Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur ganz kurz, weil Sie sich auf das Gespräch beim Arbeitsamt bezogen haben, bei dem uns eine vorsichtige Schätzung präsentiert wurde, wie viele Arbeitslose es in unserem Arbeitsamtbezirk vielleicht weniger gibt, weil Hartz so erfolgreich ist und es so gut greift.
Einmal unabhängig davon, dass das alles sehr im Trüben gefischt ist, sind die Zahlen nicht so rosig, wie Sie sie darstellen, weil die Frage auch immer ist, was mit diesen Arbeitslosen passiert, die aus der Statistik herausgefallen sind.
Dazu hat uns der Leiter des Arbeitsamts schon deutlich gesagt, dass man in den Fällen, die man für nicht mehr vermittelbar hält, einfach darum bittet, dass sie doch bereit sein mögen, sich aus der Statistik hinauszubegeben. Was heißt denn das? Wem liegen die dann auf der Tasche?
Sie sind vielleicht nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik, aber das heißt doch nicht, dass das Problem dieser Menschen gelöst ist.
Der zweite Punkt, der auch nicht dazu beiträgt, dass ich das als großen Erfolg verkaufen möchte, ist, dass er deutlich gemacht, dass der potenzielle Rückgang der Arbeitslosenzahlen darauf zurückzuführen ist, dass er ganz viele Menschen mit der Möglichkeit der Frühverrentung konfrontiert hat.
Das ist auch nicht die Lösung, wenn wir die Menschen mit 55 in Rente schicken und sagen, das seien ganz tolle Erfolge unserer Arbeitsmarktpolitik. Dass die Menschen danach noch 35 Jahre ihres Lebens unproduktiv zu Hause sitzen und die Mittel, anstatt dass sie bei der Bundesanstalt für Arbeit auflaufen, bei der Rentenkasse auflaufen, da wäre ich doch sehr vorsichtig, dies als Erfolg zu verkaufen.
(Zuruf des Staatsministers Zuber – Mertes, SPD: Fragen Sie einmal Helmut Kohl, wie er das gesehen hat! So ein kurzes Gedächtnis!)
Sehr geehrter Herr Kollege: Ich weiß nicht, ich sehe diese Aussage nicht so. Herr Fries von der Agentur hat uns das im Detail erläutert. Auch dort haben Sie das vorgebracht, was Sie jetzt erläutert haben. Das konnte er entkräften.
Natürlich ist es so, dass sich viele derjenigen, die sich zunächst einmal als arbeitslos gemeldet haben, aufgrund der erschwerten Eingliederung nicht mehr melden. Aber das soll auch Teil der Hartz-Reform sein, oder verstehe ich irgendetwas falsch? Das ist der eine Punkt.
Der Zweite ist dann, dass wir nicht sagen, dass wir die Maßnahmen, die den Menschen helfen sollen, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen, – – – Diese Maßnahmen wollen wir im Gegensatz zu Ihnen nicht streichen. Bei uns geht das schon zusammen.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen, meine Herren! Nach dieser regional gerichteten kleinen Auseinandersetzung zwischen den beiden möchte ich eine ganz allgemeine Frage an den Beginn meiner Ausführungen stellen, nämlich die Frage, warum wir eigentlich Sozialpolitik machen.
Ich denke, wir machen Sozialpolitik, weil wir wissen, dass Menschen in Notlagen kommen können, in denen sie sich nicht mehr selbst zur Gänze oder zum Teil helfen können, und wir auch wissen, dass sich das nicht von allein erledigt. Das ist selbst in Reihen der Oberliberalen angekommen, dass sich nicht alles von selbst erledigt.
Deshalb machen wir Sozialpolitik. Es könnte sein, dass wir mit einem solchen Satz alle noch einigermaßen leben können. Wir können das moralisch begründen mit bestimmten Wertvorstellungen, die wir haben. Das ist dann jedoch eher eine Überzeugungsfrage, ob wir dem folgen können oder nicht. Wir können das aber auch sehr interessengeleitet begründen.
Zu dem Moralischen will ich sagen, ich glaube, eine Gesellschaft braucht Werte, die auch eine soziale Verantwortung selbstverständlich umfassen. Aber es ist ganz gut, wenn es sozusagen auch noch eine interessengeleitete Seite gibt.
Diese interessengeleitete Seite ist die gesellschaftliche Seite, die sagt, wenn Armut, wenn soziale Notlagen ein bestimmtes Ausmaß annehmen, wirkt sich das direkt auf das Klima einer Gesellschaft aus, möglicherweise auf die Stabilität und den sozialen Frieden. Der Profit von guter Sozialpolitik kann auch der Profit Stabilität und sozialer Friede sein.
Das ist im Übrigen eine Erkenntnis, die auch beispielsweise – in früheren Zeiten zumindest gegriffen hat – bei Funktionären von Arbeitgebern und Industrieverbänden greift. Ich habe in den vergangenen Jahren häufiger den Eindruck, dass diese Erkenntnis sich zumindest zum Teil verflüchtigt hat, dass es auch in diesem Sinn Interessen gibt.
Was wir bei solch allgemeinen, fast schon akadem ischen Ausführungen zur Sozialpolitik feststellen müssen, ist, dass die Realität das längst eingeholt hat. Wir haben eine riesige Zahl von Betroffenen – das sind diejenigen, denen Sozialpolitik zuteil wird –, und wir haben eine große Zahl unterschiedlichster Probleme, mit denen wir es zu tun haben, und darauf muss reagiert werden.
Dennoch bleiben die Ziele von Sozialpolitik in einer zeitlichen Kontinuität eigentlich gleich. Das heißt grundsätzlich, Notlagen abfedern und überwinden, Eigenverantwortung ermöglichen, Ausgrenzung verhindern und Integration oder Reintegration fördern. Wie gesagt, die Gesellschaft hat auch etwas davon, nicht nur die Betroffenen, wenn dies gelingt.
Es stellt sich die Frage: Wie reagiert man darauf, wenn immer mehr Menschen in besondere Notlagen geraten? – Es ist völlig unbestritten, dass dies bei uns im unterschiedlichsten Ausmaß der Fall ist. Es gibt Menschen, die sagen, man müsse sich in diesem Fall noch weiter aus dem Bereich der Sozialpolitik zurückziehen.
Das soll einer verstehen! Da haben Sie allerdings Recht, Herr Kollege Rösch. Ich verstehe es nicht, aber vielleicht bekommen wir es heute noch erklärt. Bisher ist es nicht gelungen.
Ich denke, eine steigende Zahl von Menschen, die in soziale Schieflage geraten oder gefährdet sind, in eine soziale Schieflage zu geraten, bedeutet auf der Politikseite ein erhöhter Handlungsbedarf. Dies bedeutet nicht immer, aber auch mehr Geld. Wer der Illusion nachhängt, so etwas lasse sich mit weniger Geld machen, ist auf dem Holzweg; denn es gibt Einflüsse, die diese Entwicklung bedingen. Stichpunkte wie die gesellschaftliche Lage, die demographische Entwicklung und gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind bereits genannt worden.
Aber es stellt sich auch die Frage: Wie ist die Kinderbetreuung organisiert? – Ich gebe ausdrücklich der Kollegin Thelen Recht: Es ist zumindest eine Frage wert, ob ein wichtiger Bereich, der mit darüber entscheidet, wie Menschen mit ihrer Realität zurande kommen, nicht in der Familienpolitik angesiedelt werden sollte. Dies ist zumindest eine Frage, die erwägenswert ist. Wenn man die Kinderbetreuung in den Bereich dieses Ministeriums übertragen würde, gäbe es allerdings andere Probleme. Dies will ich auch gern einräumen. Es ist eine Frage der Verzahnung und der Vernetzung.
Es gibt selbstverständlich auch individuelle Bedingungen bei den Betroffenen, die mit eine Rolle dafür spielen, dass sie in soziale Schieflagen geraten. Aber diejenigen, die diese individuellen Faktoren in den Mittelpunkt der Diskussion stellen und unter dem Signum der Eigenverantwortung sagen, diese Menschen müssten auch selbst damit klar kommen, vernachlässigen, dass die Bedingungen, unter denen die Menschen leben und in die sie hineingeraten, gesellschaftliche Bedingungen sind und es somit auch eine gesellschaftliche Verantwortung gibt. Von daher ist der bloße Verweis auf die Ausbildung von individuellen Einstellungen und der Hinweis auf die Eigenverantwortung, die es rechtfertige, diese Menschen sich selbst zu überlassen, zu kurzschlüssig.
Ich denke, dass es die soziale Situation in der Bundesrepublik insgesamt erforderlich macht, endlich daranzugehen, die Systeme der sozialen Sicherung umzubauen. Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich nicht „abbauen“, sondern „umbauen“. Wir werden zu einem System der Bürgerversicherung kommen. Dies halte ich für unbestritten, auch wenn es noch riesige Widerstände dagegen gibt. Aber ich glaube, man muss dies einordnen und an den Beginn einer solchen Diskussion stellen. Die soziale Sicherung muss in eine Bürgerversicherung überführt werden, an der sich alle beteiligen und von der nicht einige ausgenommen sind, sodass die Kranken-, die Pflege- und die Rentenversicherung auf eine solide Grundlage gestellt werden können.
Die alternative Idee einer Kopfpauschale, an der sich alle in gleichem Maße beteiligen, und zwar unabhängig davon, ob sie 1.000 Euro, 1 Million Euro oder 10 Millio
Wenn man vor diesem Hintergrund versucht, die Sozialpolitik dieser Landesregierung und dieser Koalition zu betrachten, kommt man zu einem differenzierten Ergebnis. Ich sage nicht, dass andererseits immer gejubelt wird, sondern ich versuche, differenziert zu sein.
Wenn man die soeben dargestellten Maßstäbe anlegt, bedeutet dies in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, dass man selbstverständlich im Bereich der Arbeitsmarktpolitik nicht nachlassen darf. Es ist mir völlig unverständlich, wie man dazu kommen kann, in solchen Zeiten die Arbeitsmarktpolitik zurückzufahren. Das Neinsagen aufseiten der Union ist bereits angesprochen worden: Hartz funktioniert nicht, die Arbeitsmarktpolitik des Landes funktioniert nicht. Aber der Rückschluss, wir machen gar nichts, ist fatal, meine sehr verehrten Damen und Herren. Bei jeder Form der Arbeitsmarktpolitik – dies gilt aber auch für alle anderen Politikbereiche – gibt es selbstverständlich Fehlentwicklungen und Beispiele, an denen man festmachen kann – dies ist ein Hobby von Herrn Böhr geworden –, wo etwas nicht funktioniert, wo es absurde Situationen gibt. Das gibt es auch bei der Arbeitsmarktpolitik. Aber deshalb zu rasieren und die Betroffenen allein stehen zu lassen, ist der falsche Weg, vor allem wenn man sich ansieht, dass wir es mit besonderen Betroffenengruppen zu tun haben: mit Langzeitarbeitslosen, mit Jugendlichen, mit Behinderten sowie mit Migrantinnen und Migranten. – Darauf zielen auch unsere Haushaltsanträge ab. Für diese Personengruppen müssen wir in jedem Fall auch weiterhin da sein und dürfen uns nicht aus der Verantwortung verabschieden.
Wenn wir uns daraus verabschieden, mündet dies direkt in einen Bereich, in dem wir dann verstärkt tätig werden müssten, nämlich in die Armutspolitik. Für viele geht die Spirale der sozialen Ausgrenzung weiter, wenn sie keine Unterstützung erfahren und wenn sie nicht in die Lage versetzt werden, sich in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft zu integrieren oder rezuintegrieren.
Dies bedingt das weitere Phänomen, dass Generationen von Kindern in armen Familien heranwachsen, von sozialer Ausgrenzung geprägt, die dann auch weiterhin zu einem Problem für die Gesellschaft werden, was nur schwer zu beheben ist. Das heißt, die Armutspolitik darf nicht gekürzt oder zurückgefahren werden, sondern sie muss intensiviert werden. Soziale Brennpunktarbeit muss intensiviert werden, damit wir rechtzeitig gegensteuern, um nicht kommende Generationen in Verhältnissen aufwachsen zu lassen, die ihnen nicht entsprechen.