Protokoll der Sitzung vom 27.08.2020

(Beifall von der FDP)

In Nordrhein-Westfalen haben wir bei der Stärkung der Inklusion bereits einiges erreicht.

(Hans-Willi Körfges [SPD] stößt versehentlich eine der zum Schutz vor Corona installierten Acrylglaskabinen herunter. – Beifall von der CDU und der FDP – Josef Hovenjürgen [CDU]: Hätte ich auch gerne gemacht!)

Ich hoffe, dem Kollegen geht es gut.

Der Teilhabebericht zeigt deutlich, dass sich in den letzten Jahren in vielen Lebensbereichen positive Veränderungen ergeben haben. Er veranschaulicht aber ebenso die noch zu meisternden Herausforderungen.

Die NRW-Koalition von FDP und CDU steht für eine realistische Inklusionspolitik. Dies bedeutet, dass wir keinen radikalen Wandel brauchen. Wir wollen keine Umsetzung wie bei der schulischen Inklusion, die von Rot-Grün völlig an der Lebenswirklichkeit vorbei geplant wurde und die ohne ausreichende personelle und finanzielle Unterstützung der Schulen zu Chaos geführt hat.

Stattdessen setzen wir darauf, dass anerkannte, bewährte und verlässliche Strukturen erhalten bleiben und gleichzeitig Neues entstehen kann. Das ist auch

unser Weg bei der qualitätsorientierten Umsetzung des gemeinsamen Lernens von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung.

Der Teilhabebericht zeigt auch, dass die Entwicklung der Teilhabe nicht in allen Lebensbereichen einheitlich verläuft. Insofern liefert der Bericht Ansatzpunkte für weitere Anstrengungen, um die Lebenssituation von Menschen mit Beeinträchtigungen weiter zu verbessern.

Ich möchte ein besonderes Augenmerk auf das Thema „Teilhabe am Erwerbsleben“ legen. Im Jahr 2017 waren in Nordrhein-Westfalen 7 % der Menschen ohne Beeinträchtigung arbeitslos. Bei Menschen mit Beeinträchtigungen lag der Anteil mit 12 % deutlich höher. Vor allem die Anzahl der langzeitarbeitslosen Menschen mit Schwerbehinderung ist stark angestiegen, ebenso wie die durchschnittliche Dauer ihrer Arbeitslosigkeit.

Zur Stärkung der Teilhabe an Arbeit setzen wir auf innovative, praktikable und betriebsnahe Lösungen. Wir wollen das Budget für Arbeit verstärkt nutzen. Für uns haben Kooperationen zwischen Werkstätten und Betrieben des ersten Arbeitsmarkts Modellcharakter, und wir wollen die Werkstätten weiterentwickeln. Angesichts der COVID-19-Pandemie haben wir die erfolgreiche Arbeit der Inklusionsbetriebe abgesichert, und wir sehen auch in der Digitalisierung Chancen für mehr Teilhabe.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Partizipation. Im Jahr 2015 waren in Nordrhein-Westfalen noch 22.471 Menschen vom allgemeinen Wahlrecht ausgeschlossen. Der Ausschluss von Wahlen wurde auf Initiative dieses Hauses im Jahre 2016 aufgehoben, sodass Menschen unter rechtlicher Betreuung bei den Landtagswahlen 2017 erstmals wählen durften. Damit waren wir Vorreiter für den Bund.

Wir unterstützen Teilhabe auch praktisch – beispielsweise bei den aktuell anstehenden Kommunalwahlen mit spezifischen Wahlschablonen für blinde und sehbehinderte Menschen.

Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns zusammen mit den Verbänden und Selbstorganisationen einen neuen Aktionsplan erstellen. Lassen Sie uns dabei weiter an einer realistischen Inklusionspolitik arbeiten, die den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht wird. Inklusion muss sich stets am Menschen orientieren.

In diesem Sinne freue ich mich auf die weiteren Beratungen im Ausschuss und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und Daniel Hagemeier [CDU])

Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der SPD hat der Abgeordnete Herr Neumann das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Teilhabebericht der Landesregierung zur Situation der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen bringt viel Licht, aber er bringt auch viel Schatten.

Inklusionspolitik ist kein Kurzlauf, sondern ein Marathonlauf. Der Marathon wurde eingeleitet durch den Aktionsplan der rot-grünen Landesregierung unter dem Motto „NRW inklusiv“. Es war ein starker und großer Aktionsplan, um letztendlich die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention voranzubringen.

Bei der Inklusionspolitik geht es nicht so sehr um die Frage von Realismus, Kollege Lenzen, sondern es geht um die Frage, wie wir die nicht nur in der Verfassung, sondern insbesondere in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschriebenen Rechte umsetzen. Das ist der Maßstab, mit dem wir es zu tun haben.

Dazu zeigt der Teilhabebericht für Nordrhein-Westfalen durchaus sehr viele Fortschritte auf. Wir müssen aber gleichzeitig feststellen, dass wir noch viel zu tun haben.

So schön es ist, dass am 13. September alle Menschen mit Behinderung wählen können, so schlecht ist es, dass wir nach wir vor feststellen müssen, dass ein Großteil der Wahllokale noch immer nicht barrierefrei ist. Im Gegenteil: Häufig erleben wir diesbezüglich sogar Rückschritte.

Die Frage der Partizipation, die Frage des Arbeitsmarkts, die Frage der Bildung haben meine Vorredner teilweise schon angesprochen.

Dass der Inklusionsansatz an den nordrhein-westfälischen Gymnasien fast bei null liegt, kann man nicht als großen Erfolg der bisherigen NRW-Inklusionspolitik und der eingeschlagenen Wege bezeichnen.

Herr Lenzen, das ist genau der Realismus, den wir nicht haben wollen. Denn Realismus bedeutet, sich nicht hinter jeder Hürde, die sich bei der Inklusion in den Weg stellt, zu verstecken und wegzuducken, sondern das Ziel besteht darin, diese Hürde zu überspringen und neue Maßstäbe zu setzen. Das muss der Maßstab von Inklusionspolitik sein.

(Beifall von Michael Hübner [SPD])

„Nicht ohne uns über uns“ – dieser Ansatz der Menschen, die sich seit Jahren in der Bewegung für die Rechte der Menschen mit Behinderung engagieren, muss auch für die zukünftige Planung einer neuen Politik für Menschen mit Behinderung in NordrheinWestfalen gelten.

„Nicht ohne über uns“ muss heißen: eine massive Einbindung der Betroffenen vorzunehmen, die Betroffenen zu Beteiligten zu machen und gemeinsam mit ihren Verbänden und Institutionen an den neuen Ideen für die Inklusionspolitik und ihre Umsetzung in Nordrhein-Westfalen zu arbeiten.

Unabhängig von der Frage, wie weit wir im Ausschuss schon in den Beratungen sind oder sein werden, hoffe ich, Herr Minister – denn das ist wichtig –, dass das Ministerium schon jetzt aktiv ist, die Akteure an einen Tisch und das Ganze nach vorne bringt.

Ich bin nämlich der Meinung, dass wir auf unterschiedlichsten Ebenen in Bezug auf die zukünftige Arbeit gemeinsam etwas auf den Weg bringen müssen, das wiederum eine Nachhaltigkeit nach sich zieht, sodass wir am Ende des nächsten Teilhabeberichtes sagen können: Ja, es hat die nächsten großen Schritte gegeben.

Das heißt: Lassen Sie uns gemeinsam jetzt nicht Zeit verlieren, sondern sehr genau analysieren, wo der Teilhabebericht Schatten aufzeigt. Wie können wir diesen Schatten beseitigen? Indem wir Maßnahmen einleiten – sei es per Verordnungen oder Gesetze oder durch Kampagnen –, um die UN-BRK in Nordrhein-Westfalen weiter zu manifestieren.

Das haben wir in den letzten Jahren meines Erachtens gemeinsam gut geschafft, indem wir diese Gemeinsamkeit in der Teilhabepolitik für Menschen mit Behinderung auf sehr breiten Schultern getragen haben. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden das hier gemeinsam mit allen, die willens sind, weiterhin tun und die Sache unterstützen.

Ich denke, dass wir es gemeinsam tun können, wenn wir anerkennen, dass die UN-BRK der Maßstab ist, der für uns alle gemeinsam hier in Nordrhein-Westfalen gilt.

Dieser Marathon muss also weitergehen. Wir müssen schonungslos auflisten, wo es massive Probleme gibt. Diese müssen wir gemeinsam angehen. Das Ministerium ist sicherlich schon dabei, die Schritte dazu einzuleiten. Diese werden wir parlamentarisch begleiten.

Zum Schluss sage ich noch einmal: „Nicht ohne uns über uns.“ Machen Sie die Betroffenen zu Beteiligten. Nehmen Sie sie in diesem Prozess mit. Nur so werden wir es gemeinsam schaffen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Neumann. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Mostofizadeh.

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich war etwas

überrascht, als ich diese Anträge auf der Tagesordnung für das Plenum gesehen habe, weil wir Grünen der Auffassung waren, dass der Teilhabebericht erst einmal ausführlich in den Ausschüssen diskutiert werden sollt, denn immerhin – der Kollege Neumann hat darauf hingewiesen – umfasst der Bericht 300 Seiten. Das gilt aber nicht nur wegen der Stärke des Berichtes, sondern auch, weil einiges an dem Bericht noch auszuwerten ist.

Deswegen danke ich den Kolleginnen und Kollegen dafür, dass es da eine Kehrtwende gegeben hat, wir die Anträge jetzt in die Ausschüsse überweisen und sie zum Anlass nehmen können, uns dem Bericht etwas intensiver zuzuwenden. Wir haben das für die nächste Ausschusssitzung beantragt.

Einige Worte zum Bericht selbst: Im Bericht wird ausgeführt, dass es in einigen doch durchaus interessanten, wichtigen und wesentlichen Bereichen der Lebenswelt der Menschen mit Behinderungen in Bezug auf die Datenlage einen erheblichen Nachholbedarf gibt. Mit Blick auf die Barrierefreiheit in Schulen, das Lebensumfeld, die Kultureinrichtungen müsste noch einiges erhoben und ausgeführt werden.

Ein ganz wichtiger Aspekt, der noch nicht angesprochen worden ist, ist das Thema der Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderungen – insbesondere in Einrichtungen, aber auch im häuslichen Umfeld. Auch dort sind die Zahlen leider negativ beeindruckend. Das ist nicht ganz neu, aber es ist eine Situation, mit der wir uns intensiv auseinandersetzen sollten.

Wichtig wäre mir auch – ein Brückenschlag zurück zum häuslichen Bereich bzw. zum Lebensumfeld der Menschen mit Behinderungen – das Feld der Mobilität und der Mobilitätsbedürfnisse von Menschen mit Behinderungen.

Wir haben es schon bei der Landesbauordnung und in vielen anderen Zusammenhängen kritisiert, diskutiert und vorgetragen: Eine Stadtentwicklungspolitik bzw. eine Politik für die Menschen in diesem Lande unter Ausklammerung einer ganz wesentlichen Gruppe der Menschen kann eigentlich nicht funktionieren.

Wenn wir die Bedarfe dieser Personengruppe nicht ausführlich diskutieren, analysieren und Schlüsse daraus ziehen, machen wir ein Stückwerk, weil wir dann auch in einer älter werdenden Gesellschaft einen ganz wesentlichen Teil der Menschen in diesem Lande ein Stück weit ausklammern.

Herr Kollege Lenzen, ein Aspekt ärgert mich. Wenn Sie anhand dieses Berichtes zur Inklusion, der ja in Bezug auf das Thema „Bildung“ eine relativ klare Sprache spricht – nämlich, dass Inklusion im Wesentlichen an den Grund- und Gesamtschulen stattfindet und die Zahlen ansonsten bis hin zum Gymnasium in verschwindend geringe Bereiche heruntergehen –,

eine schulpolitische Debatte aufziehen, die eigentlich vier oder fünf Jahre zurückliegt – damals haben Sie in Bezug auf die Verstärkung dieser Inklusion, dieses Zusammenlebens von Schülerinnen und Schülern schon wesentliche Fehlentscheidungen dahin gehend getroffen, alte Strukturen wie Kleinstförderschulen per Kampf aufrechtzuerhalten, infolge derer Lehrerinnen und Lehrer sowie Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen von den Gesamtschulen aus bestehenden Strukturen zurückgeholt worden sind –, dann finde ich das schon einigermaßen abenteuerlich.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Herr Minister, ich mache aber einen positiven Aufruf: Wir haben meiner Meinung nach mit diesem Bericht die Chance, uns noch intensiver mit diesem Thema zu beschäftigen.

Ich unterstreiche ausdrücklich das, was die Kollegen von der CDU bzw. der FDP in Bezug auf die Erwerbsarbeit gesagt haben.

Wir müssen uns aber ganz intensiv mit dem Lebensfeld der Menschen auseinandersetzen. Deswegen unterstreiche ich sehr ausdrücklich das, was Kollege Neumann gesagt hat.