Protokoll der Sitzung vom 26.08.2020

Dafür muss man sich natürlich die Behörde angucken – allerdings nicht nur die Polizeibehörde. Ich weiß, dass das Innenministerium das bereits durch die Stabstelle gemacht hat. Allerdings haben wir als Untersuchungsausschuss auch die Aufgabe, bezogen auf die Jugendämter Aufklärungsarbeit zu leisten, und das machen wir auch.

Die Erweiterungsanträge der AfD werden wir als Grüne ablehnen. Ich möchte Ihnen gerne die Gründe dafür nennen:

Erstens. Ich finde die Anträge anmaßend, weil wir als Abgeordnete nicht die besseren Polizeibeamtinnen und -beamte sind; das müssen wir auch anerkennen. Wir sind nicht die Ermittlerinnen und Ermittler, die strukturelle Netzwerke von Personen, die Kindesmissbrauch betreiben, aufdecken können. Das können wir schlichtweg nicht.

Ich will noch einmal daran erinnern, dass die BAO Berg, die den Komplex Bergisch Gladbach untersucht und wichtige Ermittlungsarbeit leistet, in der Spitze aus 360 Polizeibeamtinnen und -beamten bestanden hat. Und wir sollen mal eben deren Arbeit übernehmen? – Das ist völlig unrealistisch.

Ich finde das wirklich anmaßend, weil ich weiß, dass diese Polizeibeamtinnen und -beamten eine sehr engagierte und wichtige Ermittlungsarbeit leisten. Das können wir als Untersuchungsausschuss überhaupt nicht; das ist auch gar nicht unsere Aufgabe.

Herr Wagner, Sie sagen, Sie wollen Ermittlungsdruck aufbauen. Es ist zwar richtig, Ermittlungsdruck aufzubauen, aber das macht doch nicht der Untersuchungsausschuss, sondern die Polizei, weil es auch die Arbeit der Polizei ist.

Der Untersuchungsausschuss kann mögliches Behördenversagen untersuchen; das ist unsere Aufgabe. Das muss man klar trennen und die Aufgabenbeschreibungen ernst nehmen, wer eigentlich für was zuständig ist.

Es ist wichtig und richtig, Behördenversagen in Bezug auf Lügde zu untersuchen. Einige Zeugenvernehmungen bestätigen mich darin, wie richtig es war, diesen Untersuchungsausschuss einzusetzen.

In Münster ist vielleicht nicht alles so gelaufen, wie man sich das vorgestellt hat, zum Beispiel in Bezug auf das Jugendamt oder auf das Landgericht. Das kann man alles diskutieren; das haben wir auch in der Sondersitzung gemacht, denn deswegen hatten wir ja eine Sondersitzung zu Beginn der Sommerpause beantragt.

Aber diese Art eines möglichen Behördenversagens, wie wir es in Lügde vorfinden, haben wir meines Erachtens und nach dem jetzigen Kenntnisstand weder in Münster noch in Bergisch Gladbach.

Ich finde, es wird auch den beteiligten Polizeibeamtinnen und -beamten nicht gerecht, insbesondere in Bezug auf Bergisch Gladbach, wo mit sehr großer Akribie Chatprotokolle und Missbrauchsabbildungen ausgewertet werden und jede Tapete, jede Bettdecke oder sonst was in Augenschein genommen wird, um weitere Täter, aber vor allen Dingen weitere Kinder zu entdecken und diese Kinder zu befreien.

Ich finde, man kann diese Komplexe nicht vergleichen. Die Parallelen, die Sie ziehen, ziehe ich nicht. Das ist für mich der erste Grund, warum es dieser Anträge der AfD nicht bedarf und warum wir sie ablehnen werden.

(Beifall von den GRÜNEN und der FDP – Ver- einzelt Beifall von der CDU)

Den zweiten Grund habe ich bereits in Bezug auf die BAO Berg und die 360 eingesetzten Polizeibeamtinnen und -beamten in der Spitze der Ermittlungsarbeit angedeutet:

Wir überfordern unseren Untersuchungsausschuss Lügde, wenn wir meinen, dass wir weitere Komplexe hineinnehmen können. Wir haben den Untersuchungsausschuss vor einem Jahr eingesetzt. Wir haben inzwischen zahlreiche Akten vorliegen und zahlreiche Zeuginnen und Zeugen vernommen.

Aber wir haben auch nach einem Jahr noch nicht alle Akten auf dem Tisch, die wir noch brauchen und angefordert haben, allerdings nur noch anderthalb Jahre Zeit.

Wir haben eine ellenlange Zeugenliste, die wir momentan überhaupt nicht abarbeiten können – im Gegenteil: Nach jeder Zeugenvernehmung haben wir gefühlt zwei neue Zeugen auf der Liste.

Ich schaue den Ausschussvorsitzenden, Herrn Börschel, an: Wir kommen mit den Zeugenvernehmungen überhaupt nicht durch, weil wir bei jeder Vernehmung mindestens drei bis vier Stunden brauchen. Wir haben jetzt schon ein enormes Zeitproblem, überhaupt durch diesen Komplex „Lügde“ durchzusteigen.

Wenn wir uns und unsere Arbeit ernst nehmen, müssen am Ende Handlungsempfehlungen stehen. Ich will das nicht alles nur gemacht haben, um eine wichtige Aufklärungsarbeit geleistet zu haben, sondern ich will, dass wir nachher hoffentlich im Konsens gemeinsame Handlungsempfehlungen erarbeiten.

(Beifall von der SPD und der FDP)

Die muss es irgendwann auch geben, und zwar nicht erst in zehn Jahren, sondern in anderthalb Jahren, zum Ende der Legislatur.

Es ist vielleicht eine bittere Erkenntnis, dass wir meines Erachtens nicht jeden größeren Missbrauchsfall in einem PUA aufklären können. Ich habe zu Beginn gesagt: Wir haben eine riesengroße Dunkelziffer, und ich glaube, auch in den nächsten Jahren wird die Polizei noch weitere solcher großen Komplexe ausheben.

Das ist ja politisch gewollt; wir verstärken die Polizei, damit das Dunkelfeld aufgeklärt wird. Aber wir können nicht jeden Missbrauchsfall – so bitter das ist – in einem Untersuchungsausschuss aufklären. Das ist schier nicht möglich.

Deshalb haben wir uns ja darauf verständigt, mit der Kinderschutzkommission eine beständige Struktur im Parlament zu schaffen, um das Thema „Kinderschutz“ aufrechtzuerhalten, damit es eben nicht eine Eintagsfliege wird, sondern auch über Legislaturperioden hinaus ein wichtiges Thema in diesem Landtag bleibt. Ich meine, dass es eine wichtige und eine gute Entscheidung war, diese Kinderschutzkommission einzurichten.

Ich habe es schon mehrfach gesagt und bleibe dabei; das will ich mir auch immer wieder auf die Fahne schreiben: Aus meiner Sicht tragen wir hier die gemeinsame Verantwortung dafür, dass das Thema „Kinderschutz“ in anderthalb Jahren nach Ablauf dieser Legislatur nicht einfach so vorbei ist, sondern auch in der nächsten Legislatur und in der übernächsten – vielleicht von unseren Nachfolgerinnen und Nachfolgern – weiter bearbeitet wird, weil

Kinderschutz in unserer Gesellschaft unheimlich wichtig ist. Also lassen Sie uns doch dieser Verantwortung gemeinsam gerecht werden und Kinderschutz hochhalten.

Aber es gibt die bittere Erkenntnis, dass wir nicht jeden Fall aufarbeiten können; dazu haben wir nicht die Möglichkeiten. Wir sind nicht die besseren Polizeibeamtinnen und -beamten. Deshalb werden wir diese Anträge der AfD auch ablehnen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Schäffer. – Als nächster Redner hat Herr Abgeordneter Bialas für die Fraktion der SPD das Wort.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die pädokriminellen Verbrechen und die Aufarbeitung von Münster – ich werde im Weiteren hauptsächlich auf Münster eingehen – zeigen nach dem, was wir bisher wissen und mitbekommen haben, meines Erachtens, wo wir stehen: Wir sind immer noch relativ am Anfang eines Weges.

Wir sehen in Münster: Sobald Behörden und auch die Polizei den Straftatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs ernst nehmen und sogenannte harte Ausgangsfaktoren anerkennen, verfolgen sie den Sachverhalt konsequent und arbeiten in der Regel sehr professionell. Für den Bereich der Polizei sind wir heute auch dem Innenminister für seine Arbeit sehr dankbar; das sage ich sehr deutlich.

Wo es aber scheinbar nur weiche Hinweise gibt, wo die Verhinderung von Straftaten und die Prävention nicht in den Mittelpunkt rücken, wo kein schwerer Fall des Missbrauchs angenommen wird oder wo bereits Ermittlungsarbeit zu Beginn jenseits einer Technikfokussierung geleistet werden sollte, aber genau das nicht stattfindet, sind wir noch nicht wesentlich weitergekommen. Das zeigt Münster 2020 auf erschreckende Weise; Lügde war da bereits geschehen. Warum erneut diese Formen in Münster?

Niemand hat Verständnis dafür, dass bei einem zweimalig vorbestraften Pädophilen, bei dem erneut der Verdacht besteht, kinderpornografisches Material zu besitzen und zu vertreiben, bei dem eine Durchsuchung und Sicherstellung durchgeführt wurde, bei dem das Handy Mitte des Jahres 2019 ausgelesen wurde, wobei erneut einschlägiges Material, Filme und Fotos gefunden wurden, jenseits der Ausleseversuche von Datenträgern keine anderen Ermittlungen stattfanden.

Niemand hat Verständnis dafür, dass nichts weiter gemacht wurde, obwohl völlig klar war, dass sich dort ein Kind im unmittelbaren Zugriffsbereich des Täters befand.

Ein Jahr nach Sicherstellung, ein Dreivierteljahr nach Auslesen des Handys mit Kinderpornos darauf wurde nichts unternommen. Da hilft auch kein Verweis auf die enorme Datenmenge. Umso mehr müssen dann eben auch andere Ermittlungsmaßnahmen ansetzen und greifen.

In dieser Zeit, in der der Täter bereits wusste, dass die Polizei gegen ihn ermittelt, fanden die brutalen tagelangen Gruppenvergewaltigungen an zwei kleinen Jungen statt. Wie sicher muss sich dieser Täter gefühlt haben?

Warum – so fragen wir uns – wird nicht automatisch ein Verdacht des Missbrauchs und der sexuellen Gewalt angenommen, wenn ein Pädophiler wegen anderer Sexualdelikte gegen Kinder mehrfach auffällig wird und sich ein wehrloses Kind in seinem unmittelbaren Zugriffsbereich befindet?

Dabei geht es nicht um Strafverfolgung, sondern darum, Straftaten zu verhindern. Die Annahme, dass der Missbrauch und die sexuelle Gewalt gegen Kinder und das Anfertigen, Kaufen und Verkaufen dieser abscheulichen Filme und Bilder eng beieinanderliegen, ist doch nun wirklich nahe liegend.

Ebenso wissen wir doch mittlerweile auch, dass die Täter aus dem nahen Umfeld der Opfer stammen und meistens die Väter, Stiefväter oder die Lebensgefährten der Mütter sind.

Wie lässt sich sagen: In Münster gab es keinen Anfangsverdacht auf sexuellen Missbrauch? Musste wirklich erst ein Film gefunden werden, auf dem Täter und Opfer zu sehen waren? Brauchte es das, um dadurch und erst dann einen Ausgangspunkt für Ermittlungen zur sexuellen Gewalt zu erkennen? – Ich glaube, das ist ein Kernpunkt im Fall Münster.

Was wurde dann getan? – Auch das wird doch zu betrachten sein: ein planmäßiges Suchen nach Informationen mittels der zur Verfügung stehenden Maßnahmen zur Ermittlung, beispielsweise Befragungen, Vernehmungen, Observationen, Telekommunikationsüberwachungen, ein weiteres Sicherstellen und Durchsuchen möglicherweise, also ein umfassendes Ausleuchten des Verhaltens und Handelns des Täters.

Die Wohnungen von Opfer und Täter lagen meines Wissens in Sichtweite. Wir wollen schon wissen, warum dort nicht gehandelt wurde.

Insgesamt besteht bei den Behörden – das ist zunächst in einem freiheitlich orientierten Land auch völlig richtig so – eine deutliche Zurückhaltung und Schwierigkeit, wenn es in private Bereiche von Erwachsenen vorzudringen gilt.

Aber auch hier – das sei sehr deutlich gesagt – gilt für uns: Die Rechte der Kinder müssen höherwertig sein und vor den Rechten der Eltern gewahrt werden.

Die Kinder sind die Schwächeren und bedürfen daher größerer Unterstützung.

Eine primäre und aktuelle Betrachtung der Opfergefahr von Kindern und Jugendlichen im aktuellen Zeitalter ist eher lückenhaft; der Blick ist hier nicht scharf. Das Kind als Mittelpunkt der Betrachtung, als potenzielles Opfer gerade auch innerhalb der familiären und nahen sozialen Bezüge zu sehen, ist ein wesentlicher Schwachpunkt derzeitiger Behördenarbeit.

Lassen Sie mich noch etwas zum derzeitigen Untersuchungsausschuss IV hinzufügen. Ein Untersuchungsausschuss dient der parlamentarischen Kontrolle, der Aufdeckung von Sachverhalten, der Suche nach Strukturen als Ausgangspunkt für Verbesserungen.

Er ist selbstverständlich auch das schärfste Schwert der Opposition und ein politisches Kampfmittel. Wir sehen zurzeit leider, dass sich der eine oder andere dessen nicht enthalten kann.

Aber dieser PUA ist dennoch etwas anderes: Er ist ernsthaft von der breiten Überzeugung und dem breiten Willen getragen, Sachverhalte überhaupt erst einmal zu verstehen, aufzudecken, zu lernen, Änderungen anzustoßen.

Sexueller Missbrauch an Kindern ist nun nicht neu; vermutlich ist er so alt wie die Menschheit. Wellenförmig wird das Thema hochgespült und verschwindet dann wieder im Wellental. Wir sorgen im Untersuchungsausschuss auch dafür, dass das eben nicht geschieht, sondern das Thema präsent bleibt.

In der Tat wird das Delikt nicht einfach verschwinden. Es wird das in jeder Stadt immer geben. Jetzt hat man ein, zwei, drei Städte; wahrscheinlich werden alle quer durchs Land irgendwann dazukommen. Wir werden mit Sicherheit nicht in jede Stadt schauen.