Protokoll der Sitzung vom 27.05.2020

Über die Innenministerkonferenz setzen wir uns für eine Verschärfung der Tilgungsfristen im erweiterten Führungszeugnis ein, sodass wir verurteilte Sexualstraftäter eben nicht schon nach drei Jahren wieder im Sportverein bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen antreffen.

Wir sehen: Wir gehen dieses Phänomen auf allen möglichen Ebenen an. Was auf diesem Gebiet im vergangenen Jahr passiert ist, macht mich schon dankbar. Sie alle können auch stolz und dankbar sein. Ich werbe ausdrücklich weiterhin dafür, dass wir parteiübergreifend an diesem Projekt arbeiten. Ich brauche Ihrer aller Unterstützung, übrigens auch bei so praktischen Dingen wie bei Haushaltsberatungen, denn das wird uns noch viel Kraft, Geld und Zeit kosten.

Aus der Stabsstelle haben wir jetzt ein Referat gemacht, weil wir diese Arbeit verstetigen wollen. Das darf nicht nur eine einmalige Geschichte sein. Das ist jetzt im Prinzip ein wichtiges Element von Polizeiarbeit in dem Innenministerium, nicht irgendwo. Damit kann kontinuierlich und stetig immer besser gearbeitet werden, um zu verhindern, dass wir irgendwann noch einmal irgendeine Entwicklung auf diesem Feld verschlafen. Das darf nie mehr wieder passieren, meine Damen und Herren.

(Beifall von allen Fraktionen)

Das sind wir den Kindern schuldig.

Dass wir das heute hier so prominent vortragen dürfen und darüber diskutieren, finde ich sehr schön. Ich bedanke mich sehr herzlich.

(Beifall von der CDU, der FDP, den GRÜNEN und der AfD – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Herr Minister, für die Unterrichtung.

Ich eröffne damit die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Fraktion der SPD dem Abgeordneten Bialas das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ich darf voranschicken: Ich bedanke mich ausdrücklich für die gut geleistete Arbeit der Stabsstelle und für die Vorlage. Dafür müsste ich mich eigentlich gar nicht bei Ihnen bedanken, sondern direkt bei Herrn Wünsch und seinem Team: Herzlichen Dank!

Ich möchte aufrichtig auch denjenigen bei der Polizei danken, die in diesem schwierigen Feld so unermüdlich und mit so viel Herzblut gearbeitet haben und weiterhin arbeiten. Ihre Arbeit ist von unschätzbarem Wert.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP, den GRÜNEN und Markus Wagner [AfD])

Ich möchte auch an die Menschen denken, um die es hier in erster Linie geht: Menschen, Kinder, die Opfer geworden sind, die es leider auch noch werden. Sie müssen hier bei uns sein, denn sie müssen der Maßstab unseres Denkens und Handelns werden.

Wovon reden wir? – Von sexuellem Missbrauch von Kindern und von Kinderpornografie. Dass das Wort „Kinderpornografie“ bereits völlig verquer ist, brauche ich nicht weiter auszuführen.

Wovon reden wir? – Stellen Sie sich kleine Kinder vor – zwei-, drei-, vier- und fünfjährige haben wir in unserem Fall, den wir gerade behandeln –, Kinder, die uns Erwachsenen anvertraut sind, die auf unsere Liebe, Fürsorge, auf unseren Schutz vertrauen, die die Welt noch nicht kennen, aber auf die Welt neugierig sind. Dann stellen Sie sich vor, wie diese Kleinen sexuell vergewaltigt werden, wie sie sich wehren wollen, zum Teil gefesselt sind, weinen und es nicht begreifen und keine Chance haben. Neben dem körperlichen Missbrauch ist dies zutiefst ein menschenverachtender seelischer Missbrauch, eine Erniedrigung, die dem Kind seinen eigenständigen Wert als Mensch raubt, die den Mensch reduziert auf ein Ding.

Wir reden von Vergewaltigungen der Hilflosesten und Wehrlosesten, wir reden von Kindern, die zeitlebens damit umgehen müssen. Und wir reden eben nicht von einigen, wir reden von vielen, von viel zu vielen.

Daher möchte ich an dieser Stelle auch einmal auf die ungeheure Arbeit der Opfer hinweisen, der Kämpfer, wie sich viele von ihnen im Erwachsenenalter verstehen, Kämpfer, die sich in diese Welt zurückkämpfen, um in dieser Welt wieder Vertrauen zu

suchen und vielleicht zu finden. Ich möchte diese ungeheure Leistung anerkennen, mit der sie versuchen, mit dem nie Vergessbaren leben oder irgendwie umgehen zu können.

Der Bericht, der vorgelegt wurde, heißt „Revision der kriminalpolizeilichen Bearbeitung von sexuellem Missbrauch an Kindern und Kinderpornografie“. Es steht viel Richtiges darin. Viele wichtige und richtige Maßnahmen werden demnach auf den Weg gebracht: Aufrüstung der Technik, Zentralisierung, Verstärkung der und Anbindung an die Fachstellen, Personalverstärkung, potenziell stärkere Dienstaufsicht, Forcierung der Fachausbildung, Verbesserung beweissichernder Strafverfolgung. Das hilft uns, und das ist gut so.

Jedoch ist es kein Abschlussbericht über das gesamte Spektrum der polizeilichen Aufgaben bei Missbrauch, und dieser Unterschied muss uns sehr klar sein. Eine Botschaft, die Polizei habe bereits umfassend aus Lügde gelernt und nun werde alles besser, wäre eine wunderbare Botschaft. Leider stimmt sie nicht.

Der Bericht ist eine erste Antwort auf Organisationsfragen, damit wir ein erneutes Organisationsversagen in dem Ausmaß wie in Lügde nicht noch einmal erleben müssen.

Der Abschlussbericht ist keine grundlegende Neuaufstellung der Polizei im Kampf gegen sexuellen Missbrauch. Denn die polizeiliche Arbeit ist nur zu einem Teil umfasst, das Missbrauchsgeschehen nur zu einem Teil thematisiert, die polizeilichen Ansatzmöglichkeiten sind weitestgehend auf einige Möglichkeiten reduziert. Es ist noch nicht die nötige Antwort auf den Missbrauch in unserer Gesellschaft.

Denn die Polizei hat nicht nur Straftaten aufzuklären, wenn sie geschehen sind und der Polizei zur Kenntnis gegeben werden, sondern sie hat sie auch zu verhindern bzw. dazu beizutragen, dass die Straftaten erst gar nicht geschehen oder dass Opfer frühzeitig aus dieser Hölle herausgeholt werden.

Die Polizei hat die Pflicht, nicht nur auf die Meldung von Straftaten zu warten und dann vielleicht nachzuforschen. Sie hat sie aktiv aufzuspüren, also nicht nur die Täter nach der Tat aufzuspüren und zu finden, sondern zunächst einmal auch die Tat und die Opfer wahrzunehmen und ernst zu nehmen.

Im Abschlussbericht wird ein enger Zusammenhang zwischen Zugriffsversuchen auf und die Herstellung von filmischen Darstellungen des sexuellen Missbrauchs und dem Missbrauch an sich hergestellt. Das ist sicherlich richtig. Jedem Film und Foto geht in der Regel ein Missbrauchsgeschehen voraus. Ein Schwerpunkt des Berichts sind daher vermutlich der Aufklärungsweg und vor allem der beweissichernde Aspekt dabei, also vom Foto oder Film zum

Missbrauch und zum Täter, und da ist der Abschlussbericht und sind die Maßnahmen auch richtig und gut.

Wenig und wenig Greifbares erfahren wir über Aufklärungswege und Feststellungen jenseits dieses Weges. Falls das ein wenig zu verklausuliert ist, nun etwas klarer: Bei Lügde standen nicht Fotos oder Filme als Ausgangspunkt für notwendige Überprüfungen zur Verfügung. Es waren Meldungen – Meldungen verschiedener Personen, die nicht konsequent verfolgt wurden. Es waren geäußerte Befürchtungen, die nicht zu Anzeigen führten.

Ein ganz kleiner Einblick: „Ich will nicht zurück zu den stinkenden Männern.“ – Überhört! „Für Süßigkeiten macht die aber alles.“ – Überhört! „Erst macht sie mich heiß, will kuscheln und dann doch nicht. Frauen sind echt komisch.“ Und das über eine Fünfjährige. – Überhört! Das alles als schriftlicher Text vorliegend bei der Polizei. – Überlesen!

Es fehlte den staatlichen Stellen nicht an Hinweisen aus dem sozialen Umfeld. Es gab Personen, die laut gerufen haben. Aber es wurde nicht hingehört. Es wurden der Polizei Sachverhalte geschildert, sogar aufgeschrieben, die als Anzeige einfach nicht verfolgt wurden. Da geht es nicht um Technik und Strukturen, da geht es schlicht um Haltungen – Haltung gegenüber den Opfern, Haltung gegenüber dem Delikt, Haltung gegenüber der eigenen Arbeit.

Das heißt, eine Revision der kriminalpolizeilichen Bearbeitung des Missbrauchs, wenn dabei hauptsächlich nur ein technischer Weg des Erkennens und Aufklärens thematisiert wird, kann noch nicht beendet sein. Es kann keinen Abschluss geben. Wir stehen gerade erst am Anfang.

Hier sieht man auch, wie wichtig die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses und der Kinderschutzkommission werden können, die in den Bericht in keinster Weise einfließen konnten, und wie sodann der derzeitige Abschlussbericht einen völlig falschen Eindruck hinterlassen kann. Denn dort, wo die eigentlichen Schwerpunkte und Probleme auch liegen, wird der Bericht leider sehr dünn: Prävention, Zusammenarbeit, Kenntnisse und Haltungen. Überall dort, wo die Bedeutung der sozialen Kontrolle und der vorbeugenden Polizeiarbeit ins Spiel kommen könnte, biegt der Bericht vorher leider ab. Vielleicht kann er das auch noch gar nicht anders. Das ist kein Vorwurf an die Arbeit.

(Daniel Sieveke [CDU]: Was denn sonst?)

Daher sage ich jenseits kritischer parteilicher Auseinandersetzung: Wir nehmen Ihnen sehr wohl ab, Herr Minister, dass dieses Thema auch Sie persönlich sehr betrifft. Wir müssen gemeinsam erkennen, wo wir stehen, wie elendig weit der Weg noch ist und dass wir ihn dauerhaft gehen müssen. Insofern ist es gut, wenn wir diesen Weg auch gemeinsam gehen.

Ich bin nun nicht zwingend dafür bekannt, dass ich im Untersuchungsausschuss rundum empathisch und ausnehmend höflich mit den Zeugen aus den Jugendämtern oder der Polizei im Fall Lügde umgehe, aber eines muss doch auch ganz klar sein: Da kommen jetzt nicht einzelne Personen, auf denen man nun gut rumhacken kann, Personen, die Fehler gemacht haben, die sonst keiner gemacht hätte. Das ist Quatsch.

Missbrauch wahrzunehmen, zu erkennen und dann gar noch beweissicher festzustellen, um im Strafverfahren zu bestehen, ist nicht einfach. Es ist nicht ganz klar. Es ist verdammt schwierig.

Im Nachhinein ist man immer klug oder kann zumindest so tun. Unsere Fragen heute sind auch viel klüger als die Antworten, die vorher gefunden wurden. Ein Kernpunkt des Problems ist doch leider: Wie erkenne ich das schwer Erkennbare? Kann und will ich es auch erkennen? Das ist der Kern – auch für die Polizei.

Ich gebe mal ein Beispiel: Wenn ich einen vermüllten Campingwagen sehe, dann sehe ich einen vermüllten Campingwagen. Da habe ich Kriterien, um das zu erkennen. Ich weiß, wie Müll aussieht, ich habe ein Größenverständnis, und der Müll liegt auch nicht im Verborgenen. Ich kann auch Forderungen aufstellen, zum Beispiel die, dass aufgeräumt wird. Auch davon habe ich eine Vorstellung. Ich weiß, wie es aussehen kann, wenn etwas aufgeräumt ist. Auch dafür habe ich Kriterien.

Nur: Wie sehe ich Missbrauch, der sich nicht vor meinen Augen zeigt, der sich nicht vor meinen Augen abspielt? Wie sehe ich, was sich hinter verschlossenen Türen vollzieht? Wie sehe und höre ich etwas, worüber die Opfer häufig schweigen oder, wenn sie reden, einfach von zu vielen nicht gehört werden? Und wie sehe ich vor allen Dingen die Folgen des Missbrauchs? Wie interpretiere ich die Folgeerscheinungen? Da gibt es eben keine klaren Kriterien. Da muss ich auch nicht robust sein. Da muss ich sehr sensibel sein.

Die Frage, die sich dann stellt, lautet: Wie schaffe ich mir mehr Wissen nach einem Verdacht? – Meist sehe ich nur Teile, höre nur Bruchstücke, nie das Ganze. Und daher ist es so schwer, sperrt sich der Geist so deutlich, hier das Gesamtbild eines möglichen Missbrauchs anzunehmen. Und ein Klassiker ist häufig leider: Man möchte ja auch keine falschen Verdächtigungen aussprechen.

Es gibt häufig keine klaren Belege, es bleibt ein blödes Gefühl, ein Rumoren im Bauch, und meist bleibt es dann auch genau dabei.

Fraglich ist doch, wie und was ich genau an dieser Stelle tun kann, welche Rolle die Polizei hierbei spielen kann und muss. Welche Möglichkeiten und welche Kriterien habe ich? Wie kann ich Verdachtsmo

mente mit wem verdichten, und wie kann ich Verdachtsmomenten – übrigens auch unter den Bedingungen des Datenschutzes – weiter nachgehen?

Wie kann Missbrauchsgeschehen also aufgedeckt werden? Wie kann Missbrauchsgeschehen verhindert werden? Wie kann es besonders dann verhindert und aufgedeckt werden, wenn die soziale Kontrolle bereits gering genug und gerade in Zeiten von Corona fast gänzlich fehlt? – Es ist eine Frage der Haltung.

Das tatsächliche Ausmaß des Geschehens sieht man nicht im Hellfeld. Dort sind lediglich die Ausgangspunkte. Wenn wir das Hellfeld als einzigen Ausgangspunkt zum Tätigwerden wählen, haben wir rein gar nichts gelernt.

Ich möchte den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses nicht vorgreifen, aber lassen Sie mich bereits einige Punkte benennen. Denn es geht hier nicht um Kritik am Bericht, sondern es geht um Verbesserung, und da müssen noch viel mehr Punkte auf den Tisch.

Das gilt übrigens nicht nur für diesen Untersuchungsausschuss. Auch in anderen Untersuchungsausschüssen sprechen wir gern von den Fehlern der Menschen. Es ist wichtig, dass auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behörden erkennen, wo ihre Grenzen des Wissens sind. Ich weiß, das ist ganz schwierig anzunehmen, auch für sich selbst. Aber wir sehen sehr häufig, dass nicht böser Wille dahintersteckt, sondern fehlende Kompetenz. Vor allen Dingen wird oft nicht der nächste Schritt gegangen: Wenn man etwas nicht weiß, muss man jemanden fragen, der es kann. Man muss sich an eine Fachkraft wenden. Man muss Leute hinzuziehen, die in der Befragung von Opfern geübt sind.

Zudem müssen wir uns vor Ort wesentlich stärker mit allen vernetzen, die mit Kindern zu tun haben: mit den Kitas, Schulen, Sportvereinen, Bürgervereinen, Jugendeinrichtungen, Ärzten, Schwimmbädern,

kirchlichen und sozialen Einrichtungen. Es bedarf der Vernetzung vor allem in den Quartieren.

Sicherheitskonferenzen allein reichen leider nicht. Die Bezirksdienstbeamten könnten bei einem umfassenden präventiven Ansatz eine entscheidende Rolle spielen. Denn es geht nicht nur um die Fachleute, welche die Tat hinterher aufklären. Es geht vor allen Dingen um die ersten Kontakte, und zwar in dem Moment, in dem Opfer oder andere Meldende das erste Mal Kontakt mit der Polizei aufnehmen. An dieser Stelle müssen bereits Verständnis und Kompetenz vorhanden sein.

Deswegen geht es auch darum, die Sensibilität, die Haltung und die Ausbildung bis in die kleinsten Einheiten hinein zu verbessern. Dies sollte mit permanenter Dienstaufsicht und mit Dienstunterricht vor Ort verbunden werden. Das Gleiche gilt übrigens auch in

puncto körperlicher Gewalt gegen Frauen und Kinder, Stalking, Mobbing, sexueller Gewalt gegenüber Frauen.