Protokoll der Sitzung vom 11.03.2020

Zudem kann – zumindest gefühlt – aufgrund der unglaublichen Dynamik der Geschehnisse während einer längeren Diskussion am Ende schon wieder das obsolet sein, was zu Beginn noch berechtigt festgestellt wurde.

Nichtsdestotrotz danke ich an dieser Stelle zunächst dem Minister für seinen Bericht und den Versuch, einen Überblick über die aktuelle Lage zu geben. Schließlich ist das Interesse der Öffentlichkeit an den aktuellen Ereignissen und auch an den Reaktionen aus der Politik groß. Nicht zuletzt herrscht auch – das haben wir in den letzten Tagen und Wochen alle in verschiedenen Intensitäten beobachten können – eine sehr große Verunsicherung in der Bevölkerung.

Wenn man das Thema „COVID-19“ anspricht, macht man auch immer einen Spagat zwischen der berechtigten Vorsicht und der nötigen Krisenplanung – schließlich möchte man auch immer für den denkbar schlimmsten Fall gerüstet sein – sowie der dringenden Vermeidung von Panik in einer zwar ernsten, aber so überhaupt nicht einzigartigen Lage.

Also, worüber reden wir hier heute eigentlich? – Das Coronavirus, das für den aktuellen Krankheitsausbruch verantwortlich ist, ist ein mutierter Verwandter der Viren, die uns auch schon mit SARS, MERS und anderen kleineren lokalen Ausbrüchen begegnet sind.

Dieses Mal ist es allerdings nicht gelungen, das Virus lokal einzudämmen. Ob das nun an der besonderen Kontagiosität des Erregers liegt, kann aktuell nicht einmal abschließend oder mit Sicherheit gesagt werden, sodass wir nun eine fast globale Ausbreitung des Virus beobachten. Im Prinzip ist es eigentlich nichts anderes als das, was wir es jedes Jahr mit der Grippe und den damit von der Öffentlichkeit weitgehend wenig beachteten Zehntausenden Toten allein in der Europäischen Union erleben.

Warum behandeln wir nun also das Coronavirus anders als eine gewöhnliche Grippe, und warum werden aktuell so dramatische Maßnahmen getroffen, dass sich ganze Länder von der Außenwelt abriegeln?

Das liegt zum einen daran, dass die Politik oft einer Dynamik unterliegt, die, einmal angestoßen, ihren eigenen Lauf nimmt, zum anderen, weil wir, anders als bei einer Grippe, aktuell noch kein einziges wirksames Medikament gegen das neue Coronavirus kennen, sodass die Eindämmung, die Risikominimierung und die Reduktion der Übertragungswege unsere einzigen Waffen sind.

Wenn wir uns also als Gesamtgesellschaft vielen, auch persönlichen Entbehrungen hingeben, wie der Einschränkung der Reisefreiheit bis hin zur Quarantäne, und wirtschaftliche Konsequenzen in Kauf nehmen, dann tun wir das für die 20 % in unserer Bevölkerung, für die eine Infektion mit dem Virus schwere bis lebensbedrohliche Folgen haben kann.

Ich gebe dabei zu bedenken, dass auch diese Zahlen immer mit einer gewissen Vorsicht und Unsicherheit zu verstehen sind, denn immerhin gibt es bereits drei Studien zur Schätzung der Untererfassung der Infektion. In diesen Studien geht man davon aus, dass es 10- bis 20-mal mehr Infektionen gibt als die, die überhaupt erfasst werden. Denn die allermeisten, die nur sehr leicht erkrankt sind, werden vielleicht gar nicht offiziell im System erscheinen oder einen Arzt aufsuchen bzw. in besonders betroffenen Gebieten stehen erkrankten Menschen vielleicht gar kein Arzt zur Verfügung.

Realistisch und zuverlässig können zu diesem Zeitpunkt also keine Einschätzungen zur tatsächlichen Schwere der Erkrankung bzw. deren Letalität getroffen werden, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Gefährlichkeit des Erregers aktuell sogar eher überschätzt. Und trotzdem: Egal, ob die Letalität nun bei 0,1 % wie bei einer normalen Grippe oder bei 3 %

liegt, wie es teilweise in Italien der Fall ist: Für denjenigen, der stirbt, sind diese Zahlenspiele am Ende völlig irrelevant.

Das Sozialste, was wir aktuell machen können, auch wenn wir uns persönlich keine großen Gedanken über Viren oder die Coronapanik machen, weil wir uns ziemlich sicher sind, dass wir auch das überstehen werden, ist, uns trotzdem öfter und gründlicher als sonst die Hände zu waschen, unser Handy und den Schreibtisch zu desinfizieren und uns aktuell lieber aus der Ferne zu grüßen, statt jedem die Hand zu geben. Denn vielleicht sind es die eigenen Eltern, Bekannte oder auch der unbekannte Dritte, den wir vor schlimmeren Komplikationen schützen können.

Verlassen wir nun die persönliche Ebene, also das, was jeder Einzelne tun kann oder sollte, und diskutieren wir, was die Politik aktuell tun kann und sollte, wird es nicht weniger kompliziert. Wie viel muss die Politik zum Schutz der Alten und Vorerkrankten tun?

Klar ist, dass, wenn wir die Ausbreitung eines Virus verhindern wollen, der nach aktuellem Kenntnisstand bis zu sechs Tage auf Oberflächen überleben kann, der womöglich schon in den ersten 14 Tagen der Inkubationszeit ansteckend ist, also noch bevor ein Patient überhaupt Symptome wie Fieber oder Ähnliches zeigt, das wohl nur mit zunehmend drastischen Mitteln möglich sein wird und nicht alle davon populär sein werden, weil sie zum Teil erheblich in die Freiheitsrechte der Menschen eingreifen und viele Branchen in ihren Geschäften nicht weniger erheblich bedrohen.

Denken wir nur an Messebetreiber, Konzertveranstalter oder Airlines. Das ist nur die Spitze des Eisberges. Jede Firma, die ihre Mitarbeiter in die Quarantäne schickt, um weitere Infektionen zu unterbinden, ist einem wirtschaftlichen Schaden ausgesetzt, und jeder Schritt, mit dem man zuerst gezögert hat, um die Wirtschaft vielleicht nicht unnötig zu belasten, kann hinterher doppelt und dreifach bezahlt werden.

Gleichzeitig möchte natürlich auch niemand Panik schüren und die Menschen unnötig verunsichern und größere Einschnitte vornehmen, als am Ende nötig gewesen wären. Es ist keine einfache Situation, erst recht nicht, wenn man über diese Schritte entscheiden muss.

Klar ist aber auch: Ein Wegducken, wie wir es in den letzten Wochen zum Beispiel von der Kanzlerin erlebt haben, ist in diesem Reaktionsdschungel von Gesundheitsämtern, Fachöffentlichkeit, Boulevard zwischen Beunruhigung und Panikmache, zwischen Hamsterkäufen und Sorglosigkeit nicht der richtige Weg. Die Menschen brauchen hier Klarheit und eine deutliche Ansage. Daher finde ich es fahrlässig, dass sie sich nach Wochen mit der Aussage wieder zu Wort meldet – ich zitiere aus der „BILD“-Zeitung von heute Morgen –, dass bis zu 70 % der Menschen erkranken werden.

(Beifall von der AfD)

Die aktuell möglichen Szenarien, wie hart uns das Virus tatsächlich treffen wird, werden selbst in der Fachwelt teils sehr kontrovers diskutiert und auch immer wieder den aktuellen Vorkommnissen und Sicherheitsvorkehrungen angepasst bzw. werden wiederum die Vorkommnisse und Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um sich auf ein gewisses Szenario vorzubereiten.

Again: Das ist keine einfache oder besonders übersichtliche Situation. Dabei gehen die Schätzungen von einigen Tausenden deutlich milderen Verläufen als bei einer normalen Grippewelle bis hin zu einigen Millionen Infizierten erheblich auseinander. Auch hier gilt: Keiner möchte Panik machen, aber man möchte genauso auf alles vorbereitet sein.

Ist es also angebracht, ein ganzes Land wegen eines Schnupfens abzuriegeln? – Wohl eher nicht. Ist es fahrlässig, es nicht zu tun, wenn hinterher 7 Millionen Menschen mit zum Teil schweren Krankheitsverläufen gegebenenfalls hätten geschützt werden können?

So reagiert Italien so, Deutschland so, obwohl hier der Verlauf der Erkrankung dem in Italien erschreckend ähnelt. Nur hinken wir sieben Tage hinterher. Oder anders: Italien befand sich mit der Anzahl der Infizierten vor sieben Tagen in etwa da, wo wir uns heute befinden.

Reagiert also Italien über? – Möglich. Reagiert Deutschland zu wenig? – Genauso möglich. Wahrscheinlich werden wir es erst hinterher wissen.

So oder so: Die Lage ist ernst, aber aktuell weit davon entfernt, aus dem Ruder zu laufen.

Und auch das muss man sehen: Dies könnte die erste Pandemie in der Menschheitsgeschichte sein, die wir aktiv als Menschheit eindämmen können. Das könnte bei all den Negativschlagzeilen und dramatischen Folgen für Mensch und Wirtschaft am Ende für uns als Gesamtmenschheit einer der größten Gewinne sein.

Das Coronavirus ist nicht besonders infektiös. Da gibt es ganz andere Viren. Es ist auch nicht besonders tödlich. Auch da gibt es genügend Beispiele im Falle der Infektion, die viel ungünstiger für den Menschen sind.

Aber wir können die aktuelle globale Ausbreitung als einen Warnschuss verstehen, als eine aufrüttelnde Chance, unsere Notfallpläne und medizinische Notfallversorgung zu überprüfen.

Denn nicht erst seit diesem Jahr wird in der Fachwelt über die Möglichkeit einer globalen Pandemie und die Kapazität der Menschheit, eine solche überhaupt abzufangen, diskutiert. Können wir nun beweisen, dass wir ein Virus global in den Griff bekommen, dann schauen wir auf die nächste Welle, auf die

nächste Pandemie – und die wird kommen; das hat die Menschheitsgeschichte gezeigt – mit viel größerem Optimismus.

Also auch für den Fall, dass wir in einigen Punkten aktuell mit unserer Vorsicht über das Ziel hinausschießen, können wir dieses Virus aber zumindest so verstehen, dass es unsere Schwachpunkte für einen anderen Erreger gründlich abklopft, damit es nie wieder zu einer Art Spanischen Grippe kommt, die sich in unsere Erinnerung eingebrannt hat.

Ein letzter Punkt – das ist etwas, was mich persönlich umtreibt –: Die aktuelle Krise zeigt, wie anfällig, fragil und verletzlich unser globales Dorf tatsächlich ist.

Bei allen Vorzügen der Globalisierung, dass ich im Winter Erdbeeren für 1,20 Euro im Lidl bekomme – das ist irre für unseren Planeten, aber es ist auch irgendwie irre, dass das die Lieferkette bei verderblichen Waren zu diesem Preis überhaupt ermöglicht –, birgt Komplexität auch ihre Gefahren. Das gilt es, zumindest überhaupt zu sehen. Und auch die Skepsis der Menschen demgegenüber ist berechtigt und kein populistischer Reflex, kein primitiver Wunsch nach einfachen Lösungen, kein Glorifizieren von gestern.

Eine Welt, die so vernetzt ist, dass eine Immobilienblase in den USA mich meinen Job in Deutschland in der Autobranche kosten kann, in der mich ein Virus zu Hause in Heinsberg in Quarantäne bringt, das sich ein Arbeiter aus der chinesischen Provinz zwei Monate zuvor vielleicht bei einer Mittagspause beim Verzehr einer Fledermaussuppe eingefangen hat, oder in der ein Regionalkonflikt im Nahen Osten plötzlich dazu führt, dass man die Turnhalle in Kerpen über Monate sperrt, weil diese nun nicht mehr für das Kinderturnen, sondern als Notschlafstelle genutzt werden muss, führt zwangsläufig zu einem Wunsch nach Kontrolle, nach Selbstbestimmtheit, nach Grenzen, nach weniger Abhängigkeit.

Ich glaube, selten war die Möglichkeit so gut wie heute, genau darüber nachzudenken, über diese Abhängigkeit, in die wir uns mittlerweile begeben haben, in die Abhängigkeit auch von Ländern, die eben nach unseren Maßstäben, die wir in der Bundesrepublik haben, nicht zu den „Netten“ gehören.

Sie ziehen innenpolitische Brandmauern zu politischen Gegnern, die international betrachtet maximal zentristisch argumentieren, und führen gleichzeitig Geschäfte aus mit den größten Diktatoren, Despoten, kommunistischen Regimen und Warlords, die es auf dieser Welt gibt, und bringen uns damit teilweise in Abhängigkeiten.

Beispiel China und Indien: 50 % unserer Medikamente kommen mittlerweile aus diesen zwei Ländern, die sicherlich nach Menschenrechtsstandards für unsere innenpolitischen Spielereien, die Sie hier zum Teil treiben, auf einem ganz anderen Level stehen.

Deswegen müssen wir gerade in dieser Situation darüber nachdenken. Wir haben es gerade ja noch einmal gehört, wie schwierig es manchmal sein kann, dann an lebensnotwendige Dinge zu kommen, an Medikamente. Selbst einfache Centprodukte wie einen Mundschutz gibt es dann plötzlich in Deutschland nicht mehr.

Die Möglichkeit ist jetzt so gut wie nie, auch den Deglobalisierungsgedanken noch einmal neu zu denken, zu denken, ob es für einen Staat nicht wichtig ist, lebensnotwendige Produkte wieder im eigenen Land, zumindest in der Europäischen Union, zu produzieren und uns allen zusammen eine gewisse Gewährleistung zu geben, in diesen Krisensituationen nicht alleine dazustehen, bzw. auch – auch das, finde ich, ist ein attraktiver Gedanke –, Menschenrechtsverletzungen ganz anders kritisieren zu können, wenn Sie sich nicht gleichzeitig in so eine hohe Abhängigkeit von Despoten am Bosporus, von Despoten in China etc. begeben. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Für die Landesregierung spricht der Ministerpräsident.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich allen danken für die weitgehend sachliche Debatte, die dem Ernst der Lage in fast allen Wortbeiträgen gerecht geworden ist. Die Ausbreitung des Coronavirus macht vielen Menschen Angst. Diese Sorgen müssen wir auch als Landtag ernst nehmen. Auch wie wir hier darüber diskutieren, ist Teil der Kommunikation.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Denn darüber wird berichtet.

Deshalb meine ich, dass es wichtig ist, dass Politik und Verwaltung in einer solchen Krise besonnen handeln vor dem Hintergrund des Wissens, das sie an diesem Tag haben.

Wir können ja gerne nach der Krise hier eine Grundsatzdebatte führen: Was hätte man wann machen müssen? Aber mittendrin jetzt darüber zu diskutieren, warum wir nicht am 27. Februar, sondern am 26. Februar etwas gemacht haben, wird dem nicht gerecht.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Herr Kutschaty, wenn Sie wüssten, wie man in solch einer Krise arbeitet: Man spricht zunächst mit vielen Leuten, mit Virologen, mit Fachleuten der Universitätsklinik Düsseldorf, die uns geschrieben hat und mit der wir in Kommunikation getreten sind, der Universitätsklinik Köln und vom Robert Koch-Institut. Das

sind Virologen, die uns sagen können, was uns vielleicht als Nichtvirologen überraschend erscheint: Wie kann sich das entwickeln? Wie wird es sich entwickeln? Was wissen sie? Was wissen sie nicht? Dazu gibt es selbst bei denen unterschiedliche Meinungen und viele Dinge, die sie nicht definitiv sagen können, weil es eine solche Krankheit noch nie gegeben hat.

Das ist das Erste, was Politik machen muss: zuhören, Experten hören, dann abwägen, was die Experten raten, und dann sehen, was bei uns umsetzbar ist von dem, was ein Experte rät.

Das Zweite ist beispielsweise diese Fußballfrage. Wir haben diese Frage natürlich schon am letzten Samstag diskutiert, als Mönchengladbach gegen Borussia Dortmund gespielt hat und viele Fans aus Heinsberg nach Mönchengladbach gekommen sind. Dann hat der Minister mit dem Verein gesprochen. Dann haben wir die Fans und die Fanbeauftragten gefragt, ob wir nicht eine freiwillige Lösung hinkriegen, um dieses eine Mal nicht eine solitäre Entscheidung zu fällen.

Dann hat am Sonntag der Bundesgesundheitsminister auch in Absprache mit uns generell für Deutschland entschieden: 1.000 ist die Maßordnung, die wir jetzt zum Verlangsamen des Prozesses einsetzen sollten. – Uns hat das eingeleuchtet. Wir haben uns am Sonntag verständigt und beschlossen: Wir werden das für Nordrhein-Westfalen umsetzen.