Protokoll der Sitzung vom 27.08.2020

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie alle herzlich willkommen zu unserer heutigen, 98. Sitzung des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt auch den Gästen auf der Zuschauertribüne, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien sowie den Zuschauerinnen und Zuschauern an den Bildschirmen.

Für die heutige Sitzung haben sich neun Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Geburtstag feiert heute der Kollege Klaus Voussem von der Fraktion der CDU. Herzliche Glückwünsche und alles Gute im Namen aller Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall von allen Fraktionen)

Vor Eintritt in die Tagesordnung hat der Vorsitzende der SPD-Fraktion, der Abgeordnete Kutschaty, um das Wort zur Geschäftsordnung gebeten. Bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe einer Einladung der Staatskanzlei entnommen, dass der Ministerpräsident beabsichtigt, heute Nachmittag parallel zum Plenum eine Pressekonferenz zu geben und über die Ergebnisse des Kanzlerinnengipfels zum Thema „Weiterer Umgang mit der Coronakrise“ zu unterrichten.

(Zuruf: Das ist doch unglaublich!)

Herr Ministerpräsident, ich habe nichts dagegen, dass Sie Ihre Teilnahme an der Landtagssitzung unterbrechen, um an einer Ministerpräsidentenkonferenz im Rahmen einer Telefonschalte teilzunehmen; da vertreten Sie die Interessen unseres Landes.

Ich habe allerdings etwas gegen Ihr Verhältnis zu und den Umgang mit diesem Parlament, sehr geehrter Herr Ministerpräsident.

(Beifall von der SPD)

Wir mussten schon gestern erleben, dass Sie Ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen in Coronazeiten nicht zuerst uns Abgeordneten vorgestellt haben, sondern den unternehmern nrw parallel zum Plenum.

Heute wollen Sie das Gleiche noch einmal machen, indem Sie erst die Presse informieren und dann die Abgeordneten. Das gehört sich nicht, Herr Laschet. Hier ist das Parlament. Hier wird darüber diskutiert.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Deswegen beantrage ich für meine Fraktion die Aufnahme eines weiteren Tagesordnungspunktes in die heutige Tagesordnung gemäß § 20 Abs. 3 der Geschäftsordnung, nämlich eine Aussprache, Unterrichtung und Diskussion zu den aktuellen coronapolitischen Entwicklungen nach der Ministerpräsidentenkonferenz. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Herr Kutschaty. – Gibt es weitere Wortmeldungen dazu? – Das ist nicht der Fall.

Dann lasse ich über diesen Antrag zur Geschäftsordnung abstimmen. Wer ist für diesen Antrag? – Das sind SPD und Grüne. Wer ist dagegen? Das sind CDU, FDP und AfD. Wer enthält sich? – Das ist der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Damit ist dieser Antrag mehrheitlich abgelehnt.

(Unruhe)

Vor Eintritt in die Tagesordnung teile ich mit, dass die Fraktion der SPD am gestrigen Tage die Durchführung einer dritten Lesung zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung für Hochschulzulassung und zur Änderung weiterer Gesetze im Hochschulbereich Drucksache 17/9830 beantragt hat. Nach Verständigung aller fünf im Landtag vertretenen Fraktionen soll die Beratung heute unter dem Tagesordnungspunkt 18 neu als Block-I-Debatte stattfinden. – Dagegen sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich rufe auf:

1 Stahl ist Zukunft – wie reagiert die Landesre

gierung auf die aktuelle Zuspitzung der wirtschaftlichen Lage in der Stahlsparte von ThyssenKrupp

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/10708

Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 24. August 2020 gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu der oben genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Fraktion der SPD dem Abgeordneten Kutschaty das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vielleicht mag es daran liegen, dass ich aus Essen – der Krupp-Stadt – komme, aber

ich persönlich mag mir Nordrhein-Westfalen ohne Stahl nicht vorstellen.

Deutschland ist mit 42 Millionen Tonnen jährlich der größte Stahlproduzent Europas, der siebtgrößte weltweit. Doch die Lage rund um die Stahlproduktion ist sehr ernst:

Neben der internationalen Konkurrenz mit Dumpingpreisen setzt die Coronakrise der deutschen Stahlindustrie gerade ganz massiv zu. Eine weitere größere Herausforderung bestand schon vor der Coronakrise, nämlich der Klimaschutz.

Die Stahlindustrie ist für 30 % der CO2-Emissionen im industriellen Sektor verantwortlich, die bis zum Jahre 2050 auf nahezu null sinken sollen, was gut und auch richtig ist.

Wenn wir aber nicht wollen, dass die deutsche Stahlindustrie samt ihrer Arbeitsplätze und der daran hängenden Wertschöpfungsketten schon bald Geschichte ist, müssen wir auf technologischen Fortschritt, auf das Fachwissen und auf die Ingenieurskunst der Beschäftigten setzen.

Der Klimaschutz ist nämlich auch eine große Chance, weil jedes Herstellerland angesichts der klimapolitischen Entwicklungen wie der Erderwärmung zur Umrüstung auf klimaneutrale Produktion gezwungen ist.

Wem die Transformation am schnellsten und besten auf dieser Welt gelingt, der wird erst zum Technologie- und dann auch zum Marktführer inklusive enormer Gewinne wie neuer Arbeitsplätze und ganz neuer Wertschöpfungsketten.

Wenn wir uns über Stahl unterhalten, geht es also nicht um die Rettung einer aussterbenden Branche aus dem 19. Jahrhundert, was man hin und wieder auch vorgehalten bekommt, sondern um die Wettbewerbsfähigkeit auf einem wachsenden Markt für Zukunftstechnologie.

Stahl ist ein Technologieträger für klimaneutrale Wasserstofftechnik, für digitale Produktionsprozesse und für eine rohstoffsparende Kreislaufökonomie. Aus Stahl wird Fortschritt gemacht.

Allerdings werden nur jene Herstellerländer die Transformation schaffen, die das nicht alleine dem Markt überlassen; dazu fehlt es nämlich an Zeit und Kapital.

Das wissen die Inder; die Chinesen wissen das übrigens schon längst. Mithilfe staatlicher Investitionen greifen diese Länder nach der Marktführerschaft. Kein Gerede – wie man es bei uns häufig hört –, der Staat sei nicht der bessere Unternehmer, wird Länder wie China oder Indien davon abhalten, ihre Stahlproduktion auch mit Staatshilfe weltweit nach vorne zu bringen.

Der Bundeswirtschaftsminister hat das erkannt, jedenfalls in der Theorie. Peter Altmaier schreibt:

„Industriepolitische Strategien erleben in vielen Teilen der Welt eine Renaissance, es gibt kaum ein erfolgreiches Land, das zur Bewältigung der Aufgaben ausschließlich und ausnahmslos auf die Kräfte des Marktes setzt“.

Genau deshalb fordert er einen Fonds für staatliche Unternehmensbeteiligungen, durch den Investitionen in Zukunftstechnologien ermöglicht und langfristig abgesichert werden. Was soll ich sagen? – Recht hat der Bundeswirtschaftsminister. Wenn Deutschland auch noch in 20 Jahren eine führende Industrienation sein soll, wird das nicht anders gehen.

Das Handlungskonzept Stahl, das die Bundesregierung verabschiedet hat, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, aber es reicht nach meiner Einschätzung bei Weitem noch nicht aus.

Bis 2050 – das habe ich gerade schon erläutert, so das Ziel der EU-Kommission – soll die europäische Industrie nahezu klimaneutral produzieren. Nach Schätzungen der OECD wird im gleichen Zeitraum die weltweite Nachfrage nach Rohstahlprodukten um bis zu 50 % steigen. Mit anderen Worten: Wer das Technologieziel erreicht, wird als Belohnung Wirtschaftswachstum abgreifen können.

Allerdings ist dieser technologische Fortschritt, den wir alle brauchen, um weiterhin zukunftsfähig zu sein, extrem teuer. Als Faustregel gilt: Produktionskapazität für 1 Million Tonnen klimaneutralen Stahl kostet rund 1 Milliarde Euro. Wir reden also von mindestens 30 bis 40 Milliarden Euro Investitionen bis zum Jahre 2050.

Wenn wir uns die wirtschaftliche Lage der deutschen Stahlunternehmen anschauen, ist relativ schnell zu übersehen, dass keines der am deutschen Markt produzierenden Unternehmen diese Investitionen, die man tätigen muss, um Weltmarktführer sein zu können, wird aufbringen können.

Daher müssen wir jetzt durch eine Fusion von thyssenkrupp steel und der Salzgitter AG einen deutschen Stahlchampion schaffen. Die beiden Unternehmen unterhalten mit dem HKM-Werk bereits jetzt schon eine gemeinsame Tochtergesellschaft in Duisburg. Das ist der Nukleus des neuen Global Players.

An diesem neuen Stahlchampion müssen sich die Bundesrepublik Deutschland und das Land Nordrhein-Westfalen als Anteilseigner beteiligen, denn nur die Staatsbeteiligung gibt die notwendigen finanziellen Sicherheiten für diese immensen Zukunftsinvestitionen, die man zwingend braucht.

Lassen Sie mich noch einen zweiten Aspekt ansprechen: Wir müssen auch wieder als öffentlicher Auftraggeber unsere heimische Wertarbeit schätzen. Ich kann doch niemandem erklären, dass wir weltweit

deutschen Stahl als eines unserer besten Produkte exportieren und gleichzeitig chinesischen Billigstahl für unsere Autobahnbrücken importieren.

(Beifall von der SPD)

Auch da müssen wir ran: Wir müssen unser Vergaberecht ändern, auch auf europäischer Ebene. Dafür ist jetzt die Zeit gekommen, denn jetzt macht die Europäische Union enorme Schulden, um die Wirtschaft in dieser Pandemiephase zu stützen.

Es hat aber doch keinen Sinn, dass der deutsche Steuerzahler Subventionen an thyssenkrupp zahlt und im Gegenzug auf einer kaputten Brücke im Stau steht.