Protokoll der Sitzung vom 24.03.2020

Noch einmal: Weitere, ausgeweitete Tests und Kontaktreduzierungen – das sind zwei wichtige Aufgaben und Ziele, die wir erreichen sollen und die wir erreichen müssen. In diesem Zuge ist und bleibt die Balance von Gesundheit, Vernunft und Freiheit eine extrem schwierige Aufgabe.

Natürlich müssen wir versuchen, den Kollaps, den wir vor Augen haben, zu verhindern. Mit harten und einzigartigen Maßnahmen müssen wir gegensteuern.

Die Rechte des Parlaments – wir erleben es heute – werden erheblich eingeschränkt. Das geht nicht anders. Da gibt es plötzlich ein neues Zusammenspiel zwischen der Koalition und der Opposition in diesem Haus. Alle haben erkannt, dass das notwendig ist. Selbstverständlich sind wir gemeinsam dazu bereit.

Die Bundeswehr kommt vermehrt – wir haben es im Kreis Heinsberg erlebt – zum Einsatz. Kindergärten und Schulen werden geschlossen, genauso wie Geschäfte und Restaurants. Das kulturelle und sportliche Leben in unserem Land, viele Veranstaltungen kommen zum Erliegen.

Unter dem Strich: Die Freiheit wird eingeschränkt.

Für Kinder: Wie ordnen die Kinder das ein? Wie gehen sie damit um? Für uns Erwachsene: Es ist auch für uns eine schwierige Situation, und das womöglich über Wochen oder noch länger.

Freiheit ist wichtig. Über Jahrzehnte hat sich die Freiheit in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland ausgeweitet. Über Jahrhunderte haben sich Menschen auf der Welt für Freiheit eingesetzt – und jetzt plötzlich erhebliche, massive Kontaktbeschränkungen. Wir erleben plötzlich, was vorher selbstverständlich war, wie wertvoll Freiheit tatsächlich ist. Wir denken über Freiheit nach. Auch das haben wir lange nicht getan.

Die Eingriffe in das persönliche Leben und die Freiheit jedes Einzelnen sind notwendig. Es ist keine leichte Entscheidung, sondern es ist eine ernsthafte und schwierige Abwägung, gerade für uns Freie Demokraten, aber natürlich auch für alle anderen Fraktionen in diesem Haus.

Natürlich ist diese Ausnahmesituation befristet. Natürlich ist es auch die Aufgabe insbesondere der FDP, immer wieder zu überprüfen, wie lange die Befristung in Gänze oder im Einzelnen läuft. Wir werden

immer wieder gemeinsam schauen und darauf blicken: Wo gibt es Veränderungen? Wo können wir wieder lockerlassen bei diesen Ausnahmesituationen, damit wir am Ende wieder Normalität erreichen?

Die wirtschaftlichen Sorgen sind enorm – um Wohlstand, um Arbeitsplätze und um Familien. Zu den sozialen Einschränkungen, die ich genannt habe, kommen wirtschaftliche Sorgen hinzu. Die Maßnahmen, die wir besprochen haben und die wir beschließen werden, stellen aber alle betroffenen Branchen vor neue, ungeahnte Herausforderungen.

Die Kurzarbeit nimmt extrem zu. Die Liquiditätsreserven werden erreicht. Es drohen Insolvenzen. Es droht Arbeitslosigkeit. Es drohen unglaublich viele unverschuldete Schicksale. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diese unverschuldeten Schicksale zu vermeiden.

(Beifall von der CDU, der FDP, Josefine Paul [GRÜNE] und Dr. Martin Vincentz [AfD])

Die Landesregierung hat einen Rettungsschirm aufgespannt, den größten in der Geschichte des Landes. Dieses Hilfsprogramm unterstützt und ergänzt die Wirtschaftspakete des Bundes – ein gewaltiges Szenario für eine gewaltige Aufgabe. Im Einzelnen wird gleich mein Kollege Ralf Witzel in der Haushaltsdebatte darauf eingehen.

Das ganze Ausmaß der Krise ist noch nicht absehbar. Alle Maßnahmen müssen sinnvoll und angemessen sein. Wir dürfen keine unnötige Zeit verlieren. Aber wenn manchmal – aus der Sicht von Beobachtern – mehr das Ich als das Wir in den Mittelpunkt rückt, wenn durch zu hohes Tempo die Kontrolle zumindest kurzzeitig verloren geht, dann wird es schwierig. Brandbriefe, zum Beispiel von Bürgermeistern am Tegernsee, beweisen das.

Wir lernen in dieser Krise jeden Tag dazu. Keiner hat die Weisheit, wie man vielleicht auf Deutsch sagt, gegessen; oder man drückt es anders aus.

Änderungsanträge zu Vorschlägen der Regierung sind grundsätzlich legitim. Die SPD hat einige unterbreitet. Wir werden gleich darüber beraten und werden versuchen, gemeinsam unsere Ziele zu erreichen.

Für alles, was wir tun, stellt sich auch immer die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt. Uns werden sicherlich auch noch in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten Anträge erreichen, Vorschläge werden gemacht. Wir werden immer wieder gemeinsam überlegen: Welches ist der richtige Weg? Das ist heute der Anfang dieses Prozederes und nicht das Ende. Das ist eine gemeinsame Aufgabe für uns, und es wird eine bleiben.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Die Bürger wollen in dieser extremen Situation von uns nüchterne und mutige Politik, Unterstützung – wenn es geht, schnell –, Perspektiven, Zukunft, kein Hickhack, wie es alle Redner und Rednerinnen bisher gesagt haben, und keinen überflüssigen politischen Streit.

Zur Wahrheit gehört: Die Krise hat ganz enorme Sprengkraft. Das kann negativ ausgehen, und das kann positiv ausgehen. Wir, also die Politik, sind in einer ganz besonderen Verantwortung. Ich bin mir sicher, die Menschen sind bereit. Sie nehmen erhebliche Einschränkungen in Kauf, um sich und vor allem andere zu schützen. Die Solidarität wächst von Tag zu Tag in einem Ausmaß, wie wir es vor Tagen, Wochen und Monaten gar nicht für möglich gehalten haben.

Es entstehen ganz besondere Gefühle in dieser schwierigen Situation, in Italien und auch bei uns eine ganz bemerkenswerte Zuversicht. Ich freue mich darüber, dass so etwas in Italien möglich ist, einem Land, das wie keines negativ betroffen ist.

Fußball-Ultras präsentieren Dankesbanner für Krankenhauspersonal. Wer hätte so etwas vor einigen Monaten gedacht? Ein neues Verhältnis und Verständnis von Gemeinschaft und Gesellschaft entsteht. Das sollten wir pflegen. In der Tat – Herr Kutschaty sprach eben von Chancen – ist auch das eine Chance, die wir nutzen sollten.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Neuinfektionen werden in den nächsten Tagen weiter zunehmen. Die Maßnahmen benötigen diese Tage, um zu wirken. Diese Wahrheit gehört dazu. Wir werden die Menschen in Nordrhein-Westfalen nur erreichen, wenn wir die Wahrheit niemals verschweigen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Es gibt zu diesen Maßnahmen und zu unserem Ziel keine Alternative. Wir alle hoffen auf eine positive Zukunft. Wir alle können diese Krise nur zusammen, nur gemeinsam überstehen. Wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen, dann werden wir ihn – da bin ich mir sehr sicher – auch erfolgreich beschreiten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nochmals Danke an alle im ganzen Land, auch an Sie und für Ihre Aufmerksamkeit. – Danke schön.

(Beifall von allen Fraktionen)

Vielen Dank, Herr Kollege Rasche. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Dr. Vincentz.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Coronavirus hat uns alle erfasst – die Bundesrepublik und die Welt.

Ich möchte trotzdem mit einem leichteren Gedanken einsteigen: Jetzt ist vielleicht die große Stunde all derjenigen gekommen, die sich damals im Matheunterricht gefragt haben: „Wofür brauche ich die Exponentialfunktion im tatsächlichen Leben?“, und trotzdem am Ball geblieben sind. Denn jetzt könnt ihr alle, die ihr im Matheunterricht weiter aufgepasst habt, denjenigen, die dann ausgestiegen sind, weil sie gesagt haben: „Wozu brauche ich das im tatsächlichen Leben?“, erklären, was es mit dem exponentiellen Wachstum auf sich hat.

Ich erinnere mich noch sehr gut daran: Vor drei Wochen saßen wir im AGS zusammen. Damals habe ich die Frage gestellt: Wie weit können wir eigentlich die kritische Infrastruktur der Intensivbetten in NordrheinWestfalen hochskalieren? Damals arbeitete man im Gesundheitsministerium auf Hochtouren daran, herauszufinden: Wie viele Betten bekommen wir tatsächlich mehr?

Damals, als wir tatsächlich noch über ganz wenige Einzelfälle im Land verstreut diskutiert haben, war das noch ein Gedanke, der eher so im Raum stand, der uns sehr fern lag, den viele als vielleicht doch Panikmache kritisiert oder mit den Worten abgetan haben, da könnten wir auch über Dinge diskutieren, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt.

Jetzt, drei Wochen später, sind wir in einer Situation, in der ich Armin Laschet sehr dankbar bin, dass er sich in einer Telefonkonferenz dafür eingesetzt hat, dass wir noch aus dem Haus gehen dürfen. So schnell funktioniert das tatsächlich in der Bundesrepublik.

Und wenn wir Wachstumsraten der vergangenen Wochen, der vergangenen Tage weiter beobachten, stellen wir ein Wachstum des Virus zwischen 10 % und 15 % am Tag fest. In etwa weiteren drei Wochen – da sind sich die Fachleute nicht ganz einig; ich habe das selber mal gerechnet –, also etwa dann, wenn wir wieder zum Normalbetrieb zurückkehren wollen, haben wir in der Bundesrepublik Zahlen an Neuerkrankungen jeden Tag erreicht, die unsere Intensivbettenkapazitäten übersteigen.

Ich glaube, man müsste jedem einmal klarmachen, dass es jetzt an der Zeit ist, tatsächlich entschieden zu handeln. Oft verlieren wir uns hier auch in dem Hohen Haus in einem Streit in der Opposition. Ich glaube aber, an diesen Zahlen sehen wir – egal, wie gut der Arzt arbeitet, egal, wie lange die Krankenschwester ihre Schicht verlängert –, dass wir in drei Wochen den Punkt erreicht haben können, dass wir jeden Tag mehr Neuerkrankungen haben, als wir überhaupt Intensivkapazitäten in diesem Land haben.

An diesem Punkt ist es dann egal, ob wir als Opposition oft auseinanderstehen: Wenn die Flut kommt, dann muss man nicht mehr darüber diskutieren, welchen Damm man hätte bauen müssen, sondern

dann geht es gemeinsam darum, diesen Damm irgendwie noch aufrechtzuerhalten.

Deswegen ist es jetzt genau in diesen Tagen, in diesen Stunden notwendig, dass wir nicht das desavouieren, was wir jetzt von der Regierung vorgegeben bekommen, was ausgehandelt wird auf anderer Ebene, sondern dass wir gemeinsam dafür werben, dass ein Verständnis dafür da ist, warum genau diese heftigen Einschnitte in unser aller Privatleben tatsächlich vonnöten sind. Denn wenn jetzt die Kurve nicht abgeflacht wird, sind wir schon in wenigen Wochen an einem Punkt, an dem auch unser Gesundheitssystem kollabieren wird. Deswegen sind es jetzt die entscheidenden Wochen, damit wir weitermachen können.

Trotzdem muss ich sagen: Als Konservativer ist man auch als Mittdreißiger oft schon „old“ and „grumpy“. Von daher trotzdem mal ein paar positive Töne von dieser Seite:

Mich freut es regelrecht, zu sehen, mit was für einer Solidarität dieses Nordrhein-Westfalen an dieser Stelle zusammensteht. Diese vielen kleinen und großen Solidaritäten, die wir jeden Tag im Einzelnen erleben, dass Nachbarn wieder füreinander einkaufen gehen, dass Firmen ihre Produktion umstellen und auf einmal tatsächlich ganz andere Dinge, die in der Krisenlage selten geworden sind, herstellen können, das gibt mir zumindest die vorsichtige Hoffnung, das gibt mir zumindest das positive Gefühl, dass wir das zusammen durchstehen können und dass es nicht so schlimm wird, wie viele vielleicht vermuten wollen.

Ein anderer Punkt: Wir werden uns in den nächsten Wochen konstruktiv einsetzen. Wir haben auch jetzt schon einen Antrag mit 48 Punkten für das nächste Plenum auf den Weg gebracht, wie wir denken, wie wir besser über die nächste Zeit kommen werden. Trotzdem muss ein bisschen Kritik in dieser Situation erlaubt sein.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, weil das so schön im Kontrast steht zu der Situation jetzt, wie ich im letzten Spätsommer mit einigen Kollegen und Kolleginnen am Rhein saß – für die Dramaturgik wäre es besser gewesen, wir hätten „Corona“ getrunken, aber es war nur einfaches Kölsch – und wir darüber debattierten, wie wir in einem ganz normalen Winter im deutschen Gesundheitssystem schon am Rand unserer Möglichkeiten stehen. Wir haben uns darüber ausgetauscht, wie sich die Klinik in Krefeld, in der ich damals gearbeitet habe, über Tage abmelden musste, weil keine weiteren Intensivkapazitäten in einem ganz normalen Winter damals zur Verfügung gestanden haben. Die Kollegen aus anderen Regionen in Nordrhein-Westfalen haben mir genau dasselbe erklärt.

Das war der Status damals zu Normalzeiten. Die ganz normale Grippewelle, der ganz normale Schnupfen hat unser Gesundheitssystem damals

tatsächlich schon immer in eine Situation gebracht, in der jede Klinik für sich schon immer Betten „verschieben“ musste, schauen musste, wie man damit noch auskommen konnte.

Damals – das ist ein Jahr her, wir saßen, wie gesagt, am Rhein, was heute fast utopisch anmutet – haben wir eher aus Spaß gesagt: Alle 100 Jahre kommt eine große Epidemie. Das war 100 Jahre vorher, um 1920, die Spanische Grippe; das war 100 Jahre davor eine große Cholera-Epidemie und 100 Jahre davor die letzte Pest-Welle. Wir haben damals noch miteinander geflachst nach dem Motto: Bitte, bitte, bitte lass jetzt nicht noch eine neue Epidemie über uns hereinbrechen.

Tatsache – das sagen viele Virologen schon seit Längerem –: Jedes Jahr wird der Würfel neu gerollt. Jedes Jahr mutieren Viren, permanent mutieren Viren in jedem Einzelnen, der aktuell erkältet ist oder der sich mit dem Coronavirus plagt. Aufgrund der hohen Replikationszahl des Virus, aufgrund der Art und Weise, wie dieser RNA-Streifen abgelesen wird, kommen immer wieder Mutationen vor. Von daher ist es immer auch ein Stück weit Glück, wenn so etwas nicht passiert.

Und es ist fast ein Stück weit fahrlässig, wenn man sich nicht auch in guten Zeiten darüber Gedanken macht, dass vielleicht tatsächlich die Klinik anders, als es heute oft betrachtet wird, nicht nur ein Betrieb ist, der Gewinn erwirtschaften muss, sondern tatsächlich elementar wichtige Infrastruktur ist. In der Vergangenheit haben wir oft darüber geredet, dass ein Bett in einem Krankenhaus belegt sein muss, damit man damit Geld verdient.

In diesen Tagen wirkt es fast zynisch, dass diese Gedanken im Gesundheitssystem solange en vogue waren. Denn tatsächlich merken wir jetzt: Es ist eben das Bett, das leer steht, es ist die Krankenschwester, die zu viel ist, es ist der Arzt, der vielleicht im Normalbetrieb mal Zeit für einen Kaffee hat, der in solchen Zeiten notwendig ist, um diese Krise miteinander und vernünftig zu überstehen.

(Beifall von der AfD)

Dieser Gedanke sollte uns auch dann, wenn wir die Krise überstehen – ich bin mir sicher, dass wir sie so oder so überstehen werden bei all den Grauen, die damit einhergehen –, nicht wieder verlassen. Auch dann sollten wir darüber nachdenken, dass diese Systemrelevanz bestimmter Berufsgruppen, dass diese Alltäglichkeiten, die diese Berufsgruppen mit sich bringen …