Protokoll der Sitzung vom 19.01.2012

Vielen Dank.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Für die Landesregierung spricht nun Frau Ministerin Dreyer.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Herren und Damen! Die Bedeutung der demografischen Entwicklung für Menschen mit Behinderungen und damit der Eingliederungshilfe für pflegebedürftige Menschen und auch der pflegerischen Infrastruktur ist der Landesregierung natürlich mehr als bekannt. Es ist für uns seit vielen Jahren ein kontinuierlicher politischer Schwerpunkt.

Frau Thelen, schon bevor mein Ministerium das Demografie-Ministerium wurde, waren wir in der Landesregierung maßgeblich davon getragen, die Entwicklung der Zukunft zu beobachten und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, damit wir die Herausforderungen der Demografie wirklich positiv gestalten können. Genau das ist unser Ziel, und es war auch in der Vergangenheit unser Bestreben.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich weiß vor allen Dingen von denjenigen, die schon länger die parlamentarischen Initiativen und Debatten verfolgen (von irgendeinem Vorredner ist gesagt worden – meistens sogar einstimmig in diesem Haus –), dass ich die politischen Handlungsfelder eigentlich nicht aufzählen müsste. Aber ich tue es, weil ich die Anwürfe in dem Antrag als absolut unsachgerecht empfinde und auch mehr als erstaunt bin.

Warum sonst, glauben Sie, haben wir vor Jahren ein Umlagesystem in der Ausbildung für Altenpflegefachkräfte entwickelt, haben die Zahl der Auszubildenden innerhalb der letzten Jahre um 40 % gesteigert und sind damit ein absolutes Vorbild bundesweit? Das Saarland beginnt jetzt, dasselbe Verfahren nachzuahmen.

Warum, glauben Sie, haben wir den Aktionsplan „Gut leben im Alter“ verabschiedet, mit fünf Handlungsfeldern, wie „selbst bestimmt wohnen“, „Im Alter mobil und fit“, „Im Alter gut und sicher leben“, „Solidarität der Generationen stärken“ und „Beteiligung älterer Menschen stärken“?

Warum, glauben Sie, haben wir bereits im Jahr 2002 die übergreifende Initiative „Menschen pflegen“ gegründet,

um Erfahrungen und Ressourcenkompetenzen aller Beteiligten in Rheinland-Pfalz im Bereich der Pflege zu nutzen und mit ihnen Dinge gemeinsam nach vorn zu bringen?

Ich glaube, wir haben ein unvergleichbares Netzwerk „Pflege“ hier in Rheinland-Pfalz aufgebaut. Wir können darauf bauen, dass unsere Partner mit uns gemeinsam diese Herausforderungen auch in Zukunft gestalten werden.

Ich ergänze: Warum glauben Sie, haben wir in den letzten Jahren als erstes Land ein Pflegegesetz auf den Weg gebracht, 2005 das Landesgesetz, das Sicherstellung und Weiterentwicklung der pflegerischen Angebotsstruktur beinhaltet? Oder warum investieren wir seit vielen Jahren Zeit und Geld in den Auf- und Ausbau einer regionalen Pflegestrukturplanung und unterstützen konkret Kommunen darin, diese weiterzuentwickeln? Warum haben wir im letzten Jahr eine Servicestelle „Pflegestrukturplanung“ eingerichtet oder haben Demenznetzwerke in allen Bereichen unseres Landes gegründet oder auch die Pflegestützpunkte, die eben schon genannt worden sind, die ihresgleichen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland suchen, und haben damit den Kommunen vor Ort eine Beratungs- und Informationsstruktur zur Verfügung gestellt und mitentwickelt, die es den Kommunen leichter machen soll, das Thema „Pflege und Eingliederung der Menschen und Teilhabe in der Gesellschaft“ besser zu bewältigen?

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich will fortsetzen mit dem Landesgesetz über Wohnformen und Teilhabe. Das war ungefähr das einzige Gesetzgebungsverfahren in den letzten Jahren, das die CDU in dieser Form nicht geteilt hat. Aber die Interessen der Bewohner und Bewohnerinnen zu stärken, auch in Einrichtungen, ihre Teilhabe zu verbessern, das war das Ziel dieses Gesetzes, und wir werden es entsprechend weiterentwickeln.

Wenn ich in die Eingliederungshilfe schaue – da ist auch vieles gesagt worden –, nenne ich nur den UNAktionsplan mit 200 Maßnahmen. Ich nenne das persönliche Budget „Hilfe nach Maß“, das behinderten Menschen die Chance gibt, in der Kommune mitten in der Gesellschaft zu leben. Immerhin nehmen 5.500 Menschen in Rheinland-Pfalz dieses Budget in Anspruch, um nicht in einer stationären Einrichtung zu leben, sondern mitten in der Gesellschaft.

Ich will noch sagen: Auch die Entwicklung des betreuten Wohnens, das wir flächendeckend in Rheinland-Pfalz ausgebaut haben, die Entwicklung der Integrationsbetriebe – immerhin gibt es inzwischen rund 900 Menschen mit Behinderungen, die dort arbeiten – oder das Budget für Arbeit sind Beispiele dafür, dass natürlich diese Landesregierung klare Konzeptionen verfolgt. Wir wissen, dass wir einen zunehmenden Anteil von Menschen haben, die älter werden, behindert oder nicht behindert; das gilt für beide Personengruppen. Ich glaube, man kann nicht deutlicher als über solche Beispiele zeigen, wie ernst die Landesregierung ihre Strukturverantwortung wahrnimmt, aber auch ihre Verantwortung,

Impulse zu setzen, vor Ort zu unterstützen, neue Wege zu gehen, auch in Bereichen, wo es die kommunale Selbstverwaltung gibt, um deutlich zu machen: Wir wollen diese Menschen vor Ort mitnehmen, um tatsächlich mehr Teilhabe und mehr Selbstbestimmung sicherzustellen und einen Weg mitten in die Gesellschaft zu ermöglichen.

Ich glaube, insofern haben Sie mit Ihren Anträgen und mit dem Vorwurf der Konzeptlosigkeit ziemlich dick aufgetragen.

(Pörksen, SPD: Sehr richtig!)

Wenn ich vor allen Dingen den Antrag zur Pflege lese, dann habe ich schon den Eindruck, dass die Opposition in unserem Land an der Stelle sehr schlicht und einfach denkt. Sie arbeiten ein bisschen nach der Methode „Durchzählen, nach vorn blicken und noch mehr Angebote möglichst vom Gleichen schaffen“. Was aber wollen Sie zählen? – Es bleibt offen, wer eigentlich zählt. Sie zählen oder schreiben die Situation von heute linear fort, als würden Menschen von vor zehn Jahren die gleiche Lebensweise praktizieren wollen, die in 50 Jahren in diesem Alter sind. Die Menschen entwickeln sich, die Lebensbedingungen und die Lebensweisen entwickeln sich. Deshalb ist es nicht so einfach, die Dinge einfach hochzurechnen und hochzuzählen.

(Frau Thelen, CDU: Man kann es so nicht lassen!)

Sowohl die Eingliederungshilfe als auch die Pflege sind außerordentlich komplexe Systeme, und sie entwickeln sich auch ständig weiter.

(Zuruf von der CDU)

Das ist auch meine Dauerkritik am Statistischen Landesamt. Ich kann nicht hingehen und kann sagen: Heute sind soundso viel Prozent der Menschen im Alter von 70 in einer stationären Einrichtung, und deshalb sind im Jahr 2020/2030 soundso viel Prozent der Menschen in stationären Einrichtungen.

Ich gehe fest davon aus – das sehen wir doch an uns selbst –, dass wir ganz andere Vorstellungen vom Leben haben, fitter sind und die Infrastruktur weiterentwickeln werden.

Ich finde, deshalb ist es wichtig, dass die Landesregierung klare Ziele hat. Seit ich Sozialministerin bin, lauten unsere Ziele: leben, wohnen und teilhaben mitten in der Gesellschaft. – Wir leben alle mittendrin. An diesem Prinzip orientiert sich das komplette politische Handeln der Landesregierung in diesen beiden Bereichen. Wir wollen, dass die Menschen selbstbestimmt leben können, weil ich auch davon überzeugt bin, dass es wichtig ist, dass sie Verantwortung übernehmen und sich entwickeln können.

Wir haben in letzter Zeit hochinteressante Studien verfolgt, in denen deutlich wurde, dass sich Menschen mit Behinderungen, die selbstständig leben, tatsächlich so verselbstständigt haben, dass sie nach mehreren Jahren erheblich weniger Unterstützungsbedarf als vorher brauchten. Das alles sind Indizien dafür, dass das The

ma „ambulant vor stationär“ ein tragendes Prinzip ist, und zwar nicht nur mit Blick auf die Selbstbestimmung, sondern auch auf die Effizienz in der Angebotsstruktur.

Ich möchte noch einmal zu dem Thema „ambulant vor stationär“ kommen. Das vertreten wir sehr offensiv.

Frau Thelen, wenn man sich ambulant so vorstellt, dass es klein-stationär ist, wird das immer teurer. Das ist doch selbstverständlich. Wenn man sich eine Einrichtung mit allem Drum und Dran einfach klein denkt und daran glaubt, dass das eigentlich ambulantes Setting ist, kann das nicht billiger werden, weil dann plötzlich die Nachtwache nicht für 60, sondern für zehn Leute da ist. Das geht nicht gut.

Natürlich muss es solche Settings auch geben. Ambulante Versorgung bedeutet auch, dass ein behinderter Mensch, der pflegebedürftig ist, Ansprüche nach der Pflegeversicherung hat und von einem normalen ambulanten Pflegedienst versorgt wird. Ambulante Hilfestruktur bedeutet ein Hilfe-Mix im Setting.

Hier hatten wir bislang immer die gleiche Auffassung, und zwar völlig egal, ob wir uns in der Eingliederungshilfe oder in der Pflege für alte Menschen bewegen. Wenn wir alles nur über professionelle Fachkräfte abdecken wollen, werden wir das in Zukunft nicht bewältigen können. Natürlich müssen wir über Fachkräfte der Zukunft sprechen. Wir waren uns doch immer einig, bei der Ambulantisierung und der Stärkung des häuslichen Bereichs zu sagen, dass wir auf einen Hilfe-Mix angewiesen sind. Das bedeutet, in der Profession einen HilfeMix zu akzeptieren bzw. dort zu entwickeln, wo es vertretbar, angezeigt und angemessen ist.

Den demografischen Entwicklungen begegnen zu können, bedeutet auch, auf die Kosten zu schauen. Wir haben uns deshalb als Land dazu animieren lassen, das persönliche Budget nicht nur inhaltlich zu entwickeln, sondern es auch zu bezahlen, obwohl es ambulante Leistungen sind. Wir bezahlen auch das Budget für Arbeit und das betreute Wohnen. Wir wollen das durch die Modellprojekte nach § 14 a noch weiter verstärken. Ich glaube, dass wir mit § 14 a ganz besondere Chancen haben. Darauf komme ich gleich noch einmal zu sprechen.

Aber auch wenn die CDU das immer nach dem Motto abwimmelt, wir blicken auf den Bund, um keine Verantwortung wahrnehmen zu wollen, möchte ich noch einmal sagen, dass wir nicht auf Wolke 7 leben. Wenn eine Pflegeversicherung über Jahrzehnte – das gilt für alle Bundesregierungen – nicht dynamisiert wird, bedeutet das, dass die Menschen in einem Altenheim nicht mehr durch die Pflegeversicherung oder ihr Privatgeld untergebracht sind, sondern die Sozialhilfeträger die Unterbringung bezahlen. Es werden immer mehr Menschen.

Wir haben eine Berechnung aus einem Oberzentrum, nach der 100 Altenheimplätze für eine Kommune 600.000 Euro im Jahr kosten. Das Gleiche gilt für das Land. Das ist eine problematische Entwicklung; denn die Pflegeversicherung ist eingeführt worden, um die Sozialhilfe aus diesem Thema herauszubekommen. Inzwischen ist die Sozialhilfe wieder mittendrin, und zwar

überdurchschnittlich hoch. Deshalb können wir, wenn wir über Geld reden, nicht so tun, als hätten wir mit den Weichenstellungen auf der Bundesebene nichts zu tun.

Ich nenne Ihnen noch ein anderes Beispiel. Nach § 43 a SGB XI werden die Pflegeleistungen für behinderte Menschen in stationären Einrichtungen gedeckelt. Sie bekommen nicht den vollen Satz der Pflegeversicherung, sondern läppische 256 Euro. Den Rest zahlt der Sozialhilfeträger. Ist das fair? Es ist natürlich nicht fair; denn ein behinderter Mensch hat den Anspruch wie jeder andere Mensch auch auf volle Leistung nach der Pflegeversicherung.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wenn wir über Geld reden, müssen wir auch darüber reden, was das Land und die Kommunen inzwischen drauflegen, weil die Hausaufgaben auf der Bundesebene schlicht und ergreifend nicht gemacht bzw. bewusst die Kosten abgedrückt werden.

Herr Kessel, deshalb möchte ich noch etwas zu der Pflegereform sagen, die Herr Bahr vorgelegt hat. Ich bin froh, dass jetzt einmal etwas kommt. Ich freue mich auch darüber, dass die Menschen mit demenziellen Erkrankungen im häuslichen Bereich etwas mehr Geld erhalten. Natürlich genügt das nicht. Ich kann das nur noch einmal wiederholen. Das ist aber besser als nichts. Das ist meine ehrliche Meinung dazu. Wir sind nach wie vor beim Pflegebedürftigkeitsbegriff und bei vielen anderen Themen im Wartestand. Wenn wir nicht eine größere Unterstützung über die Pflegeversicherung bekommen, wird das zu einem großen Problem für die Länder und die Kommunen.

Ich komme auf Rheinland-Pfalz zurück. Trotz der nicht ganz leichten Bedingungen ist unser Ehrgeiz groß. Wir wollen mit dem Modellprojekt nach § 14 a nicht nur in der Eingliederungshilfe, sondern auch in der Pflege noch einmal einen neuen Anlauf mit möglichst vielen Kommunen nehmen. Es geht darum, eine gemeinsame Steuerungs- und Finanzverantwortung aus einer Hand sicherzustellen und Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen.

Dazu wollen wir zum einen eine grundsätzliche Beteiligung des Landes zur Hälfte an den tatsächlichen Kosten für die ambulante Leistung, wenn damit stationär oder teilstationär verhindert wird. Wir werden dann auch noch einmal einen schlanken Datenaufbau miteinander besprechen.

Frau Thelen, natürlich ist die Datenlage beim Land unbefriedigend. Das will ich nicht beschönigen. Uns fehlen die Daten der Kommunen. Es ist ein echter Kampf, an die Daten der Kommunen zu kommen. Deshalb ist es die einzige Chance – die Einzelfallsteuerung liegt ausschließlich bei den Kommunen; wir haben damit nichts zu tun –, in Zusammenarbeit mit den Kommunen in den Modellphasen ein schlankes Datensystem zu haben, in dem die Kommunen ihre Daten haben und wir die Daten von den Kommunen erhalten, die uns die Gesamtsteuerung ein Stück weit leichter machen.

Damit wir nicht aneinander vorbeireden, die Einzelfallsteuerung liegt ausschließlich bei der Kommune. Die Kommune hat es letztendlich in der Hand, eine Angebotsstruktur zu entwickeln und eine Fallsteuerung so zu organisieren, dass wir am Ende beide sagen können, der behinderte und der alte Mensch ist gut unterstützt und versorgt, aber wir haben die Hilfen auch effizient miteinander organisiert.

Wir gehen nicht aus der Verantwortung heraus. Im Gegenteil, wir haben viele gute Beispiele im Land erprobt, die wir den Kommunen zur Verfügung stellen, und die zeigen, wie es gehen kann, Wohngemeinschaften für Demente einzurichten und bestimmte ambulante Angebote zu entwickeln und umzusetzen. Das alles wollen wir noch einmal verstärken.

Ich komme zum letzten Punkt. Ich finde, hier haben Sie eine echte Kurve gedreht. Es ist ein kleiner Offenbarungseid. Sie haben vorhin gesagt, wir können eigentlich nur stärker in die Ambulantisierung gehen, wenn wir sicherstellen können, dass wir die Fachkräfte dazu haben.

Frau Thelen, ich weiß nicht genau, welche Aussage das ist. Ich kann Ihnen sagen, dass wir das Fachkräfteproblem im stationären und im ambulanten Bereich haben. Die Anzahl der Menschen ist gleich. Ich bin ganz sicher, wenn wir nicht darauf bauen, dass wir in einen stärkeren Hilfemix und eine stärkere Verselbstständigung der Menschen gehen, und es nicht schaffen, die Zeit solange wie möglich hinauszuzögern, bis ein alter Mensch, wenn er diese Wahl trifft, in das Altenheim geht, haben wir ein richtig fettes Fachkräfteproblem.

Es ist ein Bestandteil einer Demografiestrategie, dafür zu sorgen, dass die Menschen möglichst lang im eigenen Umfeld leben können. Ich glaube kaum – das wird man in diesem Sinn niemals evaluieren können –, dass man in der Unterscheidung zwischen ambulant und stationär einen Mehr- oder einen Wenigerbedarf an Fachkräften hat. Das Beispiel geht nur auf, wenn Sie ambulant mit klein-stationär gleichsetzen. Nur dann haben Sie genau dieselbe Situation.

Ich bin fest davon überzeugt, dass Rheinland-Pfalz auf die demografische Entwicklung seit Langem vorbereitet ist. Wir nutzen diese sehr gute Basis dazu, um die Strukturen gemeinsam mit unseren Partnern weiterzuentwickeln. Das bleibt eine Daueraufgabe, weil der demografische Wandel nicht von heute auf morgen einsetzt, sondern weil es ein langer Prozess ist, dass wir älter und Gott sei Dank auch viel gesünder älter werden und die Jungen weniger werden. Ich denke, wir haben noch viele Herausforderungen zu stemmen. Es ist aber auch eine Freude, das tun zu können.

Herzlichen Dank.