Auch die Tötungsmethode hatte sich geändert. Sie bestand aus überdosierten Beruhigungsmitteln, verabreicht entweder in Tablettenform oder mithilfe einer Spritze, aus gezielter Hungerkost und aus der Verweigerung medizinischer Versorgung.
Gemordet wurde nicht mehr in speziellen Einrichtungen, sondern beinahe jede staatliche Anstalt konnte Mordanstalt werden. Zudem gab es überregionale Tötungszentren. Hadamar war eine von ihnen. In dieser zweiten Phase wurden zwischen 1942 und Kriegsende noch einmal ca. 80.000 Menschen ermordet.
Die Menschenverachtung der verantwortlichen Täter kommt nicht nur in dem planmäßigen Massenmord an den Anstaltspatienten zum Ausdruck, sondern auch in der Art, wie er systematisch vertuscht wurde. Dazu das Beispiel der Caroline Franz, deren Lebensgeschichte eine Großnichte in mühseliger Forschungsarbeit, vor allem gegen Widerstände in der eigenen Familie, nachgegangen ist.
Caroline Franz, geboren im Hunsrück im Kreis Simmern, war 22 Jahre alt, als sie 1917 in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach aufgenommen wurde. Ursache waren Depressionen, die zu mehreren Selbstmordversuchen führten, nachdem sie als Magd auf einem Bauernhof viel Gewalt und wohl auch sexuelle Nötigung erfahren hatte.
Fast 24 Jahre lebte sie in Andernach, bis sie plötzlich am 8. Mai 1941 in einem Transport mit 89 anderen Patienten und Patientinnen in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt wurde. Nach ihrem Tod erhielt ihr Vater aus Hadamar die Mitteilung, dass Caroline am 20. Mai 1941 – ich zitiere aus diesem Schreiben – „an Furunkulose, Wundinfektion mit anschließender Sepsis“ verstorben sei.
Die „zuständige Ortspolizeibehörde“ habe zur Vermeidung eines Ausbruchs und der Übertragung „ansteckender Krankheiten… die sofortige Einäscherung der Leiche… verfügt. Einer Einwilligung der Angehörigen… bedarf es in diesem Falle nicht.“ – Unterzeichnet ist das Schreiben mit „Dr. Fleck“.
Das Todesdatum war nicht der 20. Mai, sondern der 8. Mai. Dies war der Tag, an dem der Transport mit 89 Patientinnen und Patienten aus Andernach in Hadamar eintraf.
Der Arzt, der die Todesnachricht mit „Dr. Fleck“ unterzeichnet hatte, hieß in Wirklichkeit Günther Hennecke.
Diese falschen Sterbedaten wurden in die offiziellen Sterbeurkunden eingetragen. So kommt es, dass die Vertuschungsmaßnahmen der Täter immer noch wirksam sind; denn sie sind bis heute in den amtlichen Dokumenten verzeichnet. Seit letztem Jahr können jedoch Angehörige, von denen ein Familienmitglied in Hadamar ermordet wurde, beim Standesamt der Stadt Hadamar eine Sterbeurkunde mit korrekten Sterbedaten beantragen.
Es gab aber auch Versuche von Angehörigen und Opfern, sich gegen die Verletzung der Menschenwürde zu wehren. So weigerte sich der Vater einer am 30. Juli 1941 vergasten jungen Frau, neben den Pflegekosten auch die regelmäßig verlangten Einäscherungskosten zu bezahlen; denn er ahnte, was seiner Tochter passiert war. Er ließ sich mit der T4-Zentrale in Berlin auf einen Streit ein, von dem wir nicht wissen, wie er endete.
In einem anderen Fall schrieb die Patientin Bertha D. am 4. August 1943 einen Brief an Dr. Wahlmann, den Tötungsarzt in Hadamar während der zweiten Phase. Die Frau war kurz vorher aus der Anstalt entwichen und zu ihren Eltern nach Mainz geflohen. Sie bat den Arzt um Verständnis für ihre Flucht. Gleichzeitig bat sie ihn um Unterstützung für ihr Leben in Freiheit.
Ich zitiere aus ihrem Schreiben: „Für die Dauer kann ich nicht in der Häuslichkeit meiner Eltern bleiben. Mir müsste da irgendwie geholfen werden, damit ich wieder ein Heim und bessere Gesundheit haben kann, damit ich mir eine entsprechende Arbeit annehmen kann… Vier Jahre eingesperrt sein ist nicht so leicht, wie sich das mancher Mensch denkt. Für mich war dies alles sehr schwer.“
Der Patientin wurde ihr Schreiben zum Verhängnis, weil dadurch ihr Aufenthalt ermittelt werden konnte. Zwei Tage später wurde sie nach Hadamar zurückgebracht und am 9. Mai 1944 ermordet.
Um Ihnen eine grobe Vorstellung zu geben, welche Dimension der Krankenmord in dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz hatte, nenne ich Ihnen einige Zahlen:
Aus der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach, die 1941 als sogenannte „Zwischenanstalt“ für die Tötungsanstalt Hadamar diente, wurden von 1941 bis 1945 ca. 1.600 Patienten und Patientinnen nach Hadamar und in Anstalten im Osten verlegt.
Aus den Heimen Scheuern bei Nassau, die ebenfalls eine „Zwischenanstalt“ von Hadamar waren, wurden von 1941 bis Kriegsende ca. 1.300 Patienten und Patientinnen nach Hadamar verlegt. Aus der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Alzey wurden 1941 250 Patienten und Patientinnen in die Tötungsanstalt Hadamar gebracht.
300 Patienten und Patientinnen der Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster wurden 1940 in drei verschiedene Tötungsanstalten verlegt. Darüber hinaus sind 1.700 Patienten und Patientinnen dieser Anstalt als Opfer der zweiten Mordphase zu betrachten.
Insgesamt ergeben die Zahlen die Summe von über 5.000 Menschen – Frauen, Männer, Kinder –, die aus dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz dem Krankenmord zum Opfer fielen. Dies ist eine Mindestzahl; denn ich habe mich bei meinen Angaben nur auf die vier genannten Einrichtungen beschränkt.
In diesen vier Einrichtungen begann nach dem Krieg die Erinnerungsarbeit zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Projekten. Ich will sie kurz aufzählen:
In Andernach wurde 1996 der Spiegelcontainer aufgestellt, und eine Veröffentlichung über ihn erschien 1998.
Die Heime Scheuern weihten das Denkmal „… Damit wir nicht vergessen“ im Jahr 2000 ein und veröffentlichten gleichzeitig eine Dokumentation über die Opfer.
In Alzey wurde der Begleitband zu einer Ausstellung über die Geschichte der Rheinhessenfachklinik im Jahr 2000 herausgegeben und 2005 in der Klinik ein Mahnmal eingeweiht.
Hier in Klingenmünster wurde 1993 ein Gedenkstein im Klinikgelände am Eingang dieses Festsaals aufgestellt. Fünf Jahre später veröffentlichte das Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde ein Buch über die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster im Nationalsozialismus. Letztes Jahr weihte Ministerpräsident Kurt Beck die „Pfälzische Gedenkstätte für die Opfer der NS-Psychiatrie“ auf dem Friedhof der Klinik ein.
Die Aufzählung der Gedenkprojekte erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll aber dokumentieren, dass vor 16 Jahren ein allmählicher Bewusstseinswandel in der Öffentlichkeit einsetzte. An die Stelle von Verdrängen und Vergessen trat die Frage nach der möglichen Verstrickung der genannten Einrichtungen in die Krankenmorde. Engagierte Schüler und Schülerinnen und Bürger ergriffen die Initiative zur Aufarbeitung, oder die Träger der Einrichtungen reagierten auf Anregung, vielleicht auch auf Druck, von außen.
Den örtlichen Arbeitsgruppen standen dabei vor allem in der Anfangszeit ihrer Tätigkeit zum Teil ungebrochene Verdrängungsmentalitäten oder auch große Finanzierungsprobleme gegenüber. Sie ließen sich aber dadurch von ihren Vorhaben nicht abhalten. Ihrer Hartnäckigkeit und Ausdauer ist es zu verdanken, dass die Projekte realisiert wurden.
Auch ich stelle die Frage: Wozu sich noch nach über 60 Jahren mit den NS-„Euthanasie“-Verbrechen beschäftigen? Ich will versuchen, Ihnen vor dem Hintergrund der in der Gedenkstätte Hadamar gemachten Erfahrungen Antworten zu geben, zunächst unter dem Aspekt des Gedenkens:
Die Opfer des Krankenmords haben in aller Regel kein Grab, keinen Grabstein, auf dem ihr Name steht. Die Erinnerung wurde mit ihrem Tod ausgelöscht. Deshalb hat der Ort, an dem der Kranke ermordet oder von dem aus er in den Tod transportiert wurde, eine besondere Bedeutung. Deshalb sollte an solchen Orten der Opfer namentlich gedacht werden können.
Meistens sind die Namen der ermordeten Patienten zunächst nicht oder nur zum Teil bekannt und müssen erst mühsam recherchiert werden, z. B. in Archiven. Daher freut es mich, aus dem Munde des Präsidenten des Landtags vorhin gehört zu haben, dass die Novellierung des Archivgesetzes in diesem Jahr noch vollzogen wird, sodass die Quellen, die unverzichtbar sind für ein namentliches Gedenken, dann zugänglicher werden.
Wenn die Opfer also der Anonymität entrissen werden, in die sie von den Nationalsozialisten gestoßen wurden, und ihre Namen zurückerhalten, dann erhalten sie damit auch ihre Würde zurück. Dies ist ein Akt der Wiedergutmachung, den wir den Opfern schuldig sind.
Noch aus einem anderen Grund ist das namentliche Gedenken unverzichtbar: Angehörige und Freunde der Opfer brauchen einen Ort der Trauer. Die Ermordeten haben keine Gräber, ihre Asche wurde in alle Winde zerstreut, und ihre Leichname wurden anonym, oft sogar in Massengräbern verscharrt. Ein Mahnmal, das die Namen der Ermordeten trägt, oder ein Gedenkbuch, das ihre Namen verzeichnet, ist geeignet, das fehlende Grab zu ersetzen.
Die Kenntnis der Namen und anderer Daten der Opfer ermöglicht es, Auskünfte über deren Schicksal zu erteilen, wenn Angehörige oder Erinnerungsinitiativen aus Städten und Gemeinden anfragen. Von besonderer Bedeutung sind die Informationen für die Angehörigen. Mit ihnen wird meistens ein über 60 Jahre langes Schweigen in den Familien aufgebrochen. Daher ist es auch empfehlenswert, den Angehörigen, verbunden mit der Auskunftserteilung, ein Betreuungsangebot in Form von Gesprächen zu machen.
Jetzt will ich mich der Beantwortung meiner gestellten Frage unter dem Aspekt der historisch-politischen Bildung widmen: Ziel historisch-politischer Bildung sollte auch sein, Jugendliche und junge Erwachsene sensibel zu machen für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen oder überhaupt mit Menschen, die an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt werden. Sie sollen darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Missachtung der Menschenwürde und die schrittweise Beschneidung der Menschenrechte, welche die Opfer zunächst erdulden mussten, bevor sie ermordet wurden, die Grundlagen einer demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung bedrohen und dann zerstören.
Nicht nur junge Menschen aus Schule und Ausbildungsstätten sollten mit dem Schicksal behinderter Menschen im Nationalsozialismus vertraut gemacht werden, sondern auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Gesundheits- und Sozialberufen, z. B. im Rahmen von Fortbildungsmaßnahmen. Auf diesem Wege kann ein wichtiger Beitrag zur Menschenrechtserziehung geleistet werden.
Die angesprochenen Zielsetzungen stellen Aufgaben dar, die nur mit einer nachhaltigen Gedenk- und Bildungsarbeit geleistet werden können, und zwar an einem Ort, der in unmittelbarer Beziehung zu den Krankenmorden steht. Deshalb wurde in Hadamar eine NS„Euthanasie“-Gedenkstätte vor über 25 Jahren errichtet. Es wäre deshalb auch zu begrüßen, wenn die zahlreichen Aktivitäten der Pfalzklinik zum Gedenken an die Opfer der Krankenmorde in eine nachhaltige Gedenk- und Bildungsarbeit mit Personal, Räumlichkeiten und eigenen pädagogischen Konzepten münden würden.
Zum Schluss möchte ich auf eine spezielle Aufgabe nachhaltiger Gedenkstättenarbeit kommen, die ich bislang ausgeklammert habe: Ziel der Gesellschafts- und besonders der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik ist eine inklusive Gesellschaft, das heißt, Menschen mit Behinderungen sind nicht mehr ausgeschlossen, sondern sind eingebunden in unsere Gesellschaft und repräsentieren mit uns allen die Gesellschaft. Doch von diesem Ziel sind wir noch weit entfernt.
Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen findet auch heute noch statt: im Alltag, auf der Straße, im Berufsleben, auf Behörden oder auch im Bildungsbereich. Von knapp 500.000 Schülerinnen und Schülern in der Bundesrepublik mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden nur 15 % an Regelschulen unterrichtet. Angebote historisch-politischer Bildung für Menschen mit Behinderungen fehlen praktisch ganz.
An diesem Punkt sind die Gedenkstätten für die Opfer des Krankenmords gefordert. Sie müssen offen sein für behinderte Menschen. Damit meine ich nicht nur rollstuhlgerechte Zugänge, sondern die Gedenkstätten müssen Konzepte entwickeln mit und für behinderte Menschen als Besucher, damit sie sich über die Geschichte der Verfolgung ihrer Gruppe in der NS-Zeit informieren können.
Dies bedeutet nichts anderes, als dass eine Gedenkstätte sich auch als ein Ort historisch-politischer Bildung für Menschen mit Behinderungen versteht. Mit dieser neuen Aufgabe haben wir in der Gedenkstätte Hadamar vor einigen Jahren in Theorie und Praxis begonnen. Bis heute haben rund 700 behinderte Menschen aus dem In- und Ausland unsere Einrichtung besucht.
Das Ziel einer inklusiven Gesellschaft werden wir nur unvollkommen erreichen, wenn wir nicht alle – damit meine ich uns alle, also Menschen mit und ohne Behinderungen – Kenntnis haben über die Geschichte der Diffamierung dieser Menschengruppe, ihrer Ausgrenzung bis hin zu ihrer tödlichen Verfolgung. Dazu gehört auch das Wissen darüber, dass die Opfer des Krankenmords bis heute nicht als NS-Verfolgte gemäß dem Bundesentschädigungsgesetz anerkannt sind, trotz des
Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die von der Bundesrepublik kürzlich ratifiziert wurde und demnächst in Kraft tritt, besagt in Artikel 1 unter anderem: Zweck der Konvention ist es – ich zitiere –, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“ Zu diesen Rechten gehört auch, dass sich behinderte Menschen über die Krankenmorde informieren, der Opfer gedenken und über sie trauern können.
Wenn wir von der inklusiven Gesellschaft sprechen, sollten wir nicht vergessen, meine Damen und Herren: Jeder Einzelne von uns kann schon morgen das Schicksal der behinderten Menschen teilen: durch Unfall, Krankheit oder spätestens im Alter. Wollen wir dann nicht, dass wir mit unserer Behinderung in einer Gesellschaft leben, die uns mit Würde behandelt und in Würde sterben lässt?
Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker prägte dazu einmal folgenden Satz, und mit ihm möchte ich schließen: „Nicht behindert zu sein, ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen des rheinland-pfälzischen Landtags, liebe Kolleginnen und Kollegen der Landesregierung, verehrter Herr Professor Meyer, verehrte Damen und Herren, die Sie die dritte Gewalt in unserem Staat repräsentieren! Mein besonderer Gruß gilt den Gastgebern, Ihnen, Herr Anstätt, und allen, die hier wirken, aber auch den Repräsentanten der anderen Einrichtungen für psychisch kranke Menschen in unserem Land Rheinland-Pfalz. Mein Gruß gilt den Damen und Herren, die die Kommunalpolitik repräsentieren, an der Spitze Ihnen, verehrter Herr Vorsitzender Wieder.
Mein besonderer Gruß und Dank gilt auch denen, die sich des Erinnerns an die schreckliche Geschichte der Euthanasiemorde in besonderer Weise angenommen haben. Ich bedanke mich sehr herzlich, Herr Dr. Lilienthal, für das, was Sie uns gesagt haben.