Erst später habe ich festgestellt, dass wir in der Wohnung gelebt haben, in der die Franks gelebt hatten. Das habe ich erst viel später nach dem Krieg festgestellt. Damals wussten wir das gar nicht.
Die hatten von 1934 an dort gewohnt. Vom 2. Stock ging noch einmal eine Wendeltreppe hinauf. Das sieht man in dem Film. Da war eine Terrasse, die um den ganzen Häuserblock ging. Wir hatten gesagt, wenn sie wiederkommen, dann klettern wir da hinaus und laufen auf der Terrasse entlang und sehen, ob irgendwo ein Fenster offen ist, wenn nicht, dann klopfen wir, dass wir hineingelassen werden.
Anfang März sind wir von einem holländischen Polizisten verhaftet worden. Die Nazis haben gar nicht so viele Leute gehabt.
Als er die Tür abgeschlossen hat, hat er mir den Schlüssel gegeben. Er hätte den Schlüssel bei der Gestapo abgeben müssen. Der Inhalt von dem Zimmer hätte nach Deutschland geschickt werden sollen als Liebesgabe des holländischen Volkes für Leute, die in Deutschland ausgebombt waren. Er hat sich aber gesagt, der findet den Weg wieder zurück. Das haben wir auch gemacht. Wir haben gesagt, rette sich, wer kann. Die SS konnte auch nur mit Taschenlampe arbeiten. Wir haben gesagt, nur zur Seite halten und versuchen, sich zu verstecken.
Die zwei anderen Jungen sind nur um die Ecke herum gelaufen und haben sich dort die ganze Nacht versteckt. Ich hatte in Nr. 11, Daniel Willinkplein – das heißt heute anders – Bekannte. Dort wollte ich hin. Die Häuser sind dort eines wie das andere. Ich bin aber aus Versehen schon in der Nr. 9 heraufgegangen und wollte dann nicht zurück. Ich war froh, dass ich unbemerkt die Treppe raufkam. Ich habe dann mit der Taschenlampe nachgeschaut und habe einen jüdischen Namen gefunden und habe dort geschellt. Sie haben geglaubt, ihre letzte Stunde ist gekommen. Wie ich heraufkam, waren sie erleichtert.
Ich habe gefragt, ob ich meinen Rucksack und meinen Brotbeutel dalassen kann und ob ich für meine schweren Stiefel ein paar Sandalen bekommen kann. Das haben sie mir gegeben. Ich habe gesagt: Wenn ich morgen früh um 08:00 Uhr meine Sachen nicht abhole, dann sagen Sie bitte Herrn Gluskinos Bescheid, dann bin ich doch noch gefasst worden. –
Sie haben mich nicht in der Wohnung behalten. Sie haben viel zu viel Angst gehabt. Da habe ich mich in eine Nische gelegt und habe gewartet, bis auf der Straße Ruhe war. Nach 24:00 Uhr durften nur noch Leute mit Ausweisen überhaupt auf der Straße sein. Juden
mussten von 20:00 Uhr abends bis 06:00 Uhr morgens in ihrer Wohnung sein, sodass sie verhaftet werden konnten, wenn sie an der Reihe waren.
Es war leider gerade Vollmond. Ich bin dann nach Mitternacht in meine Wohnung zurück. Ich habe aufgeschlossen, habe noch etwas gegessen. Nach kurzer Zeit kamen die zwei anderen Jungen auch an. Sie haben alles mitschleppen müssen, weil sie es nicht bei irgendjemand unterstellen konnten.
Am nächsten Tag hatten wir ganz spezielle Ausweise, unterschrieben von Den Haag, dass wir für einen wehrwichtigen Betrieb arbeiten. Jeder hat uns beglückwünscht: Euch kann nichts mehr passieren.
Aber bei der Gestapo standen wir auf der schwarzen Liste. Zwei Tage später kamen sie. Da war kein Entkommen mehr möglich. Wir hatten gedacht, durch das Fenster herauszuklettern. In dem Buch von der Anne Frank ist sogar ein Bild, auf dem die Anne Frank auf der Terrasse im Sommer ein Sonnenbad nimmt.
Wir waren damals jung. Heute könnte ich dort nicht herausklettern. Aber damals hätten wir herausklettern können. Es war aber nicht möglich. Sie hatten den Auftrag, uns zu verhaften und uns zum Adama van Scheltemaplein zu bringen. Zufällig hatten sie meinen Onkel, den einzigen Verwandten, den ich noch hatte, am selben Tag auch verhaftet. Er hatte gedacht, ich komme ihn besuchen oder befreien, weil er wusste, ich hatte gute Beziehungen. Da habe ich gesagt: Nein, ich bin verhaftet, ich kann für dich nichts tun. –
Ich habe dann den Jungen vom „Joodsche Raad“ geholfen und habe dann auch mit der SS gesprochen. Ich habe gesagt: Schauen Sie sich einmal die Stempel und Beweise an, die wir haben, die Ausweise. Sie waren abgestempelt von Seyß-Inquart. Das war der Reichskommissar für die Niederlande in Den Haag. Daran war nichts auszusetzen.
Als Aus der Fünten am Abend beschwipst nach Hause kam, ist einer von den Jungen mit ihm rauf gegangen und hat gesagt: Da sind drei Leute, die haben Ausweise, dass sie für wehrwichtige Arbeiten eingesetzt sind. Die sollten doch entlassen werden. – Da hat der Aus der Fünten gesagt: Für was sind Sie hier? Was ist Ihre Arbeit? – Da hat er gesagt: Wir sollen uns darum kümmern, dass Leute, die aus Versehen verhaftet sind, entlassen werden. – Er sagte: Nun, das werde ich mir überlegen, erst werde ich einmal schlafen. –
Am nächsten Morgen ist nichts passiert. Am Nachmittag kam Dr. Sluzker mit Aus der Fünten. Ich habe ihn angesprochen. Da hat er gesagt: Herr de Vries von der Firma Roba hat sehr gute Beziehungen zu Aus der Fünten. Er muss versuchen, etwas für Sie zu erreichen. Ich kann für Sie nichts mehr tun. Das habe ich Ihnen schon gesagt. – Wir wurden nicht entlassen. Wir sind in der Nacht nach Westerbork transportiert worden.
In Westerbork habe ich den beiden anderen Jungen gleich gesagt: Haltet euch zurück, lasst die anderen alle vorgehen. Ich will heute Abend noch einen Antrag stellen. – Das habe ich auch gemacht.
Damals war Dr. Ottenstein bei der Antragstellung. Es war ein Samstagabend. Am Sonntagmorgen hieß es, Hesdörffer zu Herrn Samson. Das war der sogenannte Arbeitseinsatz. Samson war quasi der Arbeitsminister. Er hat gesagt: Ihr wart doch lange in Arnheim und seid ganz legal nach Amsterdam gekommen, um dort zu arbeiten. Wir haben euch auf die Liste von der ArnheimGruppe gesetzt, die zunächst zurückgestellt ist. Aber ihr müsst am Mittwoch raus, um Heidekraut auszureißen. –
Okay, also sind wir am Mittwoch raus, Heidekraut auszureißen. Das wurde in Deutschland zu Besen verarbeitet. Meine Finger und Hände waren blutig. Ich bin also zur Ambulanz. Sie haben erst einmal die Hände desinfiziert und verbunden.
Dann bin ich zu Dr. Spanier, dem Chefarzt, und habe gesagt, ich habe in Arnheim einen Kurs mitgemacht, Erste Hilfe bei Unglücken. Kann ich nicht im Krankenhaus in einer von den Männerbaracken als Pfleger arbeiten? – Er hat gesagt, ja, nachdem Sie schon durch die Arnheim-Gruppe gesperrt sind und ich Sie nicht sperren muss, können Sie bei mir anfangen. –
Also wurde ich Pfleger. Was ich da erst mitmachen musste! Jeden Dienstag ein Transport. Ich habe oft Nachtdienst gehabt. Da gab es alte Männer, die einen Katheter hatten, den wir herausnehmen mussten, bevor sie vom Ordnungsdienst in die Viehwagen eingeladen wurden. Sie haben die Fahrt doch gar nicht überstehen können. Das war furchtbar. Das war wirklich furchtbar. Bis man sich daran gewöhnt hat! Dann habe ich das erste Mal Diphterie bekommen. Ich habe mich bei jemandem angesteckt. Als ich das Pferdeserum in mir hatte, habe ich mich wohlgefühlt. Ich war noch vier Wochen lang positiv und musste isoliert bleiben. Da habe ich mich dann einmal richtig ausruhen können; denn vorher hatte ich für ein bis zwei Jahre kaum mehr Ruhe gehabt.
In Arnheim habe ich noch bis spät in die Nacht Brotbeutel und Rucksäcke zugeschnitten. In Amsterdam musste man jede Nacht Angst haben, dass man verhaftet wird.
In Westerbork habe ich dann auch gute Freunde getroffen. Nachdem ich mich von der Diphterie wieder erholt hatte, habe ich wieder halbe Tage gearbeitet, dann auch wieder ganze Tage. Kurz danach habe ich plötzlich Atembeschwerden bekommen. Ich wollte mich aber nicht schon wieder krankmelden, nachdem ich schon vorher so lange ausgefallen war.
Einen anderen Vorteil als Pfleger hatte man. In den normalen Baracken wurde das Essen verteilt. Dort musste man in der Schlange stehen, und man musste sich dann auf das Bett setzen, um zu essen, während das Personal des Krankenhauses in der Kantine versorgt wurde, an Tischen sitzen konnte und bedient wurde, und wir bekamen bessere Rationen, weil wir so vielen Krankheiten ausgesetzt waren.
Es kamen dann auch Cousinen von meiner Mutter und weitere Verwandtschaft, auch eine Familie, die in Groningen gelebt hatte. Da bin ich hin, als ich gehört habe, dass sie da sind und habe gesagt: Ich kann dafür sorgen, dass einer von euch transportunfähig geschrieben
wird, dann bleibt ihr beide zurück. – Sie sagten: Nein, wir haben das schon arrangiert. – Okay. Das wäre dann nur für eine Woche gewesen. Das musste jede Woche wiederholt werden. Das konnte man auch nicht für immer machen. Jedenfalls wollte ich die nächste Woche nach ihnen schauen, da waren sie weg. Sie waren schon deportiert worden.
Die Verwandtschaft von meiner Cousine aus Amerika stand auf einer Liste für Palästina. Die hatten sie gekauft. Das hatten sie mir nicht gesagt. Die ist dann geplatzt. Sie müssen eben mein Buch lesen, dort ist das alles ausführlich beschrieben. Wer es nicht gelesen hat, kann es hier bekommen.
Jedenfalls kam er und hat sich verabschiedet. Er wusste, dass sie morgen auf den Transport gehen und hat sich am Montag verabschiedet. Seine Frau kam nicht mit. Sie hatte Angst vor Ansteckungsgefahr gehabt. Drei Tage später sind sie durch den Kamin gegangen.
Wegen der Atembeschwerden haben sie mich geröntgt. Der Röntgenapparat in Westerbork hat nicht funktioniert. Sie haben den Obersturmführer gebeten, ob ich nach Assen in das Krankenhaus gebracht werden kann, um dort gründlich untersucht zu werden, damit eine richtige Diagnose gestellt wird. Dies hat der Obersturmführer genehmigt.
Ich wurde in Assen untersucht. Es wurden eine Rippenfellentzündung und Tb über der Lunge festgestellt. Ich kam in die Tb-Baracke. Dr. Spanier hat mit dem Obersturmführer reden können. Wir haben dort besseres Essen gehabt als die Holländer im Land. Jeden Tag so viel Milch wie wir wollten, jeden Tag Fleisch, Eier, alles, was wir nur wollten. Ich habe wieder schön zugenommen, bis eines Tages nicht mehr genug Nachschub von außerhalb kam und praktisch jeder, der noch in Westerbork war, aus irgendeinem Grunde gesperrt war. Es hieß, mit dem nächsten Transport am 8. Februar 1944 gehen Kranke mit, die sind unproduktiv und müssen zuerst weg. Es darf niemand aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Der Obersturmführer ist selbst die Listen durchgegangen und hat meinen Namen gesehen. Der liegt schon viel zu lange herum, der muss auch weg. Dr. Spanier hat gesagt, ich kann nichts für Sie tun. Ich muss sehen, wie Frischoperierte, gelähmte Leute, Totkranke verladen werden. Ich kann für Sie nichts unternehmen. Das können nur die anderen Freunde, die sie haben. Samson usw. können es versuchen. Sie haben Anträge gestellt, die abgewiesen wurden. Es wurden zwei, drei Anträge gestellt, die abgewiesen wurden.
Ich bin am nächsten Morgen eingeladen worden. In den Wagen, in den ich kommen sollte, hat es hineingeregnet. Sie wollten mich in einen anderen Wagen legen. Da hieß es, da kann er nicht hinein, der ist für Scharlachkranke. Wieder ein anderer Wagen, in den ich nicht hineinkann, weil die Toten hinein sollen, die unterwegs sterben. Inzwischen hatten sie in dem Wagen, in den ich hätte hineinkommen sollen, das Dach repariert, das heißt, es ist kein Regen oder Schnee mehr hindurchgekommen. Als die Türen geschlossen wurden, habe ich gerufen, ich will den Obersturmführer sprechen. Ich wollte ihn militä
risch anreden. Dann hat es geheißen, der ist schon in seine Villa gegangen. Er hat gesagt, der Zug ist geladen, geht um 11:00 Uhr weg, was soll ich hier im Schnee herumlaufen.
Wie er dann in seiner Villa war, haben ihm meine Freunde so zugesetzt, dass er zum Schluss gesagt hat, okay, holt ihn heraus. Fünf Minuten vor Abgang des Zuges hat es geklopft. Ist Hesdörffer hier drin? – Mit schwacher Stimme habe ich ja gesagt. Da hatte ich mich schon aufgegeben. Das war eigentlich der schlimmste Moment, den ich mitgemacht habe. Ich habe mit schwacher Stimme ja gesagt. Mensch, komm heraus, du bist frei.
Ich musste zur Registratur zurück. Das waren alles Formalitäten, Läusekontrolle, Vermögensaufstellung. Also ich bin schnell durchgekommen, habe aber am Abend 41 Grad Fieber gehabt. Es hat sich nicht in die Kleider gesetzt. Ich habe gesagt, jetzt ist mir der Boden in Westerbork zu heiß, ich will weg, aber nicht nach Auschwitz. Es gab zwei Möglichkeiten, Bergen-Belsen und Theresienstadt. Für Bergen-Belsen stand ich auf der Jugendalijah-Liste. 500 Jugendliche sollten nach Palästina kommen, um gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht zu werden. Es ist aber nie dazu gekommen.
Ich hatte die Nummer, aber das Zertifikat musste von London über Genf nach Westerbork kommen. Das war noch nicht da. Also haben sie gesagt, es hat keinen Sinn, mit der Nummer allein werden sie dich in BergenBelsen nach Auschwitz weiterschicken. Die Woche darauf geht ein Transport nach Theresienstadt. Wir werden versuchen, dass wir dich da hineinbringen. Da habe ich gehofft, dass das gelingen wird. Es ist auch gelungen. Ich hatte nämlich überall Freunde.
Verschiedene Abiturienten haben über mein Buch ihre Abschlussarbeit für ihr Abitur geschrieben. Die letzte ist jetzt in Fulda verfasst worden. Sie haben auch alle geschrieben: Freunde muss man haben, auf sie kann man sich verlassen. Mit Verwandten trinkt man besser nur Kaffee und isst ein Stück Kuchen.
In Theresienstadt war der Judenälteste bzw. der Bürgermeister Dr. Paul Eppstein von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Meine Tante hatte eine Schwester, deren Mann mit Paul Eppstein direkt verwandt war. Er hat den Namen Hesdörffer sehr gut gekannt, aber hat mich nicht vorkommen lassen. Als das Rote Kreuz ein Konzentrationslager sehen wollte und wie die Juden behandelt werden, hat der Obersturmführer erst einmal Kurt Gerron gesagt, der nicht nach Übersee fliehen konnte, er soll einen Film machen „Hitler schenkt den Juden eine Stadt“. Da hat er gesagt, das macht er nicht. Dann hat es geheißen, da gehst du nach Auschwitz. Er hat sich dann überlegt, er macht den Film und ist doch nach Auschwitz gegangen.
Da war ein anderer, er hieß Fischer, der hat 15 Leute freiwillig gehängt, die Post hinausgeschmuggelt hatten. Er hatte geglaubt, er könnte dadurch in Theresienstadt zurückbleiben. Er ist aber doch nach Auschwitz gegangen. Dort war er Kapo – ein Häftlingspolizist –. Die SS hat es sich sehr einfach gemacht. Sie hat ein paar jüdische Sadisten gefunden. Der hat mir den Vorderzahn
eingeschlagen. Ich war klein, ich stand immer in der ersten Reihe. Man muss das Buch lesen, um die Einzelheiten zu sehen. Das kann ich nicht beschreiben, sonst würde ich anfangen zu weinen.
Es sollten 7.500 Leute aus Theresienstadt in ein besseres Lager bei Dresden kommen. Es hieß, da müsst ihr zwar mehr arbeiten, aber ihr werdet auch besser behandelt. Naja, es war natürlich alles Schwindel.
Es wurden 10.000 Leute aufgerufen, in die Schleuse zu gehen, so nannte man das. Dreimal 2.500 sollten deportiert werden. Ich hatte eine Nummer über 6.000. Vom ersten Transport ist kaum jemand freigekommen. Vom zweiten Transport auch nicht. Inzwischen hatten wir wenigstens noch gutes Essen. Bevor der dritte Transport weggegangen ist, habe ich mich bei Eppstein vor seine Toilette gestellt. Da musste mich jemand hinbringen. Das war nicht so einfach. Ich habe ihn hineingehen lassen. Er hat mich nicht gekannt. Als er herauskam, habe ich gesagt, ich bin Heinz Hesdörffer, was würden Tante Sophie und Onkel Theodor sagen, dass sie mich nicht von der Liste streichen. Die Antwort war, „mit verwandtschaftlichen Beziehungen lockt man keinen Hund aus der Ecke hervor“, und er ist davongelaufen.
Am nächsten Abend hat der Obersturmführer Scheinwerfer aufstellen lassen. Die ca. 5.000 Leute, die noch in der Schleuse waren, mussten an ihm vorbeimarschieren. Er hat gefragt, was der Beruf ist, was sie machen usw. Manche sind freigestellt worden, aber von den Holland-Transporten ist überhaupt niemand gefragt worden. Am nächsten Morgen ging es in die Viehwagen, und als der Zug in Dresden östlich abgebogen ist, wussten wir, wohin wir kommen, Auschwitz. Es war Mai 1944.
Theresienstadt-Transporte wurden nicht selektiert. Wir sind in das Familienlager B.II.b gekommen, auf der linken Seite Männerbaracken, auf der rechten Frauenbaracken.
Die Barackenältesten waren alle Sadisten, und die Kapos auch. Ich hatte Glück. Als wir tätowiert wurden, mussten wir unterschreiben: „Ich wurde am 20. Mai 1944 in Theresienstadt verhaftet und zu sechs Monaten Konzentrationslager verurteilt. Grund: Jude.“ Das war das letzte Mal, dass ich eine Unterschrift gegeben habe. Danach war ich nur noch die Nummer A-1598. Kurz danach kam die Invasion der Alliierten in der Normandie.
Die drei Monate in Theresienstadt hatten mich doch gerettet; denn sonst hätte ich Auschwitz nicht überlebt. Die russischen und polnischen Kriegsgefangenen hatten sie entweder erschossen oder sich schon zu Tode gearbeitet. Dann haben sie jüdische Häftlinge zum ersten Mal benutzt, um Sklavenarbeit zu machen.
In dem Lager B.II.b wurden 2.000 Männer und 1.000 Frauen selektiert. Ich sah noch einigermaßen gut aus. Wir mussten nackt an einem SS-Arzt vorbeimarschieren. Wer das war, weiß ich nicht. Das muss nicht der Mengele gewesen sein. Der hat seine Experimente gemacht. Es waren viele andere SS-Ärzte da. Jedenfalls wurde meine Nummer aufgeschrieben. Bei anderen hat man gleich gesagt, zieht euch an und geht in die Baracke zurück. Dann haben sie am Abend festgestellt, es waren
keine 2.000 Leute aufgeschrieben. Da haben sie beim Appell noch ein paar Leute herausgesucht, die einigermaßen gut aussahen.
Von früheren Transporten aus Theresienstadt wussten wir, dass diejenigen, die nach sechs Monaten noch gelebt hatten, genau nach sechs Monaten zur Sonderbestimmung aufgerufen wurden. Sonderbestimmung: Gaskammer.
Wir hatten Glück, dass sie jüdische Häftlinge für Sklavenarbeit gebraucht haben. Ich war unter 1.000, die nach Deutschland zurückgingen. Ich kam nach Schwarzheide in der Nähe von Cottbus an der Autobahn Dresden-Berlin. Dort waren vorher italienische Kriegsgefangene. Sie waren bei einem Bombenangriff alle ums Leben gekommen. Wir haben dort gearbeitet. Dort war die BRABAG (Braunkohle-Benzin-Aktiengesellschaft), die aus Kohle Benzin hergestellt hat. Das war ein Teil von den Hermann-Göring-Werken, die Leunawerke und die BRABAG.
Zu dem Zeitpunkt waren die Russen schon in Ostpreußen, und die Alliierten waren schon über den Rhein weg. Jeder wusste, Deutschland hat den Krieg verloren. Ich habe in der vorigen Woche einen Artikel in der „Züricher Zeitung“ gelesen, dass ein italienisch-jüdischer Mann mit seiner Tochter von 13 Jahren nach tagelangem Marschieren versucht hat, in die Schweiz zu kommen. Er wurde dort nicht hereingelassen. Die Schweizer haben sich sehr schlecht benommen. Das war Ende 1944. Da hat die ganze Welt gewusst, Deutschland hat den Krieg verloren. Wenn das 1941/1942 gewesen wäre, dann hätte man das verstehen können. Da hätte Deutschland vielleicht auch die Schweiz besetzt.
Die waren interessiert, dass die Schweiz neutral blieb und ihnen das Gold aufgekauft hat, und zwar nicht nur das Gold, das sie von uns bekommen haben, oder das Zahngold. Das war unwichtig. Jede Zentralbank der besetzten Gebiete hatte Gold. Frankreich, Holland, Belgien, Griechenland, Jugoslawien, die Balkanländer, alle hatten Gold. Das haben sie alles aufgekauft. Die Schweizer haben das Geld von den Juden genommen, aber auch das Geld von den Nazis. Sie haben sich ganz schlecht benommen und geben dies auch heute zu.