Prof. Dr. Wolfgang Benz Wissenschaftlicher Leiter des Fachbeirats zur Gedenkarbeit in Rheinland-Pfalz der Landeszentrale für politische Bildung
Sehr verehrte Überlebende nationalsozialistischer Verfolgung, die heute hiergekommen sind! Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, verehrte Damen und Herren! Dem Erinnern und Gedenken an den nationalsozialistischen Völkermord muss der Wissenschaftler die unerfreulichen Fakten anhaltender und neuer Diskriminierung der Sinti und Roma hinzufügen.
Sinti und Roma bilden die größte Minderheit in Europa, charakterisiert durch autochthone Kultur, eigene Sprache und Randständigkeit. Die jeweilige Mehrheitsgesellschaft nimmt sie eher als Sozialproblem wahr und bringt ihnen traditionell erhebliche Ressentiments entgegen, die als negative Zuschreibungen und Feindbilder artikuliert und agiert werden. Sinti und Roma sind, wie Umfragen seit Jahrzehnten zeigen, nicht nur in Deutschland die mit Abstand am meisten diskriminierte Bevölkerungsgruppe.
Antiziganismus lautet die Bezeichnung des Vorurteils, vergleichbar dem Begriff Antisemitismus, der Vorurteile und Feindschaft gegen die Juden umschreibt. Auch Antiziganismus ist ein schiefer Begriff, in dem die Wurzel „Zigeuner“ deutlich zu erkennen ist. Dieses Wort benutzen wir aus guten Gründen nicht mehr.
Zu beobachten – damit bin ich beim Thema – ist aber neuerdings das Plädoyer für die Verwendung des überholten Begriffes. Allerlei Argumente werden angeführt, wie dieses, dass man sie doch immer so genannt habe, die „Zigeuner“. Oder jenes, dass irgendwo ein Sinto oder eine Romni gesagt haben soll, sie seien doch „Zigeuner“ oder – je nach Region – „Gipsys“ oder „Gitanes“.
Man wundert sich, was das Beharren Außenstehender auf einer von den damit Gemeinten als pejorativ, als verächtlich abgelehnten Bezeichnung für einen Zweck hat. Man muss fürchten, dass die unselige Pseudowissenschaft der Ziganologie, die sich anmaßt, das Wesen der Volksgruppe mit Stereotypen und Klischees zu erklären, wieder aufersteht.
Die Nationalsozialisten nahmen sich als Auftakt der Diskriminierung und der Verfolgung das Recht zu bestimmen, wer Jude sei, und sie definierten die Angehörigen der Minderheit nach den rassistischen Kategorien der NS-Ideologie. „Zigeuner“ nannten sie natürlich „Zigeuner“. Das war verächtlich und beleidigend gemeint.
Die Bezeichnung war üblich, bis die Angehörigen der Minderheit sich in einer Bürgerbewegung sammelten und auf ihrem Recht bestanden, selbst zu bestimmen, wie sie genannt werden wollten. Wir sprechen deshalb heute von Sinti und Roma und bezeugen damit den Angehörigen einer Volksgruppe das Minimum an Respekt, das allen Bürgern gebührt.
Immer noch aber sind – wenn Sie jetzt das Wort „Zigeuner“ von mir hören, steht es selbstverständlich immer in Anführungszeichen – „Zigeuner“ ein beliebtes Genre, deren Folklore sich als literarisches Sujet, als Feature, als Sachbuch mit scheinbar aufklärerischem Anspruch, als Reportage oder in anderer Form ausbeuten lässt. Im günstigsten Falle ist Empathie – vergleichbar dem Philosemitismus der Beflissenen – die Triebkraft, sich mit dem Leben dieses Volkes zu beschäftigen. Im schlimmsten Fall sind es Ressentiments gegen die Minderheit, die in böser Absicht agiert werden. Dann spricht man von Antiziganismus.
In der Wahrnehmung der Mehrheit gehören zum Bild der Minderheit das ungebundene Leben fern moderner Zivilisation, die Metaphern Stehlen, Betteln, Wahrsagen, Musizieren und die Konnotation triebhaft ausgelebter Sexualität.
Als Opernstoff oder im Ölbild als trivialem Träger des Klischees der lockenden spanischen Romni ist die Metapher immer noch allgegenwärtig.
Wolf Wondratschek bemüht in seinem pathetischen Carmen-Gedicht die andalusische Zigeunerin als Metapher für das Weiblich-Animalische: Carmen ist die begehrenswerte, unzügelbare, rätselhafte, von Trieben gesteuerte Frau, die Verkörperung der Ursehnsucht des Mannes, der ihren „begehrenswert schlechten Charakter“ liebt, nicht von ihr loskommt, sie in allen Frauen sieht, aber nie mehr findet. Ein Beispiel für eine besonders beliebte und besondere wirkungsvolle Form von Mystifizierung.
In der Mythisierung sind trotz signifikanter Unterschiede Parallelen zum Judenbild der Mehrheitsgesellschaft, wie es in Literatur, Kunst, öffentlichem Diskurs tradiert ist, zu erkennen. Wurde der Jude im negativen Sinn als Händler und Schieber, als Fremder und mit unerwünschten Eigenschaften und Merkmalen Ausgestatteter wahrgenommen, so gehören das Bild der schönen Jüdin, das Stereotyp vom reichen Juden, die Vorstellung besonders ausgeprägten Intellekts und künstlerischer Eigenschaften in der jüdischen Minderheit zur Wahrnehmung der Mehrheit. So enthält auch das Bild von Sinti und Roma begehrenswerte, Neid stimulierende Elemente. Sympathie wird dadurch freilich nicht gestiftet.
Sinti und Roma sind Objekte bestimmter Vorurteile, nach denen sie zum Beispiel den Eigentumsbegriff der Mehrheit nicht teilen würden, sexuell zügellos, aus angeborenem Freiheitsdurst nicht sesshaft zu machen seien, als Konfliktlösung nur Gewalt akzeptierend, nicht an die Lebensformen der Mehrheitsgesellschaft zu gewöhnen, also nicht zu integrieren seien. Die ausgrenzenden Vorurteile konstellieren dann die Lebenswelt der davon Betroffenen. So wird „Zigeunern“ nachgesagt, sie lehnten bürgerliche Wohnformen ab, weil sie lieber nomadisieren würden. Man vermietet ihnen also keine Wohnung, weil sie das Parkett aufreißen und daraus Lagerfeuer machen. Tatsächlich steht aber die Verweigerung der Wohnung dafür, dass man Sinti und Roma zur Nichtsesshaftigkeit zwingt. Das gilt dann wiederum als scheinbar konstitutives Merkmal der Gruppe und wird ihr als wesenseigen vorgehalten. Herr Delfeld hat in seiner Ansprache schon ein drastisches Bild für diese Konstellation gebraucht.
In der Belletristik werden die Roma in der Regel als kindhaftes Volk gezeichnet, das die Errungenschaften moderner Zivilisation nicht begreift und deshalb hartnäckig ablehnt. Die „Zigeuner“ – so die öffentliche Meinung der Mehrheit – verweigern sich gegen die Gesellschaft, in der sie leben, und machen sich dadurch einerseits schuldig, andererseits sind sie dadurch auf exotische Weise attraktiv. Die Skala reicht von der lockenden und lasziven jungen bis zur hexenartigen wahrsagenden alten „Zigeunerin“.
Untrennbar ist die Vorstellung des männlichen „Zigeuners“ mit Musik, mit Pferden, mit Stolz verbunden. Die Bilder vom kindlich unbeschwerten Naturvolk, von den dem Augenblick hingegebenen Naiven, die in einer Gegenwelt zum Fortschritt und zur Zivilisation glücklich leben, finden wir klassisch und exemplarisch formuliert bei Hermann Hesse in „Narziß und Goldmund“:
„Keinem Menschen gehorsam, abhängig nur von Wetter und Jahreszeit, kein Ziel vor sich, kein Dach über sich, nichts besitzend und allen Zufällen offen, führen die Heimatlosen ihr kindliches und tapferes, ihr ärmliches und starkes Leben. Sie sind die Söhne Adams, des aus dem Paradies Vertriebenen, und sind die Brüder der Tiere, der Unschuldigen.“ Das ist Poesie.
Solche Metaphern sind – obwohl ohne böse Absicht geprägt – willkommene Instrumente der Ausgrenzung: Das Vorurteil vom kindhaften Naturvolk rechtfertigt den Ausschluss aus der Gesellschaft der Mehrheit, legitimiert scheinbar Bevormundung, Abneigung und Verfolgung, weil die konstruierten Bilder von der Minderheit sich selbst bestätigende Kraft und Wirkung haben. Vorstellungen über die vermeintliche Welt der „Zigeuner“ sind längst in die Konsumwelt eingedrungen und bestimmen mit Attributen wie rassig, feurig, pikant das Bild, das sich die Mehrheit von der Minderheit machen will.
Die Tradition der Klischees ist ungebrochen. 1990 erschien ein Buch mit dem Titel „In meiner Sprache gibt’s kein Wort für morgen“, in dem das unbeschwerte, ganz dem Augenblick hingegebene vermeintliche „Zigeunerleben“ als Collage einschlägiger Stereotypen geschildert wird. Auch die Empathie stiftende Geschichte von Jenö, dem Zigeunerjungen, der mit einem Gleichaltrigen der
Mehrheitsgesellschaft bis zur Deportation durch die Vollstrecker des nationalsozialistischen Völkermords befreundet ist, löste Vorurteile nicht auf, sondern festigte sie.
Der Text von Wolfdietrich Schnurre war lange Zeit Schullektüre, ehe sich Kritik erhob, weil Jenö und „seine Leute“ mit allen Eigenschaften des bürgerlichen Negativbildes ausgestattet waren: Sie stahlen, übten Magie, arbeiteten als Rosstäuscher und Betrüger, waren verwahrlost. Der Text lebt von solchen Zuschreibungen, die der Autor als „andere Sitten“, als Kultur der Minderheit propagiert.
Vor allem aber schreibt die Geschichte damit die negativen Stereotypen über die Minderheiten fest. Generationen von Lehrer haben in bester Absicht dieses Buch als Schullektüre genommen, um Empathie für eine verfolgte Gruppe von Bürgern zu stiften.
Für die Tradierung und ständige Neubelebung des Vorurteils gegenüber Sinti und Roma spielen also Literatur, Informations- und Unterhaltungsmedien eine so zentrale Rolle, wie sie gegenüber keiner anderen Minderheit zu konstatieren ist. Gegenüber Juden wurde das Ressentiment erst durch Religion, dann durch „Rasse“ begründet und entsprechend ideologisiert. Gegenüber Muslimen werden Religion und Kultur instrumentalisiert. Roma werden als atavistische ethnische Gruppe zugleich romantisierend verklärt wie als unzivilisiert und nicht zivilisierbar stigmatisiert.
Mit der Romantisierung in der Belletristik geht die Dämonisierung der ethnischen Gruppe einher, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Das negative Bild wurde nicht nur durch Literatur und durch volkstümliche Überlieferung, sondern auch mithilfe der Wissenschaft verbreitet. Ende des 18. Jahrhunderts wurden Erklärungen für das Wesen des „Zigeuners“ populär, die das Konstrukt „Rasse“ benutzten. Von der Kriminalbiologie des 19. Jahrhunderts, die Repressionsgründe gegen die Minderheit lieferte, führte der Weg zur nationalsozialistischen Verfolgung. Die Ressentiments wurden im 19. Jahrhundert durch administrative Maßnahmen politisch agiert. Aus der Überzeugung, es existiere eine „Zigeunerplage“ wurden rigide Aufenthaltsbeschränkungen und Kontrollen verfügt, polizeiliche Willkür vollstreckte die Abneigung der Mehrheit gegen die Minderheit.
Die Verweigerung des Wohnrechts machte die Gruppe zu Nomaden. Damit bestätigte sich das Vorurteil der Nichtsesshaftigkeit aus angeblich rassistisch angelegtem Freiheitsdrang. Gleichzeitig blieb die Minderheit durch die Ausgrenzung aus der mehrheitlichbürgerlichen Lebenswelt auf traditionelle Erwerbsformen wie den Hausierhandel, das Musizieren, den Bau von Musikinstrumenten, den Handel mit Schrott oder mit Antiquitäten und die Schaustellerei fixiert, was wiederum gegen die Gruppe ausgenutzt wurde.
Die nationalsozialistische Rassenideologie setzte dann nur die Politik der Ausgrenzung fort und entwickelte die Tendenz zur Ghettoisierung. Viele große Städte richteten lagerartige Plätze ein, die teilweise bewacht waren, immer elend gelegen, oft an tabuisierten Orten wie in der Nähe von Friedhöfen oder bei Kläranlagen. Obwohl sie
nicht ausdrücklich erwähnt wurden, galten die Nürnberger Rassengesetze seit 1935 auch für die Minderheit der Sinti und Roma und machten sie zu Staatsangehörigen minderen Rechts, was sie – nebenbei gesagt – unausgesprochen ja schon immer waren.
1938 wurde im Reichskriminalpolizeiamt eine „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ eingerichtet. Heinrich Himmler, in dessen Zuständigkeit als Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei die Sinti und Roma geraten waren, verfügte am 8. Dezember 1938, dass die „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus“ erfolgen müsse, und zwar auf der Grundlage der „durch rassenbiologische Forschungen gewonnenen Erkenntnisse“. Die notwendigen Unterlagen hatten Wissenschaft und Kriminalpolizei zu liefern. Das waren unter der Leitung eines Dr. Robert Ritter die Mitarbeiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ des Reichsgesundheitsamtes.
Die Ausrottung der unerwünschten Minderheit gehörte zu den Intentionen nationalsozialistischer Rassenpolitik. Ein Schritt dazu sollte die Übertragung der Strafverfolgung und des Strafvollzugs gegen „Fremdvölkische“ an die SS sein. Das wurde ab September 1942 diskutiert und hatte die Wirkung, dass Sinti und Roma de facto vollkommen rechtlos wurden, das heißt der Willkür von Polizei und SS ausgeliefert waren.
Ab Herbst 1939 diente der Krieg dem nationalsozialistischen Regime als willkommener Hintergrund, vor dem sich die geplante Vernichtung unerwünschter Minderheiten durchführen und der Öffentlichkeit – soweit es sein musste – gegenüber begründen ließ. Am 2. September 1939 wurde das „Umherziehen von Zigeunern und nach Zigeunerart wandernden Personen“ im Grenzgebiet des Deutschen Reiches verboten. Das war als Kriegsmaßnahme begründet; am 17. Oktober 1939 befahl das Reichssicherheitshauptamt, dass „Zigeuner und Zigeunermischlinge“ ihren Wohn- oder Aufenthaltsort nicht mehr verlassen durften. Mit diesem „Festschreibungserlass“ begann die letzte Stufe der Verfolgung.
Den lokalen Polizeibehörden war die Aufgabe übertragen, Sinti und Roma zu zählen – deshalb waren diese zur Sesshaftigkeit verpflichtet worden – und nach Kategorien der Rassenpolitik und der sogenannten „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ zu klassifizieren. Ende September 1939 war beschlossen worden, die auf deutschem Boden vermuteten „30.000 Zigeuner“ wie die Juden zunächst nach Polen zu deportieren. Die Vertreibung der Unerwünschten ins gerade eroberte und unterworfene Polen war wiederum der erste Schritt zu ihrer Vernichtung: In den Ostgebieten, die wie Kolonien beherrscht und behandelt wurden, konnte der geplante Massenmord besser vollzogen werden; denn Rücksichten auf die Zivilbevölkerung erschienen kaum nötig.
Am 16. Dezember 1942 erließ Himmler als Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei den Befehl, der den Genozid systematisierte. Alle „zigeunerischen Personen“ sollten in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert werden. Unter Geheimhaltung wurden die Betroffenen familienweise verhaftet, ihr Eigentum mussten sie zurücklassen. Ausweise, Geld, Wertgegenstände wurden konfisziert, also geraubt.
Über Gefängnisse und Zwischenlager kamen die Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau, in ein abgegrenztes Areal des Vernichtungslagers, wo sie unter entsetzlichen Umständen lebten. Die Gefangenen waren sogenannten „rassenpolitischen Forschungen“ ausgeliefert, auch dem berüchtigten KZ-Arzt Mengele, der viele von ihnen zu pseudowissenschaftlichen Experimenten missbrauchte. In einer Nacht Anfang August 1944 wurde das ganze „Zigeunerlager“ Auschwitz liquidiert.
Der Völkermord an Sinti und Roma wurde aber an vielen Orten des nationalsozialistischen Herrschaftsgebietes begangen, in den Vernichtungslagern Auschwitz, Chelmno/Kulmhof, Treblinka, Majdanek auf polnischem Boden, durch Massenexekutionen in Polen und im Baltikum, in Kroatien und Serbien, in der Ukraine, auf der Krim.
Aus formalen und juristischen Gründen wurde die Verfolgung der Minderheit der Sinti und Roma in Deutschland nach 1945 lange Zeit ignoriert oder verharmlost. Die alten Vorurteile wirkten weiter, und so bestand die stillschweigende Übereinkunft, diese Minderheit, die Minderheit der Sinti und Roma, sei eigentlich zu Recht verfolgt worden; denn sie sei von ihrer Konstitution her asozial und kriminell.
Die Ausnützung uralter Vorurteile zur Stigmatisierung der Angehörigen einer Minorität war ein über den Zusammenbruch des NS-Staats hinaus wirkendes Unrecht. Noch im Jahr 1956 kam der Bundesgerichtshof zu der Feststellung, die das Verhalten der Mehrheit bei der Verweigerung von Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen zu sanktionieren schien – Zitat Bundesgerichtshof –:
„Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“ So urteilt das oberste deutsche Gericht elf Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Unrechtstaats.
Weitere Ressentiments beherrschten die Verantwortlichen, die nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes für die Aufarbeitung des begangenen Unrechts zuständig waren. Sie zogen sich aus der Affäre mit dem Argument, den Sinti und Roma hätte die erlittene Verfolgung weniger ausgemacht als anderen Menschen, da sie von Natur aus unempfindlicher, stumpfer und deshalb zu größerem Leiden fähig seien. Solche Vorurteile bekamen die Verfolgten noch zu spüren, als sie in den 60er- und 70er-Jahren Renten für erlittene Gesundheitsschäden beantragten.
Ein Medizinprofessor kam als Gutachter im Jahre 1971 zu dem Schluss, die Mutter von drei Kindern, die im KZ alle Kraft auf deren Rettung verwandt hatte, könne keine dauernden Folgen ihrer Leidenszeit davongetragen haben. Seine Folgerung lautete – wörtlich –:
„Die sofortige Wiedervereinigung mit dem Ehemann nach der Befreiung und die alsbaldige Wiederaufnahme des gewohnten Wander- und ‚Berufslebens‘ wird ferner dazu beigetragen haben, dass eine etwaige reaktive
depressive Dauerverstimmung, wie sie gelegentlich nach so langer KZ-Lagerzeit beobachtet wurde, nicht zur Entwicklung kommen konnte.“ Ende dieses blamablen Zitats.
Als Spätfolge von KZ-Haft sind Medizinern und Psychiatern die Symptome der Entwurzelungsdepression geläufig. Aber Sinti und Roma haben nach Überzeugung dieser Experten offenbar wesensmäßig und traditionell weniger Leidensfähigkeit als andere Menschen: Ein Sinto, der 18-jährig im Jahre 1938 ins KZ geriet und sieben Jahre lang inhaftiert war, bekam 1971 bescheinigt, die Voraussetzung für eine Entwurzelung im medizinischen und psychiatrischen Sinn sei bei ihm – wörtlich – „nicht in dem Umfang gegeben, wie bei dem Personenkreis, der aus einem festgefügten sozialen Rahmen gerissen wurde.“ Deshalb müsse man bei ihm auch unterstellen, dass – wieder wörtlich – „aufgrund seiner Herkunft die Schwelle der eben noch zu ertragenden unzumutbaren seelischen Belastungen höher anzusetzen ist als bei denjenigen, die in einem festgefügten sozialen Rahmen lebten.“ Ende des Zitats aus dem medizinischen Gutachten.
Anders als die Juden konnten Sinti und Roma lange Zeit nach ihrer Verfolgung noch kaum auf Hilfe und Verständnis rechnen. Die deutschen Entschädigungsbehörden argumentierten bis in die 70er-Jahre hinein im Einklang mit Politikern und der öffentlichen Meinung gegenüber Wiedergutmachungsansprüchen wegen erlittener Verfolgung, die sogenannten „Zigeuner“ seien vor allem als Kriminelle und Asoziale in die Konzentrationslager gekommen und Opfer staatlicher Maßnahmen geworden, mit anderen Worten, sie seien selbst an ihrem Schicksal schuld.
Wurde das Judenbild der Mehrheit in Deutschland nach dem nationalsozialistischen Genozid durch die Opferrolle der Juden und durch Gefühle der Scham und Schuld in der Mehrheitsgesellschaft neu geprägt, so blieb die stereotype negative Wahrnehmung der Sinti und Roma – von einigen, auch schon angedeuteten unzulänglichen literarischen Versuchen abgesehen – unverändert. Das weitgehend statische Bild war im Negativen charakterisiert durch die Vermutung konstitutiver Kriminalität und habituellen „asozialen“ Verhaltens. Dafür finden sich in der deutschen Nachkriegspublizistik reichlich Belege.
Im Frühjahr 1959 berichtete die Illustrierte „Stern“ über einen Aussiedlertransport aus Polen, mit dem 331 „Zigeuner“ – wie selbstverständlich noch geschrieben wurde – in Schleswig-Holstein ankamen. Eine dreiseitige Fotoreportage war dem „fahrenden Volk“ gewidmet: „Die Zigeuner sind da! Aber sie sind eine unerwünschte und unerwartete Zugabe zu den Aussiedlertransporten, die seit Dezember 1955 im Rahmen einer gemeinsamen Aktion des Deutschen und des Polnischen Roten Kreuzes auf dem Zonengrenzbahnhof Büchen eintreffen.“