genommen wird auf die Weimarer Erfahrung, das Misstrauen gegenüber dem Volk und auf die Schweiz als großes Vorbild.

Nun wissen wir, dass die Weimarer Republik nicht an Volksentscheiden zugrunde gegangen ist – übrigens auch nicht an der SPD, wie Herr Seiffen unlängst weismachen wollte –, sondern an den linken und rechten Feinden der Demokratie, darunter die deutschnationalen und rechtsextremistischen Vorläufer der heutigen AfD.

(Beifall von der SPD – Lachen von Alexander Langguth [fraktionslos] – Alexander Langguth [fraktionslos]: Unverschämtheit! Das ist eine Unverschämtheit von Ihnen!)

Insofern waren die Vorbehalte gegenüber der direkten Demokratie eine Fehlinterpretation, die spätestens seit der partizipatorischen Revolution der späten 60er-Jahre der Vergangenheit angehörte.

Um dem direktdemokratischen Verständnis der AfD auf die Spur zu kommen, hilft ein Blick in das Grundsatzprogramm der AfD. Darin heißt es zur Forderung nach Volksentscheiden in Anlehnung an das Schweizer Vorbild – Zitat –:

„Die Schweizer Erfahrung belegt, dass sich die Bürger gemeinwohlorientierter verhalten als Berufspolitiker, selbst wenn Eigeninteressen damit kollidieren. Macht- und interessengetriebene Entscheidungen sind eher in rein repräsentativen Demokratien zu beobachten.“

Drei Punkte fallen auf: die Konfrontation von Bürgern und Berufspolitikern, der Bezug zum Gemeinwohl und die antipluralistische Sichtweise. Mein Kollege, der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker, hat dies prägnant zusammengefasst – Zitat –:

„Für den Rechtspopulismus ergibt sich die Forderung nach mehr direkter Demokratie folgerichtig aus der Kritik am gesellschaftlichen und politischen Establishment, die sein eigentliches Wesensmerkmal darstellt, gepaart mit der letztlich anmaßenden Behauptung, man selbst würde den ‚wahren‘ Willen des Volkes vertreten.“

Zitat Ende.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Das Eintreten für direkte Demokratie ist nicht mit Rechtspopulismus gleichzusetzen. Aber umgekehrt ist das spezifische Verständnis von direkter Demokratie konstitutiv für den Rechtspopulismus.

(Zuruf von der AfD: Da bin ich ja beruhigt!)

Dass das Schweizer Modell überhaupt nicht mit den Vorstellungen der AfD kompatibel ist – wen stört‘s, wenn man ohnehin nicht an Fakten interessiert ist!

(Beifall von Sven Wolf [SPD])

In der Schweiz gibt es zwar eine ausgeprägte Referendumsdemokratie, also obligatorische Abstimmungen über Verfassungsänderungen und fakultative über Bundesgesetze, aber nur sehr eingeschränkte, von unten ausgelöste Verfahren, also echte Volksinitiativen. Die Schweizer können keine einfachen Gesetze, sondern nur Verfassungsänderungen begehren und haben damit weniger direktdemokratische Einflussmöglichkeiten als die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen.

Zudem funktioniert die direkte Demokratie in der Schweiz vor dem Hintergrund eines Konsens- und Konkordanzsystems, bei dem alle wichtigen Parteien in die Regierung integriert sind und somit das Volk selbst das Oppositionsrecht über direktdemokratische Verfahren ausübt und für das notwendige Gegengewicht sorgt.

Deutschland aber wird vom Wettbewerbsmodell des parlamentarischen Systems mit Regierung und Op

position geprägt. Direkte Demokratie ist nur in bestimmten Grenzen mit diesem Konkurrenzmodell vereinbar. Die Schweiz bleibt also ein Sonderfall in Europa, deren institutionelle Merkmale sich nicht ohne Weiteres auf Deutschland oder NordrheinWestfalen übertragen lassen – es sei denn, die AfD will ein anderes politisches System, in dem die Kompetenzen der Parlamente reduziert werden und direktdemokratische Verfahren den – in Anführungszeichen – „wahren“ Willen des Volkes zum Ausdruck bringen.

Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf die ausgewählten Vorschläge im Gesetzentwurf der AfD. Großen Wert legt sie auf die Zusammenlegung von Volksentscheiden mit landesweiten Wahlen, um auf diese Weise die Beteiligung an der direkten Demokratie zu erhöhen. Damit wird eingeräumt, dass die Beteiligung an den meisten Volksabstimmungen hinter der Beteiligung an Wahlen zurückbleibt.

Nun sollen also Wahlen als Instrumente repräsentativer Demokratie die Defizite direkter Demokratie heilen. Dabei werden zeitliche Verzögerungen und eine Überlagerung von Sachentscheidungen durch parteipolitisch geprägte Wahlkämpfe in Kauf genommen. Auch das Problem der sozialen Selektivität der Partizipation wird nicht gemildert.

In Verbindung mit der terminlichen Zusammenlegung steht auch die Absicht der AfD, die Unterstützungs- und Abstimmungsquoren zu senken. Bei Volksinitiativen soll das Quorum nur noch 0,25 % statt 0,5 % der Stimmberechtigten betragen, bei Volksbegehren 3 % statt 8 %. Fallen Volksentscheidungen mit Wahlen zusammen, sollen gar keine Abstimmungsquoren mehr gelten.

Hier ist zu beachten, dass niedrige Eingangsquoren gut organisierte Mehrheiten mit partikularen Interessen begünstigen. Umso wichtiger ist ein ausreichendes Beteiligungsquorum bei Volksabstimmungen. Darüber haben wir auch schon in der Verfassungskommission diskutiert.

Ein weiterer Diskussionspunkt ist der Negativkatalog, mit dem bisher Finanzfragen, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen von Volksbegehren ausgeschlossen wurden. Diese thematischen Beschränkungen sollen nach dem Willen der AfD komplett aufgehoben werden. Zumindest hinsichtlich des Haushaltsgesetzes kollidiert hier das Königsrecht des Parlaments mit der Volksgesetzgebung. Das gilt insbesondere, wenn das Parlament für die Deckung von Ausgaben verantwortlich sein soll, die durch direktdemokratische Entscheidungen verursacht werden.

Über die bisherigen Formen hinaus möchte die AfD die Möglichkeiten direkter Demokratie massiv ausweiten. Dazu gehören fakultative Referenden zu einfachgesetzlichen Regelungen, obligatorische Referenden zu Verfassungsänderungen und die Auflösung des Landtags durch Volksentscheid. Letzteres

soll durch ein Begehren von mindestens 5 % der Stimmberechtigten eingeleitet werden können. Damit würde die bisherige Balance zwischen direktdemokratischen Verfahren und parlamentarischem System in Nordrhein-Westfalen verschoben werden.

Darüber und über die weiteren Punkte im Gesetzentwurf der AfD sollte in den Ausschüssen sehr sorgfältig beraten werden. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Bovermann. – Herr Bovermann hat mir signalisiert, er habe gesehen, dass eine Kurzintervention angemeldet wurde. Er wird sie aber von seinem Platz aus beantworten. Die Kurzintervention hat Herr Seifen von der AfD-Fraktion angemeldet. Das Mikro ist jetzt freigeschaltet.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Professor Bovermann, ich bin von Ihren Ausführungen ein bisschen enttäuscht; denn dieser Gesetzentwurf hätten Ihnen auch die Gelegenheit gegeben, hier tatsächlich über die Substanz von Demokratie zu sprechen.

Stattdessen watschen Sie unseren Gesetzentwurf einfach ab und machen auch noch einen Schlenker zum Nationalsozialismus. Darauf will ich gar nicht antworten, weil es jetzt nicht sehr hilfreich wäre, darüber zu diskutieren. Wir haben doch die Debatte heute Morgen erlebt. Herr Reul hat meiner Ansicht nach zu Recht auf Folgendes hingewiesen: Wir verstehen den Hass in der Bevölkerung nicht.

Erstens. Das ist zu verurteilen. Es gibt Leute, die selbst dafür verantwortlich sind.

Zweitens ist es aber so: Wenn man einem Gemeinwesen – von der Fußballmannschaft bis hin zu einem Land – vorsteht und entdeckt, dass sich in dieser Gruppierung Hass entwickelt, muss man doch überlegen, woran das liegt. Es könnte auch daran liegen, dass viele Entscheidungen der Politiker nicht mit der Meinung der Bevölkerung in Einklang zu bringen sind.

Das sehen Sie doch auch an den Wahlergebnissen – ich sage das jetzt wirklich ohne Häme –: SPD und CDU sind abgerutscht. Ich bin schon ein wenig älter und weiß, dass beide Parteien einst bei 40 % plus waren. Ich kapiere nicht, dass man sich in diesen Parteien nicht Gedanken darüber macht, woran das liegt. Das kann doch nicht nur – verdorri noch ma! – an dieser bösen Bevölkerung liegen.

Insofern ist dieser Gesetzentwurf nicht irgendwie ein Showantrag, sondern er soll dazu verhelfen, der Bevölkerung Mitsprache zu geben, damit sie sich wieder angenommen fühlt und entscheiden kann.

(Beifall von der AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege Seifen. – Herr Kollege Bovermann hat sich ebenfalls eingedrückt, sodass ich ihm jetzt das Mikrofon freischalten kann.

Danke, Frau Präsidentin. – Herr Seifen, Sie sind wieder einmal von einer Rede enttäuscht, die ich gehalten habe. Also muss ich wieder etwas richtig gemacht haben. Vielen Dank!

Aber nun zum Inhalt: Ich streite gar nicht ab, dass es in der repräsentativen Demokratie Probleme gibt. Sie haben meiner Rede sicherlich aufmerksam zugehört. In ihr habe ich durchaus benannt, dass wir Demokratiedefizite, Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit haben. Ich glaube, es wäre völlig falsch, wenn die Parteien das nicht zur Kenntnis nehmen würden.

Die Frage ist aber, welche Lösungen es dafür gibt. Da ist für mich die direkte Demokratie eine mögliche Lösung, aber nicht das Allheilmittel. Wir werden auch mit direkter Demokratie nicht alle Probleme der repräsentativen Demokratie lösen können. Ich sehe auch, dass Sie mir da zustimmen. Also geht es darum, das richtige Maß zwischen direkter Demokratie auf der einen Seite und repräsentativer Demokratie auf der anderen Seite zu finden.

Ich habe mir Ihren Gesetzentwurf sehr genau angesehen. In ihm werden sehr weitgehende Vorstellungen vertreten, die nicht die Vorstellungen meiner Fraktion sind. Ich führe das – das habe ich, glaube ich, auch analytisch belegen können – darauf zurück, dass Sie ein anderes Demokratieverständnis als wir verfolgen. Das ist der eigentliche Hintergrund. Herr Tritschler hat eine sehr weichgespülte, sachorientierte Rede gehalten. Dahinter aber stehen Überlegungen der AfD, die mit unseren Vorstellungen nicht kompatibel sind.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Bovermann. – Jetzt fahren wir in der Rednerreihenfolge fort. Für die FDP-Fraktion hat Frau Kollege Freimuth das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf sieht eine weitreichende Veränderung unserer demokratischen

Verfasstheit vor. Das ist sicherlich bei Antragstellern, deren Partei zum Beispiel die Abschaffung des Europäischen Parlaments fordert, nicht wirklich fürchterlich überraschend.

Man mag über die einzelnen Forderungen und Positionen zum Ausbau plebiszitärer Elemente im weiteren Beratungsverfahren diskutieren. Der Antrag soll ja an die Fachausschüsse überwiesen werden.

Herr Kollege Bovermann hat schon dargestellt, dass bislang das Ergebnis der Debatten in der Verfassungskommission oder auch im Parlament mit guten und nachvollziehbaren Argumenten das grundsätzliche Bekenntnis zur repräsentativen und parlamentarischen Demokratie war.

Die Kollegen insgesamt und hier insbesondere Kollege Bovermann haben viel Zutreffendes angemerkt. Ich will aber klar sagen, dass ich die in dem Gesetzentwurf formulierte Unterstellung, die Beibehaltung der parlamentarischen repräsentativen Demokratie sei Ausdruck des Misstrauens gegen das Volk, gegen den Souverän, in aller Deutlichkeit als unzutreffend zurückweisen muss.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Die repräsentative Form der Willensbildung hat unbestrittene Vorteile auf einem strukturierten Weg zu einer vernunftbasierten Entscheidungsfindung. Wir wissen, dass ein Gesetzgebungsverfahren ein intensiver Prozess ist und dass das Ringen um die beste Lösung für bestehende Probleme bei zunehmender Komplexität von Sachverhalten unter Einbeziehung von Sachverständigen ein Abwägen unterschiedlicher Argumente und oft einen Kompromiss verlangt.

Beim Plebiszit verbleibt letztlich nur die Möglichkeit „Ja oder Nein“. Ich habe bei einer Vielzahl von Sachverhalten Zweifel, ob plebiszitäre Entscheidungsfindungen hier zu besseren Ergebnissen führen. Das Stichwort „Brexit-Abstimmung“ ist gerade schon genannt worden. Das ist mit Sicherheit eines der markantesten Beispiele, wo eine alleinige Abstimmung mit Ja oder Nein nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen führt.