Genau deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Wir wollen daran erinnern, und wir wollen danken. Deshalb werden wir uns gleich auch nicht über die Forderungen im Entschließungsantrag der Regierungskoalitionen streiten. Nein, wir erinnern und danken heute, am 9. Oktober 2019, den Menschen, die den Mut hatten, sich der bewaffneten Staatsmacht entgegenzustellen, die den Mut hatten, zu Hunderttausenden für ein freies Leben in einer Demokratie auf die Straße zu gehen. In unseren Dank schließen wir ausdrücklich unsere Nachbarn in Osteuropa ein.
in der DDR großes und bitteres Unrecht erlitten haben, diejenigen, die als Regimekritiker galten und verhaftet wurden, diejenigen, denen alle beruflichen Ausbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten genommen wurden, diejenigen, die bespitzelt und denunziert wurden, diejenigen, die als Familienmitglieder in Sippenhaft genommen wurden, diejenigen, die nicht nur ihrer Freiheit, sondern auch ihres Lebens beraubt wurden.
Und wir erinnern an die vielen Heimkinder und das Schreckliche, das ihnen widerfahren ist. Vor allem erinnern wir an diejenigen, denen ihre Kinder weggenommen und gegen ihren Willen zur Adoption freigegeben wurden. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen, warten noch Aufgaben auf uns. Da gilt es hin- und nicht wegzuschauen.
Die Erinnerung an die Teilung, den Mauerbau, den Kalten Krieg, das Unrecht, die Unfreiheit, die Mauer- und Fluchttoten und vor allem an das Ende der DDR ist noch frisch. Zeitzeugen gibt es zu Hundertausenden. Deshalb ist es gut und richtig – das gehört zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert –, die Auseinandersetzung mit der deutschen Teilung und ihrem Ende noch stärker in unsere Bildungsarbeit aufzunehmen und dort zu verankern. Es ist unsere Pflicht, bestehende Wissensdefizite zu beheben. Auch das wollen wir mit unserem Antrag erreichen.
Vor allem ist es unsere Verpflichtung, die gesamteuropäische Dimension der Ereignisse, die zur Überwindung des Kalten Krieges und zur deutschen Wiedervereinigung geführt haben, stärker in den Blick zu nehmen.
Letztlich geht es um den untrennbaren Zusammenhang zwischen Freiheit und Demokratie, und zwar nicht nur im Erinnern an die Jahre 1989 und 1990, sondern auch mit Blick auf das Hier und Heute.
Am 9. Oktober 2019 geht es zugleich um das, was heute geschieht: auf den Straßen, in den Sälen, in den Schulen, in den Parlamenten. Es geht darum, die Demokratie zu verteidigen – eine Demokratie, die nicht von allein gekommen ist und nicht automatisch für alle Ewigkeiten bleibt. Es geht darum, das rechtspopulistische, die Demokratie und unsere Gesellschaft gefährdende Entwicklungen deutlich zu benennen und ihnen gemeinsam entschieden entgegenzutreten.
Das entschiedene Entgegentreten sind wir den mutigen Menschen des Jahres 1989 schuldig. Das sind wir aber auch unseren Kindern und Enkelkindern schuldig.
Den mutigen Menschen der Jahre 1989 und 1990 sind wir zur größten Dankbarkeit verpflichtet. Sie sind es, denen wir den Zusammenbruch des Systems
DDR, das Ende des Unrechtsregimes, den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung zu verdanken haben – Menschen, die im Unterschied zu vielen, die es heute skandieren, völlig zu Recht sagen durften und sagen dürfen: „Wir sind das Volk.“ Der mutige und zugleich Mut machende Ruf „Wir sind das Volk“ war und bleibt nämlich die Forderung nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Jeder, der heute „Wir sind das Volk“ skandiert und dabei gleichzeitig den Hitlergruß zeigt, Galgen für Politiker mitführt, von einer tausendjährigen Zukunft redet, antisemitische Parolen brüllt, Migranten als Parasiten und Schmarotzer bezeichnet, in parlamentarischen Debatten das populistische Muster „Wir, das Volk, gegen euch, die etablierten Eliten“ bedient, um extrem rechtsnationales Gedankengut zu verbreiten, Ängste zu schüren und Stimmung zu machen, der missbraucht diese Botschaft der friedlichen Revolution.
Wer das tut, missbraucht bewusst und in voller Absicht, und das ist populistisch. Aber das, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir nicht hinnehmen; das lassen wir nicht zu. Dazu sagen wir gemeinsam entschieden Nein.
Die friedliche Revolution des Jahres 1989 und der Fall der Mauer sind für alle Zeiten unsere Verpflichtung, für Demokratie, Menschlichkeit und Freiheit einzutreten – Werte, die weder an den Grenzen unseres Landes haltmachen noch an der Hautfarbe von Menschen festzumachen sind.
Die friedliche Revolution des Jahres 1989, der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung sind unsere Verpflichtung, für Frieden und Freiheit, für ein gemeinsames Europa, für soziale Gerechtigkeit und schlichtweg für mehr Menschlichkeit einzustehen und aufzustehen.
3. Oktober und kurz vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November durch die friedliche Revolution bin ich froh, dass wir heute über dieses Thema in diesem Hohen Haus debattieren.
Hierzu möchte ich Ihnen eine höchstpersönliche Geschichte erzählen. Meine Familie väterlicherseits kommt gebürtig aus dem alten Ostpreußen. Sie ist geflüchtet vor den Russen und hat sich in der DDR eine neue Existenz aufgebaut, in der Nähe von Rostock, wo mein Vater geboren worden ist.
Meine Großmutter hat dort mit ihren Schwiegereltern auf einem Kotten gelebt, hat die Schwiegereltern mitversorgt, hatte drei kleine Kinder. Sie mussten, wie es damals in dem Arbeiter- und Bauernstaat üblich war, alles, was sie produzierten, an die Städte abgeben.
Doch das ganze System mit der Beaufsichtigung der Kinder, das wohlfeil ausgedacht war, funktionierte nicht. Daraufhin hat sie damals einen Brief an Walter Ulbricht geschrieben. Kurz danach stand die Stasi bei ihr auf dem Kotten. Sie sind einfach, wie man bei uns im Sauerland sagen würde, in die Diele reinmarschiert. Meine Oma hat sie dann resolut wieder rausgeschickt und gesagt: Klopfen Sie an! Dann lasse ich Sie herein, und Sie können Ihr Anliegen vortragen. – Vielleicht können Sie sich die Bilder vorstellen, wie es damals war, als ein Stasimann mit schwarzem Lodenmantel bei meiner Oma in der Diele stand.
Daraufhin ist meine Oma 1957 mit ihren drei Kindern – sie war schwanger mit meiner jüngsten Tante – über die damals noch offene Grenze in Berlin geflüchtet. Meinen Opa hat sie zurückgelassen. Er ist dann im Stasiknast in Rostock eingebuchtet worden. Nach kurzer Zeit hat er ihn wieder verlassen dürfen und ist meiner Oma nachgefolgt.
Damit möchte ich sagen: Das, was in den letzten Tagen immer mal wieder in der Presse gestanden hat – meine persönliche Familiengeschichte hat mich bis heute geprägt, das treibt mich politisch bis zum heutigen Tage an –, möchte ich auf deutschem Boden nicht noch einmal erleben.
Die DDR war ein Unrechtsstaat, und wer etwas anderes behauptet … Das ist das, was wir als Demokraten – Kollegin Gödecke hat es gerade in etwas anderen Worten erwähnt – verhindern möchten.
90.000 hauptamtliche Mitarbeiter, 190.000 inoffizielle Mitarbeiter, Personen der Staatsführung und der SED – alle haben davon gewusst, alle sind mitschuldig.
Das Privatleben wurde ausspioniert. Wenn das kein Unrecht ist, dann weiß ich auch nicht, was es ist.
Zwangsadoptionen, 250.000 politische Gegner einfach weggesperrt – wenn das kein Unrecht ist, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Stasi, Stacheldraht, Schießbefehl – all das ist Unrecht, und all das hat sich in der DDR zugetragen.
Ich möchte hervorheben: Es war nicht die Bevölkerung. Nein, es war die DDR. Der Staat DDR war ein Unrechtsstaat.
Ich möchte ganz bewusst dazu sagen: Wenn das von Linken oder der SPD abgemildert wird, dann ist das ein Schlag ins Gesicht der Opfer.
Wer das Ganze noch weiter relativiert, noch weiter aushöhlt, dem empfehle ich einen Besuch in der Stasizentrale in der Normannenstraße in Berlin, im Stasiknast in Hohenschönhausen oder am Grenzübergang Bernauer Straße.
Ich möchte noch einmal besonders betonen: Ich möchte niemals wieder solch einen Unrechtsstaat auf deutschem Boden haben.
Herr Kollege Voge, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Zimkeit von der SPD-Fraktion?
Herr Kollege, ich teile vollkommen Ihre Bewertung zur DDR. Da Sie aber jetzt parteipolitische Fragen in die Debatte eingefügt haben, möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie auch noch eine Bewertung der Rolle der Ost-CDU in diesem Unrechtsregime vornehmen möchten?
Herr Kollege Zimkeit, ich habe überlegt, wie ich darauf antworte, und habe ein schönes Zitat Ihres ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden gefunden. Er sagte:
„Nicht jeder Unrechtsstaat ist zwangsläufig eine Diktatur. Aber jede Diktatur ist immer zugleich ein Unrechtsstaat.“
(Beifall von der CDU, der FDP und Alexander Langguth [fraktionslos] – Stefan Zimkeit [SPD]: Das ist keine Antwort auf die Frage! – Zuruf von der SPD: Traurig ist das!)