Herr Präsident, meine Damen.und Herren! Es war diese Lan.desregierung, die 1993 den e,rsten rheinland-pfälzischen Armutsbericht vorgelegt hat. 1998 wurde dann in meiner Verantwortung als Ressortminister der zweite Armutsbericht erarbeitet. Wir wollen die Armutsberichterstattung sozusagen als.,work in progress" fortschreiben und immer wieder mit neuen Akzenten und Schwerpunkten versehen. Das ist also ein laufender Prozess.
in über. 50 Jahren der Bundesrepublik Deutsch land hat es bisher noch keirien einzigen Armutsbericht einer Bundesregierung gegeben. Es ist diese Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder, die zurzeit den ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorbereitet. Meine Damen und Herren von der CDU, da erstaunt es doch etwas, wenn gerade Sie uns gute Ratschläge erteilen wollen, wie so ein Armutsbericht aussehen sollte.
Im ersten Bericht 19-93 musste der Akzent darauf gelegt werden, auf Problemlagen in unserem wohlhabenden Land ein
mal aufmerksam zu machen; denn die Armutsdebatte ist noch nicht so alt.· Sie ist paradoxerweise in der Zeit, als es massive Armut in breiten Bevölkerungsschichten gab, nämlich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, gar nicht geführt worden. Damals war Armut gewissermaßen ein natürli
ches Schicksal nach dem verlorenen Krieg. Es hat lange gedauert, bis das Wirtschaftswunderland Deutschland sich selbst nicht mehr als ein sehr homogenes gesellschaftliches
Gebilde empfunden hat. sodass es in den 70er- und 80erJahren wieder möglich gewesen ist, genauer hinzuschauen, ob alle Menschen bei dem Wohlstand mitgenommen werden und die sozialen Probleme so gelöst sind, wie wir uns das als soziale Marktwirtschaft und als ein relativ wohlhabendes und hoch entwickeltes Land vorgestellt haben.
Wenn wir unsere Armutsberichterstattung fortsetzen, tun wir gut daran, Doppelarbeit zu vermeiden. Wir werden also den Bericht der Bundesregierung, der derzeit sozusagen in der Zielgerade ist, auswerten,.bevor wir dann in den nächsten Jahren einen weiteren Armutsbericht auf Landesebene vorlegen. Wie dieser gemeinsam erarbeitet wird, dazu wird noch etwas zu sagen sein.
Es ging uns bei diesem zweiten Armutsbericht der Landesregierung weniger um die Definition von Problemlagen als um Maßnahmen zur Überwindung von Armut. Die Armutsdebat
Ich war selbst Zeuge, als einer der engagiertesten Armutsforsch er, Stephan Leibtried von der Universität Bremen, der
auch gleichzeitig ein außerordentlich gesellschaftskritischer Sozialwissenschaftler ist, das Lebenslagenprinzip in den
Vordergrund gestellt und vor etwa 15 Jahrenempirisch nachgewiesen hat, dass es nicht so ist, dass die Armutsbevölkerung ein verfestigter Teil der Gesellschaft ist, der über Generationen hinweg in Armut bleibt, während die Mehrheit der Gesellschaft - ob es zwei Drittel oder drei Viertel sind, ist dann eine Frage des Maßstabs - nie v~n Armut betroffen ist. Stephan Leibfried, den ich auch persönlich gut kenne und mit dem ich bei man,chen Auseinandersetzungen auch heftig gestritten habe, hat damals entdeckt, dass die Fluktuation in der Armutsbevölkerung erstaunlich groß ist.
Das ist übrigens ein Phänomen, daswir auch bei der Sozialhilfeberichterstattung zunehmend bestätigt finden. Es gibt nicht die Generationen von Familien, die in der sozialen Hän
gematte liegen und jahrzehntelang ausschließlich von Lohnersatzleistungen, von der Staatsknete oder von was auch immer leben, sondern es gibt vie-le Menschen, die vorüberge. hend ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt oder einmalige Leistungen beanspruchen. Au~h diejenigen, die ausschließlich von Sozialhilfe leben, sind sogar die Ausnahme. Der Regelfall ist eine Kombination von Einkommenselementen und auch von Einkünften, die dann zusammen zu einem Ergebnis führen, das entweder Sozialhilfebedarf deutlich macht oder auch nicht, wenn es nicht sorgfältig genug und aktiv durch eine. aufspürende Sozialarbeit entdeckt wird, die dann auch zu den besonders unerfreulichen Fällen der verschämten Armut. führt, bei der Menschen nicht in der Lage sind, ihre Interessen wahrzunehmen.
Zur verschämten Armut gebe ich noch einen Hinweis, den wir in den letzten Wochen aus verschiedenen empirischen Unter
suchungen bekommen haben und den ich für sehr interessant halte. Im bisherigen RegierungsbezirkTrierhaben wir ei
nerseits die geringsten Sozialrenten in Deutschland. Wir haben andererseits auch den geringsten Anteil alter Menschen in der Sozialhilfe. Das ist ein Hinweis darauf, dass es offenbar bestimmte Milieus gibt- zum Beispiel ländliche, auch konser
vativere Milieus -, wo es doch offensichtlich ein gewisses Maß, ein deutlich auffallendes Maß an Armutsfällen gibt, die, wenn sie geltend gemacht würden, zu Sozialhilfe führen würden. Ich will damit nicht sagen, dass Sozialhilfe ein Phä
nomen des Alters ist. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist immer weniger ein Phänomen des Alters, aber dieser Hinweis, besonders geringe Renten und besonders wenige alte Menschen in der Sozialhilfe in einer Region, ist ganz offensichtlich ein Hinweis darauf, dass es Hemmungen gibt, die Möglichkeiten in Anspruch zu _nehmen, die der Staat vorsieht.
Diese Lebenslagenuntersuchurigen haben auch deutlich gemacht - ich kann das bestätigen, was in der Debatte gesagt wurde -, dass es durchaus Armutsrisiken bis in die mittleren sözialen Schichten gibt. Dabei haben wir nicht wie in Amerika. eine enorme Fluktuation auch in der Lebenszeitbetrachtung, dass sich jemand zwei- oder dreimal unternehmerisch versucht, vorübergehend wohlhaber:1d, vielleicht sogar reich ist
und dann für zwei oder drei Jahre wieder völlig zurückfällt, umzieht, es von neuem versucht, sich hochrappelt und dann irgendwann die dritte Chance ergreift. Das gibt es in Deutschland wenig, weil wir eine relativ statische Gesell
.schaft sind'. Aber auch bei uns gibt es Armutsrisiken bis in die mittleren sozialen Schichten. Auch da muss man genau hin
schauen, welche Faktoren dazu beitragen, dass d_ann Armut in Milieus in Erscheinung tritt, die man eigentlich für armutsresistent hält.
Da sind wir schon bei den besonderen Risiken für die Armut. Das ist in erster Linie das Risiko der Arbeitslosigkeit. Das ist in zweiter Linie das Risiko der Familiengröße. Kinder sind leider Gottes- nicht in der Sozialhilfe, aber außerhalb der Sozialhilfe und bevor Sozialhilfe in Anspruch genommen wird -.ein sehr häufiges Armutsrisiko. Das ist auch ein Hinweis darauf, dass der Familienleistungsausgleich, obwohl er enorm weiterentwickelt worden ist, gerade auch von dieser Bundesregierung weiter erhöht worden ist, immer noch ein gutes Stück von dem soziokulturellen Existenzminimum entfernt ist.
Meine Damen und Herren, Sie-kennen mich nicht als einen Fantasten, der ständig Fernziele beschreibt und dabei vergisst, was man wirklich machen kann. Ich bin persönlich der Überzeugung, dass wir erst dann mit dem Familienleistungsausgleich zufrieden sein können, wenn die NormalverdieneTund vor allen Dingen die Kleinverdienerfamilie außerhalb der Sozialhilfe ein Kindergeld in der Höhe der Sozialhilfe für Kinder bekommt und niCht darunter.
Deswegen ist auch das, was die Landesregierung· als Kindergeldzuschlag auf den Weg gebracht hat, so wichtig, damit Kinder als Armutsrisiko soweit wie irgend möglich ausscheiden.
Dieses von mir eben beschriebene Ziel hat übrigens verwegenerweise auch der Bundesfinanzminister vor einigen Monaten einmal beschrieben. Er hat als Perspektive- ich fürchte, in einem längeren Zeitabschnitt, als sich andere das wün
schen - 400 DM für das Kindergeld für das erste und zweite Kind avisiert. Wollen wir einmal sehen, ob wir in den näch
sten Jahrzehnten trotz des Schuldenabbaus, der dringend notwendig ist, und trotz der Steuerreform in die Lage ver
setzt werden, den Familienleistungsausgleich zumindest für die Kleinverdienerfamilien so weiterzuentwickeln.
Meine Damen und Herren, ich wehre mich aber auch gegen Stellvertreterdebatten, also gegen Auseinandersetzungen über einen Armutsbericht, die zum Teil Debatten im elfenbeinernen Turm der sozialwissenschaftliehen Schulen und Denkrichtungen sind, wo die Gutachter untereinander streiten, wer wo einen Auftrag bekommen hat und wie man wohl ein solches Gutachten formuliert und dass das eine besser ist als das andere. Da gibt es sehr vielsozialwissenschaftliehen Ehr
geiz und Prestigedenken. Das führt uns nicht weiter, und die armen Menschen schon gar nicht. Eine Debatte über den Ar
mutsbericht, die in solchen vordergründigen Auseinandersetzungen über Denkschulen stecken bleibt, bringt nichts.
wir in der Politik über einen Armutsbericht und über Armutsberichterstattung streiten und in Wirklichkeit über unter
lungen von Gerechtigkeit, über unterschiedliche Vorstellungen, wie eine Gesellschaft beschaffen sein soll, streiten, wie zum Beispiel die Spanne zwischen hohen und geringen Ein
kommen sein soll, welches Maß an Gleichheitwir wollen oder nicht wollen. Dann soll man bitte schön aber auch über diese Themen sprechen und nicht auf dem Umweg über die Ar
mutsberichterstattung: Was lassen wir an Ungleichheit dort zu, wo wirtschaftliche Ungleichheit entsteht?
Meine Damen und Herren, ich neige zu der Auffassung, wenn wirtschaftliche Dynamik im E'rgebnis Armut bekämpft, dann habe ich wenig dagegen, dass die dyna-mischen Kräfte, die Wachstum zum Beispiel in der Informationstechnik vorantrei