Formalisierung des Rechts ist eine notwendige Voraussetzung einer Kontrolle. Sie meint Klarheit des Gesetzes und Offenheit seiner Durchsetzung, sie meint Begründungspflichten, sie meint Einrichtung, Effizienz und Zugänglichkeit von Rechtsbehelfen, kurz: Sie meint die Bindung des Rechts an Regeln und die Chancen der Bürgerinnen und Bürger, diese Regelbindung erfolgreich einzuklagen. – Gewalt lässt sich nur beherrschen, wenn das Recht zugleich mächtig ist und gebunden. Mächtig, um sich gegenüber jeglicher Bedrohung von Wahrheit und Gerechtigkeit zu behaupten; und gebunden, um nicht selbst zur Bedrohung von Wahrheit und Gerechtigkeit zu werden. Man sieht: Ein formalisiertes Recht ist anstrengend, es ist aufmerksam und immer unterwegs.
Eine besonders dreiste Verletzung rechtlicher Formalisierung durch den Nationalsozialismus war die Einsetzung einer Geheimen Staatspolizei, der Gestapo. Schon der Name deckt das Problem auf: Hirn und Faust, geheimes Wissen und das Recht zum Zuschlagen wurden ineinander verschränkt und gewannen damit eine – im Wortsinn – unheimliche Macht über die Bürger und Bürgerinnen. – Nimmt man hinzu, dass es eine wirksame Kontrolle dieser Apparate außerhalb ihrer exekutiven Struktur nicht gegeben hat, dann kann man sich vorstellen, dass, wer in den Fokus der Gestapo geraten war, mit dem Rücken zur Wand gestanden ist, ohne Orientierung und ohne Chance der Gegenwehr.
Diese Erfahrung liegt bis heute wie ein Schatten über unseren Auseinandersetzungen um den rechten Weg zwischen effektiver Verbrechensbekämpfung und Datenschutz, und sie gibt dem Trennungsgebot für Verfassungsschutz und Polizeibehörden bis heute einen guten Sinn. Wir stellen uns nicht künstlich dumm, wenn wir die beiden Gewalten trennen. Wir lassen uns vielmehr beeindrucken von zu viel Macht in nur einer Hand.
Die Geheime Staatspolizei ist, wie wir alle wissen, nur ein besonders lautes Beispiel des entformalisierten Rechts der Nazizeit. Dieses Recht war für die Bürgerinnen und Bürger durchsetzt mit Stolpersteinen: mit Verheimlichung, Vagheit und Überraschung. Regelbindung und Kontrolle des Rechts waren den Nazis ein Gräuel. Sie waren am genauen Gegenteil interessiert: am Zusammenwirken von weichem Recht und harter Gewalt, an der rechtlichen Absegnung effektiver gewaltförmiger Interventionen. – Dass Hitler die Juristen verachtet hat, nimmt dabei nicht wunder; er hatte am Ende ja recht. Die Justiz dieser Zeit war keine staatliche Gewalt, sondern sie war ein Anhängsel: Sie hat ihren Eigensinn
Schritt für Schritt aufgegeben und war dem schlimmsten Schlag einer Politik der Entformalisierung zum Opfer gefallen: der Eingliederung des Rechts und seiner Ordnung in die Interessen einer Partei, der NSDAP. – Das Ergebnis war der freigesetzte, der entfesselte Leviathan, der Gottseibeiuns.
Ich komme zur Freiheitlichkeit. Formalisierung des Rechts ist ein notwendiges, aber noch nicht auch ein hinreichendes Mittel auf dem Weg einer Rechtsordnung zum Rechtsstaat. Formalisierung ist eben bloß ein formales Konzept. Sie besteht auf Klarheit und Kontrolle, und das hilft schon sehr viel auf dem Weg zur Gerechtigkeit, aber sie ist noch kein Garant für gerechte Inhalte. Formalisierung ließe sich vielleicht sogar mit einem Regime der Unterdrückung vereinbaren, wenn es den Machthabern nur gelingt, ihre repressiven Ziele klar zu formulieren und Kontrollinstanzen beizubehalten, aber sie zu Fassaden werden zu lassen. Wie dem auch sei: Diese Art Formalisierung wäre kein Beispiel eines Rechtsstaats, sondern einer besonders gesicherten Gewaltordnung, die auch zur offenen Verhöhnung ihrer Bürger imstande ist. Nein: Durchsichtige Formen sind nötig: sie müssen aber durch gerechte Inhalte ergänzt werden.
Gerechte Inhalte in diesem Verständnis werden in einer modernen Rechtsordnung vor allem von Grundrechten transportiert; sie sind von alters her Abwehrrechte gegenüber dem Staat und halten den Bürgern Räume frei, in denen der Staat nichts zu suchen hat; denken Sie nur an Privatheit, an Religion oder Datenschutz. Die Wertschätzung und die Beständigkeit unseres Grundgesetzes verdanken sich nicht zuletzt dem Umstand, dass die Grundrechte dort räumlich und sachlich im Vordergrund stehen und dass es begehbare Wege gibt, sie im Einzelfall auch zu schützen. Leben, Gesundheit oder Eigentum können mit der Verfassungsbeschwerde auch gegen Staat und Justiz durchgesetzt werden.
Dass der Staat der Verfassung ein solch scharfes Schwert in die Hand gibt, ist nicht selbstverständlich. Klagen gegen ihn – nämlich den Staat – können ihm peinlich oder gar gefährlich werden, und davon legen die Reaktionen in der Öffentlichkeit auf einschneidende Urteile des Bundesverfassungsgerichts Zeugnis ab – vor allem dann, wenn die Streithähne einander nach dem Spruch auch noch in lobender Zustimmung überbieten. Im internationalen Vergleich der modernen Verfassungsgerichtsbarkeiten darf die freiheitliche Orientierung unseres Grundgesetzes als besonders mutig gelten.
Mit der Idee von Grundrechten und Freiheitlichkeit konnte die Weltanschauung des Nationalsozialismus wenig anfangen. Sie war, im Gegenteil, auf Gleichförmigkeit und Gehorsam fixiert und entschlossen, den effektiven Staat nicht durch Freiheitsrechte der Bürger zu stören, zu belasten oder gar zu schwächen. Personen zogen sich gemäß dieser Weltanschauung nicht in ihre Privatheit zurück, sondern bildeten das Volk.
Religion war bestenfalls – und auch das nur im abwertenden Sinn – „Privatsache“: geduldete Spinnerei von Leuten, die eigentlich nicht dazugehörten. – Was von den christlichen Traditionen öffentlich übrig blieb, waren eine nebulose „Vorsehung“ und eine historisierende
Gefühligkeit. Zugeständnisse an Religionsgemeinschaften – und es gab ja durchaus Zugeständnisse – waren nicht Gewährleistung von Freiheit, sondern Ergebnis eines innen- oder außenpolitischen Kalküls im Spiel der Kräfte. Und eine „falsche“ Religion konnte die Fahrkarte ins KZ und in die Vernichtung bedeuten.
Das sieht in einem Rechtsstaat ganz anders aus, und deshalb ist sein Beispiel lehrreich. Dieser Staat hat zweierlei verstanden – der Rechtsstaat –: dass Glaube geschützte Räume braucht, weil er ein Grundbedürfnis des Menschen ist, und dass der Staat sich aus allen Formen der Ausübung von Religion heraushalten muss, weil sonst die Staatsgewalt zur Gewalt gegen Religionen werden kann. – Das Erste begründet das Grundrecht der Glaubensfreiheit, das alle privaten Annahmen über eine jenseitige Welt schützt – auch den „Unglauben“ an eine jenseitige Welt. Das Zweite führt in die Trennung von Kirche und Staat, die einen „Gottesstaat“ verlässlich ausschließt, weil sie dem Staat jegliche Stellungnahme in Glaubensdingen streng verbietet.
Damit sind nicht alle Probleme für alle Zeiten gelöst. So streiten wir heute über die Grenze zwischen dem originären, dem spezifischen Recht einer Religion und den bürgerlichen Rechten für uns alle und stehen ratlos etwa vor einem Recht zur „Beschneidung“ von Jungen oder gar von Mädchen. Kann die religiöse Überlieferung diesen Eingriff in bürgerliche Rechte rechtfertigen? – So sind wir bei der Trennung von Kirche und Staat pragmatisch und vernünftig hier in Deutschland, und wir übertreiben sie nicht, diese Trennung. Der Staat muss den Religionsgemeinschaften nicht kalt den Rücken kehren; er darf vielmehr helfen und fördern – aber nicht, weil er eine bestimmte Religion für überzeugend hält, sondern nur deshalb, weil diese Religion faktisch Bestand hat und sich in den Grenzen unseres freiheitlichen Religionsverfassungsrechts bewegt.
Diese Freiheitlichkeit des Religionsrechts hat bewirkt, was mir wie ein Wunder vorkommt: dass die Menschen, die unter diesem Recht leben, nach Jahrhunderten blutiger Auseinandersetzung um den „wahren Glauben“ gelernt haben, miteinander in Frieden umzugehen, obwohl doch die jeweils einen genau das für falsch halten, was die jeweils anderen glauben, was die also „für wahr halten“ – und umgekehrt. Die Auseinandersetzungen um die „Schmähvideos“ führen uns derzeit den Wert des freiheitlichen Rechts und der Trennung von Staat und Kirche vor Augen und warnen uns davor, diese Freiheit aufs Spiel zu setzen.
Es gibt, so glaube ich, Menschenrechte, die zwar verletzbar, aber nicht hintergehbar und nicht relativierbar sind. Die Freiheitlichkeit von Staat und Recht gehört dazu. Sie ist unsere beste Tradition, unser Recht lebt von ihr.
Zum Schluss komme ich zur Sozialmoral. Also: Ohne Formalisierung und ohne Freiheitlichkeit des Rechts kein Rechtsstaat. – Die Nationalsozialisten haben das Volk erleben und konkret erfahren lassen, dass das stimmt. Dennoch ist, wenn es, wie hier, um den Rechtsstaat geht, um seine Möglichkeiten und Voraussetzungen, der Blick nur auf die Rechtsordnung zu eng. Er muss sich auch auf die Menschen richten, die unter dieser Rechts
ordnung leben und die sie tragen, auf deren Moral und auf deren Einschätzung von Richtig und Falsch, von Gerecht und Ungerecht, und auch auf ihre Chancen, ihre Einschätzung auch zu verwirklichen. Ohne eine Sozialmoral, so behaupte ich, wird ein Rechtsstaat nicht lange überleben.
Fragen wir uns doch einmal: Womit haben wir es verdient, dass die Religionen in der Bundesrepublik heute nicht mehr übereinander herfallen, dass der Staat stützt und hilft, statt zu stören und zu drohen? – Man wird nicht im Ernst antworten können, das sei allein der Formalisierung und Freiheitlichkeit unserer Rechtsordnung geschuldet. Das hat doch wohl auch mit den Menschen zu tun, die hier leben, und mit deren Anschauung von Recht, von Ordnung und von Freiheit. Wenn die meisten von uns noch immer glauben würden, es gäbe einen immanenten Gott, der sich in unsere Händel hier unten einmischt und beispielsweise unter einer irdischen Beleidigung leiden kann, dann wäre das vermutlich die Wiederkehr des Gottesstaats und das Ende unserer freiheitlichen Rechtsordnung.
Auf Deutsch: Durchsichtigkeit und Freiheitlichkeit des Rechts werden erst durch die Zustimmung der Leute möglich, und das war unter den Nazis – mit umgekehrten Vorzeichen – nicht anders. – Diese Gesellschaft – die Nazi-Gesellschaft – hat es ertragen und gebilligt, dass Menschen wegen ihrer Rasse verfolgt und öffentlich verhöhnt wurden, dass Eigentum vor aller Augen zerstört wurde und Nachbarn verschwanden. Das war auch ein Teil der herrschenden Sozialmoral, ohne den ein ungleiches und unterdrückendes Recht auf die Dauer keinen Bestand gehabt hätte. Und diese zerrüttete Sozialmoral war ihrerseits auch das Ergebnis einer tiefen Zukunftsangst der Leute, ihres verletzten Nationalbewusstseins, ihrer verblendeten Gewissheit über die Schuldigen und über den Wert der Gewalt. Ohne diese fundamentalen Erschütterungen hätte unser Land – da- von bin ich überzeugt – nicht so viele Mitläufer, Jasager und Unterstützer erlebt.
Kant hat in seiner konzentrierten Schrift „Zum ewigen Frieden“ beiläufig behauptet, eine „Staatseinrichtung“ sei „selbst für ein Volk von Teufeln“ möglich, „wenn sie nur Verstand haben“. Eine „Staatseinrichtung“, das heißt Rechtsordnung, sei „selbst für ein Volk von Teufeln möglich, wenn sie nur Verstand haben.“ Das ist – auch wenn man es nur metaphorisch nimmt – ein überzogener Rationalismus und widerspricht jeglicher Erfahrung. Die Teufel werden sich bedanken und ihren Verstand alsbald zur Herstellung von Teufelswerk einsetzen.
Ich glaube nicht daran, dass ein Verstand – selbst wenn er die Dinge durchschaut und die Folgen wägen kann – am Ende immer nur das Richtige empfehlen wird – jedenfalls dann nicht, wenn es ein menschlicher Verstand ist. Man wird in Zeiten der Moderne durchsichtiges und richtiges Recht nicht erwarten dürfen, wenn die Sozialmoral der Bevölkerung nicht wenigstens zwei Werte in hinreichender Dichte enthält: Toleranz und Solidarität. – Beides kann der Staat mit seinen Mitteln nicht durchsetzen. Er kann diesen Werten nur günstige Bedingungen für Entstehung und Wachstum schaffen. Beides – Toleranz und Solidarität – fordert, dass wir in unserem Alltag bereit sind, Fremdheit zu ertragen und fremde Armut
Also bleibt am Ende die Einsicht, dass eine gute Rechtspolitik ein Gemeinwesen voraussetzt, das eine stabile Meinung vom guten Leben hat und dieser Meinung auch praktisch folgt.
So kann ich die Frage, die sich mir gestellt hat, schlicht beantworten: Das Recht lebt mit den Menschen und ihrer Moral, und es verdirbt mit ihnen. An dieser Moral arbeiten wir alle – von den Eltern über die Schule, von den Medien bis hin zu den Religionsgemeinschaften, zur Wirtschaft und zur Kultur.
Sehr verehrter Herr Landtagspräsident Mertes, sehr geehrte Fraktionsvorsitzende, liebe Kollegen und Kolleginnen aus dem Parlament, sehr verehrte Mitglieder des Konsularischen Korps, Herr Präsident Dr. Brocker, liebe Mitglieder der Landesregierung, sehr verehrter Herr Ministerpräsident a. D., lieber Kurt Beck, verehrter Herr Professor Hassemer, liebe Repräsentanten und Repräsentantinnen der in der Nazi-Zeit verfolgten Bevölkerungsgruppen – ich erwähne stellvertretend Herrn Delfeld und Frau Schindler-Siegreich –, meine sehr geehrten Herren und Damen! Herr Professor Hassemer, zunächst ein herzliches Dankeschön auch von mir an Sie für diesen wirklich interessanten und wunderbaren Vortrag. Herzlichen Dank dafür!
Dieser Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ist für mich ein Tag tiefer Betroffenheit, nicht nur am 27. Januar jedes Jahres, aber heute doch in ganz besonderer Weise: die furchtbare Diktatur, der millionenfache Mord – all das kann einen nicht unberührt lassen, gerade hier an diesem Ort. An einem Ort des Leids meint man auch 80 Jahre danach noch fast hautnah zu spüren, welche Schicksale sich damals abgespielt haben müssen, wie Menschen gedemütigt und wie sie gequält worden sind, weit ab noch von den Vernichtungslagern.
Ja, es ist richtig, das an sich heranzulassen. So furchtbar diese Ereignisse damals gewesen sind, so richtig war und ist es, Stätten der Erinnerung zu schaffen, Stätten des Gedenkens, die zeigen, was niemals mehr in Deutschland und nirgendwo sonst mehr in der Welt sein darf: Tyrannei als Herrschaftsmethode und Gewalt und Tod als Herrschaftsmittel.
Ich habe vor einem Dreivierteljahr eine Rede an der Universität Trier, an der Juristischen Fakultät zu dem
Thema „Gewissen und Recht – Denkanstöße zu Gesetzgebung und Rechtsanwendung“ gehalten. Wohin eine gewissenlose Rechtsanwendung führen kann – so mein Beispiel damals –, hat uns im Extremen der Nationalsozialistische Volksgerichtshof vor Augen geführt. Man kann auch die schrecklichen Standgerichte der Nazi-Zeit nennen.
Ein gewissenhafter Jurist aber handelt nach Recht und strebt nach Gerechtigkeit. Das sind zwei Seiten einer Medaille.
Sehr geehrter Herr Professor Hassemer, Sie haben diesen Gedanken auf das richtige Fundament gestellt, die Sozialmoral der Menschen, die sich auf Toleranz und Solidarität gründen muss. Ohne Sozialmoral jedoch wird es kein Recht geben, und das Streben nach Gerechtigkeit bleibt unerfüllt.
Sehr geehrter Herr Professor Hassemer, Sie haben in eindringlichen Worten beschrieben, wie die drei Freunde ihren inhaftierten Vater besuchten und welche Erniedrigungen diese jungen Menschen dabei haben erfahren müssen.
Noch ist nichts gesagt über das, was die Gefangenen hier erleben und erleiden mussten. Die allermeisten der rund 3.000 Häftlinge waren politische Gefangene, unter ihnen waren aber auch Sinti und zahlreiche Juden. Gerade die Juden wurden hier schon 1933 besonders menschenverachtend behandelt, schikaniert und seelisch gefoltert.
Man kann in der Rückschau darin den Keim sehen, was bis 1939 an Terror und Verbrechen im Inneren folgen sollte und sich im Krieg völlig ungehemmt in Massenverbrechen und Völkermord steigerte.
Sehr geehrter Herr Professor Hassemer, es sind Gefangene wie Ihr Vater, die dem Unrecht und dem Leid ein Gesicht geben. Erst 21 Jahre alt war er damals, als er ins Lager kam.
Es sind Menschen wie der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Carlo Mierendorff, der hier inhaftiert war, wie Karl Schreiber, 1934 Häftling hier im KZ, 1972 Gründungsvorsitzender der Lagergemeinschaft des KZ Osthofen, wie Philipp Wahl, der zu den Begründern der Lagergemeinschaft gehörte und deren Vorsitzender bis zu seinem Tod im Juli 2009 war, und wie Philipp Benz: sein unermüdlicher Einsatz hat mit dazu geführt, dass das ehemalige KZ vor dem Abriss bewahrt wurde. Im November 2011 ist er annähernd 100-jährig gestorben.
Sie stehen alle stellvertretend für all diejenigen, die hier oder anderswo unter der Nazi-Tyrannei zu leiden hatten.
Anna Seghers, die gebürtige Mainzerin, hat diesem Lager in ihrem Roman „Das siebte Kreuz“ ein literarisches Denkmal von Weltgeltung gesetzt. Die Geschichte über die Flucht des Georg Heisler und sechs weiterer Mitgefangener ist erdacht, und Seghers hat das Geschehen zudem in das Jahr 1937 und nach Westhofen verlegt. Nichtsdestoweniger ist ihre Beschreibung des Apparats von Unterdrückung und Tyrannei der Nazis beklemmend und sinnbildlich zugleich.
Es ist wahr, lange, allzu lange hat es gedauert, bis ein Gedenken in würdigem Rahmen an dieser Stätte des Leidens möglich war. Noch 1972 stießen erste Bemühungen der ehemaligen Häftlinge auf große Skepsis, gar Widerstand. Als Nestbeschmutzer seien sie bezeichnet worden, so der bereits erwähnte Philipp Wahl. Erst sechs Jahre später konnte eine kleine Gedenktafel angebracht werden. 1991 schließlich hat das Land Rheinland-Pfalz das Areal mit dem Ziel erworben, hier eine Gedenkstätte einzurichten.
Hier in Osthofen gab es seit 1996 eine erste provisorische Ausstellung. In den 15 Jahren seit der ersten Plenarsondersitzung in Osthofen hat sich die Gedenkarbeit dann Schritt für Schritt weiterentwickelt. Die Aufklärungsarbeit über den Nationalsozialismus und seine Folgen ist zwischenzeitlich aus der Erinnerungskultur des Landes nicht mehr wegzudenken. Dass diese Arbeit erfolgreich ist – das hat der Landtagspräsident auch schon gesagt –, dafür sind über 13.000 Besucher in der Gedenkstätte Osthofen und über 11.000 in der Gedenkstätte SS-Sonderlager Hinzert im letzten Jahr eindeutige Belege.
Das gilt auch für die immer weiter steigenden Zahlen der geführten Gruppen und der ganztägigen Seminare. Ein Besuch hier ersetze zehn Stunden Geschichtsunterricht, so die beeindruckende Bilanz eines Lehrers nach einem Besuch in Osthofen. Jedes Jahr treffen sich Anfang Dezember 200 Jugendliche aus etwa 30 Schulen hier in der Gedenkstätte, um ihre Arbeit „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ zu koordinieren. Davon gibt es mittlerweile 52 Schulen in unserem Land.
Sie machen aus dem Ort, an dem Gegner der Diktatur so schrecklich leiden mussten, einen Platz, an dem man die Demokratie stärkt, sie verteidigt und Rassismus und Extremismus entgegentritt. Das ist wahrlich ein mutmachendes Zeichen.
Das Land Rheinland-Pfalz hat entschieden, die beiden landeseigenen Gedenkstätten an die Arbeit der Landeszentrale für politische Bildung anzukoppeln. Politische Bildung, historische Aufklärungs- und Gedenkarbeit arbeiten hier Hand in Hand zwischen Mainz, Osthofen und Hinzert. Das Zusammenwirken ist zugleich eine gute Ausgangslage für die weitere Arbeit. In Zukunft wird es zunehmend um Fragen der Menschenrechtsbildung gehen und auch um das Schicksal behinderter und kranker Menschen in den Sterilisierungs- und Tötungsaktionen der sogenannten Euthanasie und um das Verfolgungs- und KZ-Schicksal der Homosexuellen. Auch sie sind elementarer Teil der Erinnerungskultur.
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, Aufklärung und Gedenken fordern uns alle. Es ist eine Aufgabe für Politik und Gesellschaft. Deshalb ist die Gedenkarbeit auf das Engagement vieler Bürger und Bürgerinnen angewiesen. Erst die zahlreichen Fördervereine und Initiativen, die sich um Stätten der Erinnerung auf kommunaler und regionaler Ebene kümmern, sorgen dafür, dass das Gedenken auch in der Fläche unseres Landes inzwischen fest verankert ist.
Dafür ist ganz besonders der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur
NS-Zeit in Rheinland-Pfalz zu danken. Unter der Leitung des langjährigen Vorsitzenden des Fördervereins Gedenkstätte KZ Hinzert und heutigem Bürgerbeauftragten des Landes, Dieter Burgard, leistet die Arbeitsgemeinschaft einen unverzichtbaren Beitrag zur Gedenkarbeit.