Protokoll der Sitzung vom 27.05.2020

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie zu unserer heutigen, 91. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen herzlich willkommen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen an den Bildschirmen sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Ich rufe auf:

1 Erfolge, Lehren und Perspektiven der kriminal

polizeilichen Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch und Kinderpornografie

Unterrichtung durch die Landesregierung Vorlage 17/3433

Der Chef der Staatskanzlei hat mit Datum und Schreiben vom 19. Mai 2020 mitgeteilt, dass die Landesregierung beabsichtigt, den Landtag zu diesem Thema zu unterrichten.

Die Unterrichtung durch die Landesregierung erfolgt durch den Minister des Innern, Herrn Minister Reul. Ich erteile ihm nun das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Es ist bei einem solchen Thema wie dem sexuellen Missbrauch von Kindern schwierig, einen kühlen Kopf zu bewahren. Denn hinter diesem Begriff verbergen sich nicht nur furchtbare Verbrechen, sondern Leidensgeschichten von Opfern, die so unschuldig wie bedauernswert sind. Was Sie da sehen, meine Damen und Herren, rührt selbst hartgesottene Kriminalisten manchmal zu Tränen der Wut und der Trauer.

Bevor ich Ihnen erläutere, was die Landesregierung im vergangenen Jahr getan hat, um diese Verbrechen zu bekämpfen, möchte ich dieses Forum gerne nutzen, um all denen zu danken, die sich jeden Tag für Kinder einsetzen, denen so etwas angetan worden ist.

(Beifall von allen Fraktionen)

Das sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jugendämtern. Das sind Frauen und Männer, die in Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern arbeiten. Das sind Menschen, die sich größtenteils ehrenamtlich in Vereinen und Organisationen engagieren und sich um Aufklärung und Hilfe für Opfer bemühen. Aber das sind nicht zuletzt auch Polizistinnen und Polizisten, die mit großem Einsatz diese Verbrechen aufklären wollen. Da gehen Menschen in ihrem Job bis an die Grenzen ihrer psychischen und physi

schen Belastbarkeit und darüber hinaus. Das muss man wirklich einmal hervorheben. Das verdient einen riesengroßen Respekt.

Meine Würdigung dieses Einsatzes betrifft auch die Maßnahmen im letzten Jahr im Bereich von Missbrauch und Kinderpornografie. Zunächst einmal war Ziel aller Maßnahmen ganz klar, dass jeder Täter jederzeit Angst haben muss, gefasst zu werden. Wir wollen, dass sich diese Leute, die Kindern so etwas antun, keine Sekunde sicher fühlen.

(Beifall von allen Fraktionen)

Wir wollen, dass sie möglichst schnell hinter Gitter kommen, damit sie nicht noch mehr Taten begehen. Es ist doch ganz einfach: Wer die Täter erwischt, der schützt Kinder.

Aber, jetzt kommen wir zu der simplen Wahrheit: Wir haben das Problem lange Zeit nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Ich gebe zu: ich auch nicht. Auch mir war nicht bewusst, was sich hier für ein gesellschaftlicher Abgrund auftut. Ich glaube, die allermeisten Menschen dachten, dass dieses Problem eine Randerscheinung sei – etwas Furchtbares natürlich, aber auch etwas, das nur wirklich ganz wenige richtig betrifft.

Wir alle mussten lernen, dass diese Ansicht leider falsch ist. Mir hat ein Besuch in der „Zentralen Auswertungs- und Sammelstelle Kinderpornografie“ in unserem Landeskriminalamt im Winter 2018 die Augen geöffnet. Einige von Ihnen sind ja auch der Einladung gefolgt und haben sich das im vergangenen Jahr selber angeschaut. Wer sich das anschaut und sich mit den Männern und Frauen, die diese Arbeit tun, unterhält, der weiß: Das ist nicht nur ein Riesenproblem, sondern auch ein Massenphänomen.

Um dem Herr zu werden, brauchen wir ganz andere Maßnahmen als bisher. Da hat uns schlicht die Zeit eingeholt; da haben wir alle den analogen Schlaf geschlafen, während die Täter mit neuester Technik und digital vernetzt ihr Unwesen trieben. Dass wir hier neue Wege gehen mussten, war total klar. Deshalb haben wir damals, nach meinem Besuch im LKA 2018, als Sofortmaßnahmen ganz schnell und unbürokratisch erst einmal 20 Stellen im LKA geschaffen, neue Hochleistungsrechner angeschafft und eine Arbeitsgruppe „Kinderpornografie“ eingerichtet.

Ich möchte Ihnen einmal kurz vor Augen führen, worüber wir hier reden, und zwar anhand eines Phänomens, das die Experten „Cybergrooming“ nennen.

Ein Erwachsener schreibt an ein Kind – ich zitiere aus dem Netz –: Ich mache an dem Abend alles mit, von A bis Z. Ich mache alles, was du willst. Dafür möchte ich aber später dann entscheiden, was ich alles machen darf, von A bis Z. – Zitat Ende.

So, meine Damen und Herren, das schreibt dieser Mann nicht irgendwo im verborgenen Chatroom oder

im Darknet, sondern ganz offen in WhatsApp – ganz offen. Diese Täter fühlen sich offenbar so sicher, dass sie sich nicht einmal um große Deckung bemühen. – Das ist ein Missstand, den man gar nicht mehr in Worten beschreiben kann und den wir als Strafverfolgungsbehörden und als Gesellschaft einfach nicht hinnehmen dürfen und können.

Aber auch ohne Chat werden täglich Nachbarn, Freunde, Betreuer, Verwandte zu Tätern. Und auch die sind digital unterwegs, tauschen und sammeln Daten, horten Daten.

Dieser Besuch im Landeskriminalamt hat deutlich gemacht, was für Massen wir da vor uns haben. Die Menge in einem dieser Fälle übersteigt bei Weitem alle vorhandenen Kapazitäten. Da werden bei einer einzigen Durchsuchung schon einmal 26 Terabyte Daten sichergestellt. Das entspricht übrigens einem Schriftsatz von 169 Millionen DIN-A4-Seiten – 169 Millionen DIN-A4-Seiten! – oder 34.000 Aktenschränken. Darunter sind dann 3,3 Millionen Bilder und mehr als 115.000 Filme.

Jetzt ist jedem klar: Auf konventionellem Weg kann man das nicht mehr sichten. So viele Stellen können Sie überhaupt nicht schaffen, dass das ausreicht. Wir brauchen hier eine zeitgemäße Ausstattung und intelligente und neue Lösungen. Der Handlungsbedarf war da, er wurde auch gesehen, und da wurden auch Dinge angeschoben.

Und dann kam der Fall Lügde. Der Fall hat dann allen die Augen geöffnet. Man sah den Abgrund der Gesellschaft, man sah, dass zu lange weggeschaut wurde, man sah zu wenig Personal und völlig unzureichende Technik und auch – das will ich nicht verhehlen – menschliches Versagen. Ich habe damals von „Behördenversagen an allen Ecken und Kanten“ gesprochen, und ich meinte damit nicht nur Polizeibehörden. Viele haben damals gesagt: Jetzt übertreibt der Reul total. – Ich kann mich noch an die Zeitungsberichte erinnern.

Ich habe eigentlich ganz schön gerne recht, aber in diesem Fall war das für mich und für viele Beteiligte verdammt schmerzhaft: für Behörden, für die Polizei, die massiv kritisiert wurde, manchmal auch unberechtigt, für die Menschen vor Ort, deren Heimat nun mit diesen Taten in Zusammenhang gebracht wurden, aber natürlich für die Opfer, die Kinder und deren Angehörige.

Es gab in diesem Fall Lügde keinen Gewinner, konnte es auch gar nicht geben.

Aber Lügde hat immerhin die Dimension des Problems zutage gebracht, und damit war Lügde der Auslöser dafür – oder mehr als der Auslöser, es hat beschleunigt –, dass an die Bekämpfung von Missbrauch und Kinderpornografie grundsätzlich neu herangegangen wird. Durch Lügde konnten wir die Versäumnisse von Jahrzehnten aufarbeiten, denn erst

Lügde führte sie den Menschen in Nordrhein-Westfalen und weit darüber hinaus schonungslos vor Augen.

So haben wir zunächst im Ministerium eine eigene Stabsstelle eingerichtet. Da denkt man ja: Das ist der übliche Aktionismus. – Aber diese Stabsstelle und die Menschen, die da gearbeitet haben – es waren drei –, die haben richtig etwas bewegt.

Seit Lügde sind Kindesmissbrauch und Kinderpornografie kriminalpolizeilicher Schwerpunkt in der NRWPolizei und in 47 Kreispolizeibehörden.

Seit Lügde blicken wir über den Tellerrand und fragen uns, was eigentlich andere Länder machen.

Seit Lügde wurden die Behörden total neu ausgerichtet: Prozesse, Technik, Personal.

Seit Lügde wurden die Zuständigkeiten wie bei der Bearbeitung von Mord und Totschlag – das ist kein Zufall – auf die 16 Kriminalhauptstellen in NordrheinWestfalen konzentriert. Das ist auch richtig so, denn Missbrauch tötet Kinderseelen. Die Datenauswertung findet inzwischen zentral im Landeskriminalamt statt – unter Einsatz von Hochleistungsrechnung und künstlicher Intelligenz.

Seit Lügde werden alle Behörden miteinander und mit dem Landeskriminalamt vernetzt. Die Ermittler können seit Lügde von jedem Arbeitsplatz im Land auf die richtige Software zugreifen – dank des neuen Forensik-Desktops – und sich in Videokonferenzen austauschen. Die komplette NRW-Polizei ist so zu einem virtuellen, digitalen Großraumbüro geworden. Das ist noch nicht hundertprozentig fertig, aber wir sind auf einem guten Weg, und da wird auch noch manches investiert werden müssen.

Seit Lügde haben wir personell aufgestockt. In den Kreispolizeibehörden arbeiten inzwischen nahezu viermal so viele Menschen an der Verfolgung von Missbrauch und Kinderpornografie. Im Landeskriminalamt hat sich die Anzahl sogar verfünffacht. Ich füge noch einmal hinzu: Die sind nicht vom Himmel gefallen, sondern woanders weggenommen worden. Das wussten wir, das wissen wir, das haben wir bewusst gemacht. Und ich werde jede Kreispolizeibehörde, die Angriffe bekommt, weil irgendwo anders jetzt ein Polizist fehlt, unterstützen, weil das so richtig ist.

Wir bilden mehr aus, wir bilden mehr fort, und wir kümmern uns um die Menschen, die in ihrer täglichen Arbeit direkt mit diesen Bildern konfrontiert werden. Wir geben, meine Damen und Herren, für diese Maßnahmen allein bis 2021 über 30 Millionen Euro aus. Es wird nicht das Ende sein, was die Finanzen angeht.

Aber das Handeln der Landesregierung, meine Damen und Herren, ist das eine, die Unterstützung des Parlaments ist das andere. Ich bin mir Ihrer aller Unterstützung in diesem Kampf sehr bewusst. Es ist

gut, dass wir das Thema politisch einig angegangen sind. Denn nur zusammen, über die Grenzen von Parteien hinweg, können wir diesem Phänomen adäquat begegnen.

Ich bin sehr, sehr dankbar, dass wir hier an einem Strang ziehen, und möchte mich persönlich bei den Obleuten für die intensive Zusammenarbeit gerade in der Anfangszeit sehr bedanken. Wir haben nämlich damals nicht gestritten, sondern gearbeitet. Wir haben nicht lange über Probleme schwadroniert, sondern sie gelöst. Wir haben uns nicht mit Schuldzuweisungen aufgehalten, sondern wir haben uns darauf konzentriert, die Täter hinter Gitter zu bringen und die Opfer zu stärken. Das Ergebnis, die Bilanz, ist im Jahresbericht der Stabsstelle dokumentiert, die ich kürzlich dem Innenausschuss und jetzt auch Ihnen allen noch einmal zugeleitet habe. Die Bilanz dieses einzigen Jahres ist wirklich schon ganz ordentlich.

Ich möchte dem Leiter der Stabsstelle, Herrn Wünsch, aber auch den beiden Damen ganz, ganz herzlich danken, aber auch allen im Land, die in den Polizeidienststellen daran gearbeitet haben. Dass das ein Fortschritt ist, konnten Sie schon am Fall „Bergisch Gladbach“ sehen. Da ging es schneller: schneller Zugriff, schnelle Ermittlungserfolge. Hier wurde ein riesiges Netzwerk aufgedeckt, Täter wurden gefasst und verurteilt. Gestern wurde ein 27-jähriger Bundeswehrsoldat vom Landgericht Kleve zu zehn Jahren Haft verurteilt und in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen.

Aber noch viel wichtiger ist – das können wir gar nicht zählen –, dass viele Kinder aus ihren Missbrauchssituationen herausgeholt wurden. Darum ist die Schnelligkeit ganz wichtig. Diese Kinder wurden in Sicherheit gebracht. Diese Kinder haben jetzt eine kleine Chance, ihre Leidensgeschichte zu verarbeiten.

Meine Damen und Herren, im Jahre 2019 haben wir 2.805 Fälle von sexuellem Missbrauch bei Kindern erfasst. Das waren rund 380 Fälle mehr als im Vorjahr, ein Anstieg von 16 %. Von den registrierten Missbrauchsfällen wurden rund 2.350 aufgeklärt. Das ist eine Aufklärungsquote von 84 %. Das ist die höchste Aufklärungsquote der letzten 20 Jahre. Das ist das Allerwertvollste.

(Beifall von der CDU, der FDP und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD – Beifall von Markus Wagner [AfD])

Im Bereich der Kinderpornografie haben wir im letzten Jahr 2.400 Fälle erfasst, etwa 1.000 Fälle mehr als im Vorjahr. Der Anstieg gegenüber dem Jahr 2018 beträgt damit mehr als zwei Drittel. Eigentlich wünscht man sich ja als Innenminister immer, kleinere und sinkende Zahlen zu zeigen. In dem Fall bin ich an immer höheren Zahlen interessiert. Das lässt sich auf einen Nenner bringen. Wir ermitteln mehr,

wir ermitteln effektiver, wir ermitteln besser, und dann finden wir auch mehr. Das ist der Fortschritt; denn dadurch helfen wir, das Dunkelfeld, von dem immer die Rede ist, aufzuhellen.

Diese Landesregierung kämpft aber gegen den sexuellen Missbrauch über die Ressort- und Landesgrenzen hinweg. Das ist nicht nur Sache der Polizei. Das Landeskriminalamt ist mit der Justiz im engen Austausch. Die Jugendämter haben wir in die Sicherheitskonferenzen aller 47 Kreispolizeibehörden einbezogen.

Beim Bundeskriminalamt haben wir über die Bundesinnenministerkonferenz initiiert, dass nicht nur immer mehr Bilder und Videos wirklich konventionell, sondern auch schneller angeschaut werden können.

Seit März ist schon der Versuch beim Cybergrooming strafbar, also wenn der Täter nur denkt, er würde mit einem Kind chatten. Wir können nun in Ermittlungen computergeneriertes Material einsetzen, um in Foren eingelassen zu werden, wo diese Täter ihre Daten austauschen.

Über die Innenministerkonferenz setzen wir uns für eine Verschärfung der Tilgungsfristen im erweiterten Führungszeugnis ein, sodass wir verurteilte Sexualstraftäter eben nicht schon nach drei Jahren wieder im Sportverein bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen antreffen.