Protokoll der Sitzung vom 28.06.2007

Zu den Inhalten: Frau Ministerin Dreyer bestreitet, dass meine Vorschau auf das Jahr 2030 mit Finanzvolumina, die 50 % über dem liegen, was wir jetzt haben, ein realistisches Szenario beschreibt. Frau Ministerin Dreyer, wenn Sie davon ausgehen, dass Sie auf der Entlastungsseite bisher nur den besseren Konjunkturverlauf haben, auf der anderen Seite chronisch defizitäre Pflegeversicherung bis auf ein Jahr, wo sie dreizehnmal statt zwölfmal zugeschlagen haben – das war ein Sondereffekt; das wissen wir alle –, wenn Sie davon ausgehen, dass im Jahr 2030 ein Drittel Pflegefälle nominal mehr da sein werden, wenn Sie davon ausgehen, was sie selbst in Ihrer Rede angesprochen haben, dass es auch in der Pflege medizinischen Fortschritt gibt, den man finanzieren muss, und wenn Sie dazunehmen, dass Sie in dieser Reform auch die Leistungen für Demente erweitert haben, dann hoffe ich, dass wir mit diesen 50 %, die ich prognostiziere, auskommen. Zu behaupten, dass das zu hoch gegriffen ist, kann ich in der Tat nicht nachvollziehen.

(Vereinzelt Beifall bei der FDP – Pörksen, SPD: Das ist aber Ihr Problem!)

Herr Pörksen, man muss nicht auf jeden Zwischenruf eingehen. Ich konzentriere mich auf die qualifizierten.

(Pörksen, SPD: Nein, müssen Sie nicht! Da haben Sie viel zu tun! – Hartloff, SPD: Mein vorheriger Satz gilt eben doch!)

Sie stellen – das finde ich dann wieder fair – eine Finanzierungsalternative vor. Das finde ich fair. Sie sagen, wir

wollen auch hier die Bürgerversicherung. Das ist doch einmal eine klare Gefechtslage. Der Kollege Rüddel sagt: Wir wollen diese marode Bürgerversicherung nicht. – Auch wir wollen sie nicht. Da muss der Wähler entscheiden, was er von diesen Konzepten hält.

(Beifall der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Dafür gibt es Wahlen. Ich freue mich darauf.

Meine Damen und Herren, wir sehen in dieser Demografieproblematik kein theoretisches Problem, sondern wir sehen das ganz reale Problem, dass wenigstens zwei Drittel unserer Bevölkerung nicht wissentlich, aber im Ergebnis betrogen werden. Heute junge und mittelalte Menschen werden 2025/2030/2035 vor die Alternative gestellt sein, entweder quasi keine Leistungen aus der Pflegeversicherung zu bekommen, die jetzt schon Teilkasko ist – es wird dann eine Teil-Teilkaskoversicherung sein –, oder aber – diese Prognosen sind seriös, und ich habe sie noch nie anders gelesen – in eine Betragshöhe von 4 % bis 5 % zu geraten.

Frau Ministerin Dreyer, dann ist das auch nicht mehr „Pillepalle“. Herr Kollege Dröscher hat dankenswerterweise erwähnt, dass die 1,7 % ursprünglich durch einen Feiertag kompensiert wurden. Wo bleibt die Kompensation jetzt bei der Beitragserhöhung? Das ist doch ein Phänomen der Sozialversicherungssysteme, dass es seit Jahrzehnten schleichende Beitragserhöhungen gibt. Obwohl sich die Politik immer hinstellt und sagt, wir müssen mit den Beiträgen runter, geschieht das Gegenteil. Wie kann man eine solche Reform nachhaltig nennen?

(Beifall der FDP)

Meine Damen und Herren, ich habe „DIE ZEIT“ und die „Süddeutsche Zeitung“ zitiert, und die Kommentare waren dort eindeutig. Ich will Ihnen aber auch nicht den Kommentar der „FAZ“ vorenthalten, die im ersten Satz wie folgt schreibt: „Die Große Koalition hat sich aus allen Reformoptionen für die gesetzliche Pflegeversicherung die schlechteste ausgesucht: Sie weitet die Leistungen der Pflegekassen aus und bürdet den Beitragszahlern neue Kosten auf, ohne die schon lange morsche Finanzgrundlage dieser Sozialversicherung endlich ordentlich zu befestigen“. – Diesem Kommentar habe ich leider Gottes im Sinne der Betroffenen nichts hinzuzufügen.

Danke sehr.

(Beifall der FDP)

Das Wort hat der Herr Ministerpräsident.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrte Damen und Herren! Ich finde diese Debatte wirklich hochinteressant, weil sie klarmacht, dass in diesen Fragen, wie

wir die Lebensrisiken der Menschen absichern wollen, in diesem Hause zwei völlig unterschiedliche Konzeptionen vorhanden sind. Ich höre aus dem, was Herr Kollege Rüddel hier vorgetragen hat, nichts anderes heraus. Wer zugehört hat – ich habe es sehr aufmerksam getan –, der kommt zu dem Schluss, Sie sagen, am Ende sollen die Menschen sich selbst versichern und schauen, wie sie es bezahlen können.

Das ist eine Positionierung, die all das verlässt, was wir bisher in der Bundesrepublik Deutschland an sozialem Grundkonsens hatten. Dieser soziale Grundkonsens sieht derzeit so aus, dass wir die großen Lebensrisiken der Menschen in ihrem Kern solidarisch absichern. Das heißt, diejenigen zahlen mit, die jünger und leistungsfähiger sind – dies gestaffelt prozentual anteilig an ihrem Einkommen –, genauso wie diejenigen, die das Pech haben, dass sie schon als Menschen mit Behinderung geboren sind oder auf Grund welcher Voraussetzungen auch immer wenig Einkommen im Leben erzielen können. Hier wird gefordert, dass dieser Grundkonsens aufgehoben wird. Dagegen wende ich mich mit allem Nachdruck.

(Beifall der SPD)

Wir haben uns verständigt, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung und des internationalen Wettbewerbs um jeden Arbeitsplatz eine Mischform zwischen solidarischer Absicherung und der Bildung einer ergänzenden kapitalgedeckten Absicherung anstreben.

(Kuhn, FDP: Das sagen wir auch!)

Lieber Herr Kollege Kuhn, das reicht sehr wohl, wenn man es will.

(Vereinzelt Heiterkeit bei der CDU)

Natürlich reicht es sehr wohl. Ich werde es Ihnen gleich belegen. Herr Rosenbauer, dass man darüber lachen kann, das spricht für eine bestimmte Einstellung zu sozialen Fragen, die halt Ihre und nicht meine ist.

(Beifall der SPD – Dr. Weiland, CDU: Er hat doch etwas ganz anderes gesagt, Herr Ministerpräsident! Sie haben ihn völlig falsch verstanden!)

Gut, dann mag es sein, dass Sie derzeit über Witze gelacht haben. Ob es an der Stelle angemessen ist, lasse ich dennoch dahingestellt.

(Dr. Rosenbauer, CDU: Oh je!)

„Oh je“ könnte ich immer sagen, wenn ich höre, was Sie inhaltlich von sich geben.

(Beifall bei der SPD – Pörksen, SPD: Das ist wohl wahr!)

Meine Damen und Herren, wir haben daraufhin – ich habe es hier mitgebracht – in der Koalition vereinbart, dass wir auch für die Zukunft der Pflegeversicherung diesen Weg der solidarischen Absicherung mit Ergänzung durch kapitalgedeckte Beiträge zu den Kosten

gehen wollen. Dazu hat die Arbeitsgruppe einen Vorschlag vorgelegt, der auf der Basis dessen funktioniert hätte – wäre er denn vereinbar gewesen –, wie die Riester-Rente funktioniert. Dem haben die Fachleute der Union auch zugestimmt. Aber die CDU-Vorsitzende hat mir gesagt: Ich kann den anderen Teil, nämlich den ebenfalls vereinbarten Finanzausgleich zwischen der privaten Pflegeversicherung und der öffentlich finanzierten, politisch nicht darstellen. Das bringe ich in meiner Fraktion nicht durch. –

Nur damit hier keine Geschichtsklitterungen erzählt werden, wir hätten beide Seiten miteinander vereinbaren können. Dann kam wie Ziethen aus dem Busch dieses Argument, das Frau Kollegin Dreyer in der Beantwortung der Mündlichen Anfrage heute Morgen schon aufgenommen hatte, dieser Finanzausgleich sei verfassungswidrig. Das zuständige Verfassungsministerium auf Bundesebene, das Justizministerium, kommt zu einem anderen Schluss, zwar konditioniert, aber durchaus mit dem Ergebnis, dass ein solcher Finanzausgleich zulässig ist.

Lieber Herr Kollege Dr. Schmitz, ich habe mich deshalb ein bisschen gewundert, dass Sie hier vorgetragen haben, es sei ja ein Teil dessen, was da geschehen ist, in der Koalitionsvereinbarung stehend, und dann aber an dem Satz, der genauso deutlich hier steht, gestoppt haben, in dem steht, ein Angreifen des Kapitalstocks ist nicht vorgesehen, und das dann in eine Frage umgemünzt haben, aber das endet hier nicht mit einem Fragezeichen, sondern mit einem Punkt.

Deshalb habe ich gesagt, dass es unlauter ist. Wenn man einen Teil zitiert und einen anderen Teil mit einem Fragezeichen versieht, weil es sich aus der eigenen Positionierung heraus gut macht – ich kenne jedoch niemanden, der an dieser Stelle ein Fragezeichen gesetzt hat –, dann erlauben Sie mir zu sagen: Vielleicht gibt es jemanden. Ich kann nicht für 82 Millionen Deutsche sprechen. Aber jemand in verantwortlicher Position in der Sozialdemokratie hat dort kein Fragezeichen gesetzt. Das möchte ich klargestellt haben, damit wir uns nicht selbst ein Schreckgespenst malen und dann davor warnen.

(Pörksen, SPD: Das ist aber üblich hier!)

Lassen Sie mich zum Thema selbst kommen. Ich muss nicht wiederholen, was Frau Kollegin Dreyer gesagt hat. Ich bin aber tief betroffen davon, dass man von der Pflegeversicherung als einem maroden System redet. Wie kann man eine solche Behauptung ernsthaft aufrechterhalten? Derzeit sind rund 2,1 Millionen pflegebedürftige Menschen davon abhängig, dass sie eine soziale Mindestabsicherung über dieses System erhalten. Hunderttausende von Menschen pflegen ihre Angehörigen und sind davon abhängig, dass sie dabei Unterstützung erhalten.

(Beifall der SPD)

Wiederum Hunderttausende leisten in einem schweren Beruf Pflege, zum Teil ergänzt durch das Ehrenamt.

Wir werden mit einer Veränderung der Alterszusammensetzung unserer Gesellschaft konfrontiert. Deshalb ist dieses System weiterentwicklungsbedürftig. Es ist außerdem weiterentwicklungsbedürftig, weil eine Reihe von Pflegeversicherungsgründen zu dem Zeitpunkt, als die Pflegeversicherung geschaffen worden ist, noch nicht gegeben war. Die Pflegeversicherung ist übrigens von Norbert Blüm geschaffen worden, der bei Ihnen zwischenzeitlich offensichtlich zur Persona non grata geworden ist.

(Zuruf des Abg. Billen, CDU)

Lesen Sie doch einmal nach, was auf dem Leipziger Parteitag mit ihm geschehen ist. Er ist dort ausgebuht und ausgelacht worden, wenn nicht alle Presseberichte etwas Falsches wiedergeben. Reden Sie doch einmal selbst mit ihm, wie er das alles einordnet. Ich habe die Gelegenheit hierzu gehabt. Aber lassen wir das jetzt einmal.

Zu der Zeit, als die Pflegeversicherung geschaffen worden ist, war das Thema „Demenz“ nicht so im Bewusstsein, wie dies heute notwendigerweise der Fall ist. Dieses schreckliche Bild der Alterserkrankung wird derzeit in der Pflegeversicherung nicht abgebildet. Die Pflegestufe 0 ermöglicht eine Zuwendung zu den Menschen außerhalb dessen, was man in Punktesystemen an Pflege definieren kann. Wer je mit Pflegenden oder mit sozialen Hilfestationen, mit den Einrichtungen von Diakonie, Caritas, Arbeiterwohlfahrt und all jenen gesprochen hat, die sich in diesem Bereich organisieren und arbeiten, der weiß, dass dies als ein großes Problem und als ein Mangel empfunden wird. Im Übrigen subsumiert sich darunter auch das, was mit psychischen Erkrankungen zu tun hat.

Diese Herausforderung haben wir aufgenommen. Aus dieser Herausforderung ist ein inhaltlicher Katalog der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung geworden, die ich als eine der größten und besten Sozialreformen des vergangenen Jahrzehnts und darüber hinaus bezeichne.

(Beifall der SPD)

Wie kommen Sie dazu, das in Grund und Boden zu reden? Geht es uns um die Menschen?

(Frau Thelen, CDU: Das hat doch keiner getan!)

Genau das ist getan worden. Wer dies als ein marodes System bezeichnet, der hat entweder nur Finanzen im Kopf und die Menschen vergessen oder der ist ein Zynist. Das sage ich ganz klar. Das ist so.

(Beifall der SPD – Zurufe von der CDU)

Das ist nicht unverschämt, sondern das ist die Wahrheit. Sie können die Wahrheit aber nicht vertragen, lieber Herr Dr. Rosenbauer.

(Beifall der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Schmitz, FDP)