Protokoll der Sitzung vom 27.01.2017

wenn einfache Heilsversprechen vorgeben, die Welt zu erklären,

aber auch dann, wenn Worte aus dem Sprachgebrauch der Nationalsozialisten wieder zu hören sind – wenn Politiker als „Vaterlandsverräter“ und Journalisten als „Lügenpresse“ beschimpft werden –, denn jeder, der sie verwendet, muss sich bewusst sein, dass er mit dieser Wortwahl nicht nur die Gegenwart meint, sondern auch die Vergangenheit heraufbeschwört.

Sorgen wir dafür, dass die Verrohung von Sprache nicht weiter um sich greift – auch nicht in der politischen Auseinandersetzung! Nie wieder dürfen Staat und Gesellschaft zulassen, dass Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer politischen Einstellung, ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihrer Andersartigkeit zum Feindbild einer schweigenden Mehrheit gemacht, verachtet, gedemütigt oder bedroht werden!

Meine Damen und Herren, Gal, Zuckmayer und Purrmann hatten Glück. Sie konnten rechtzeitig emigrieren. Aber keiner von ihnen kehrte später dauerhaft nach Deutschland zurück. Dieckmann ging in die innere Emigration. Daweli Reinhardt überlebte die Lager und auch die Todesmärsche kurz vor Kriegsende. Er wurde ein bekannter Jazz-Gitarrist. Er war auch mehrmals im Landtag zu hören.

Doch welch immenser kultureller Reichtum damals zerstört wurde, welche Lücken gerissen wurden und bis heute klaffen, ist nicht zu ermessen: Tausende Melodien – sie sind verstummt. Zigtausende verbrannte Bücher – sie fehlen bis heute in unseren Bibliotheken. Zehntausende vernichtete Gemälde – sie sind in unseren Museen nicht zu sehen. Millionen Gräber der gequälten und verfolgten Opfer – sie fehlen bis heute auf unseren Friedhöfen.

Meine Damen und Herren, unsere Gedenkrednerin in dieser „nachdenklichen Stunde inmitten der Alltagsarbeit“ hat sich wie keine Zweite für Orte der Erinnerung in Deutschland eingesetzt. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Herzen Berlins ist ihr Lebenswerk. Sie hat mit ihrem Förderverein 17 Jahre dafür gekämpft – viele haben sie unterstützt, auch Roman Herzog. Ich begrüße Sie herzlich, die Journalistin und Publizistin Lea Rosh – willkommen im Landtag Rheinland-Pfalz!

(Beifall im Hause)

Viele Menschen haben Sie, Frau Rosh, davor schon als Journalistin erlebt – als erste Frau, die das Politmagazin „Kennzeichen D“ moderierte, als Chefin des NDRLandesfunkhauses in Hannover in den 1990er-Jahren – und als Autorin von Dokumentationen, allen voran die preisgekrönte Arbeit „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ zusammen mit dem Historiker Eberhard Jaeckel.

Meine Damen und Herren, an gute und an schlechte Zeiten unserer Vergangenheit können und wollen wir uns erinnern. Die deutsche Erinnerungskultur, wie sie in den letzten Jahrzehnten in Deutschland gewachsen ist, wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern im Land, aber auch von staatlichen Organisationen gestützt und getragen. Und es sei klar und unmissverständlich gesagt: Diese gewachsene Erinnerungskultur ist ein Zeichen von Stärke und nicht von Schwäche!

(Beifall im Hause)

Sie wird im Ausland als etwas wahrgenommen, das man sich zum Vorbild nimmt, wenn Länder nach Wegen suchen, mit einer dunklen Vergangenheit von Diktatur und Völkermord umzugehen, sei es in Ruanda oder in Südamerika. Wer die Bedeutung dieser Erinnerungskultur herabwürdigt, der tritt unsere Demokratie mit Füßen und verhöhnt die Opfer!

Allen, die glauben, dass man sich in Bezug auf die Bewertung des Holocaust zweifelhaft oder relativierend äußern kann, denen sage ich drei einfache Sätze: Der Holocaust war und bleibt eine Schande für Deutschland! Der Opfer zu gedenken und die Erinnerung an die Verbrechen wachzuhalten, ist unsere Verpflichtung! Totalitarismus zu bekämpfen, bleibt Aufgabe aller Demokraten jetzt und in der Zukunft!

(Anhaltend Beifall im Hause)

Musik

Viktor Ullmann (1898-1944) II. Margarithelech („In Weidel beim Teichel dort senen gewachsen Margarithelech elent und kleijn“) Text: Zalman Shneour (1909) auf ein Volkslied

(Beifall im Hause)

Gedenkrede

Lea Rosh, Vorsitzende des Förderkreises Denkmal für die ermordeten Juden Europas e. V., Berlin:

Was für eine wunderbare Musik!

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Hering, sehr geehrter Herr stellvertretender Ministerpräsident Wissing, verehrte Abgeordnete, meine Damen und Herren, verehrte Gäste! Verehrter Herr Hering, ich danke Ihnen für diese Gedenkstunde. Das sage ich im Namen der Opfer. Vielen Dank.

Sieben Häftlingen gelingt der Ausbruch aus dem fiktiven rheinhessischen Konzentrationslager „Westhofen“. Der Lagerleiter lässt sieben Kreuze für die Flüchtlinge errichten. Er lässt die Fliehenden jagen. Sechs werden gefangen, hingerichtet. Dem siebten gelingt die Flucht ins Ausland. Das siebte Kreuz bleibt leer.

Dieses siebte Kreuz symbolisiert einerseits die Verletzbarkeit des NS-Systems durch die Solidarität der „anderen“ Deutschen, die aus unterschiedlichsten Motiven den Flüchtling nicht nur nicht verraten, sondern ihm Unterschlupf oder andere Hilfe gewährt haben. Andererseits wird durch die Flucht ins Exil keinerlei Perspektive der Überwindung des NS-Regimes, sondern lediglich die des Exils ins Ausland aufgezeigt.

„Westhofen“ heißt das Lager in dem Roman von Anna Seghers, und „Westhofen“ hat eine reale Vorlage. Nur wenige Kilometer von „Westhofen“ entfernt hatten die Nazis schon im Frühjahr 1933 in Osthofen eines ihrer ganz frühen Konzentrationslager eingerichtet. Heute ist es die wichtigste KZ-Gedenkstätte in Rheinland-Pfalz. Das fiktive Schicksal des Georg Heisler in dem Roman „Das siebte Kreuz“ – die Flucht – ist ja auch der Lebensweg der berühmten Tochter Ihres Landes, der Schriftstellerin Anna Seghers.

Sie war 1900 in Mainz geboren. Sie war Jüdin und Kommunistin. Sie hatte also keine Möglichkeit, in Deutschland zu überleben. Sie floh 1933 aus Deutschland und lebte fortan mit ihrem Mann und den beiden Kindern im Exil, in Frankreich, in Mexiko. Seghers lebte das Exil, nicht die Hoffnung auf eine Überwindung des NS-Regimes.

Ihre Mutter war 1942 in das Lager Piaski bei Lublin in Polen deportiert und dort ermordet worden. So, wie 468 Jüdinnen und Juden, die am hellichten Tag, am 20. März 1942,

aus ihren Mainzer Wohnungen abgeholt und auf Lastwagen zum Güterbahnhof gebracht wurden. Am 27. September 1942 folgten weitere 453 Mainzer Jüdinnen und Juden, am 30. September noch einmal 178. Das Jüdische Krankenhaus wurde komplett geräumt, samt Ärzten und Pflegepersonal. Ein Sonderzug der Reichsbahn fuhr sie in das Lager Piaski bei Lublin, wo Anna Seghers Mutter bereits ermordet worden war, auch nach Theresienstadt oder direkt in ein Vernichtungslager. Viele, die von ihrer bevorstehenden Deportation erfahren hatten, begingen Selbstmord. Am 10. Februar 1943 wurden noch einmal 53 Mainzer Juden deportiert. Beim Einmarsch der Amerikaner lebten noch etwa 60 Juden in Mainz – entweder mit Nichtjuden verheiratet oder in Verstecken. 60 von 1.152 Jüdinnen und Juden. Damit war auch Mainz sozusagen „judenfrei“. Von einem Beistand der Bevölkerung, von Widerstand, von Hilfe für die Bedrängten, die Wehrlosen, ist gar nichts bekannt.

Auch in Mannheim, einst das Zentrum des badischen Liberalismus, ist die Abschiebung der Juden, wie in allen Orten Badens und der Pfalz, reibungslos und ohne Zwischenfälle abgewickelt worden. Ich zitiere aus einem Polizeibericht: „Der Vorgang der Aktion selbst wurde von der Bevölkerung kaum wahrgenommen.“ Ein Nachsatz, der einen frieren lässt: „Beistand für die Verfolgten war selten.“ So war das, in Deutschland, überall. Warum? Warum kein Widerstand? Warum keine Hilfe?

Aufschluss gab mir ein Dorf, Buttenhausen, in BadenWürttemberg, im Schwäbischen. Der Ort war einst zur Hälfte jüdisch, zur Hälfte christlich. Mitten durch das Dorf ging eine Straße, die die beiden Teile trennte. Rechts davon die kleine steinerne Synagoge, links davon die Kirche. Die Einwohner waren gute Nachbarn, seit mehr als dreihundert Jahren. Man heiratete nicht untereinander, die Christen verkehrten aber mit den Juden und umgekehrt. Das änderte sich, schleichend, ab 1933. Da gingen schon einige Christen lieber auf die Straßenseite hinüber, auf der die Juden gerade nicht entlangliefen. Die jüdischen Einwohner wurden nach und nach deportiert. 1943, davon zeugt der Grabstein auf dem kleinen jüdischen Friedhof, nahm sich ein altes jüdisches Ehepaar vor der Deportation das Leben. Sie waren die Letzten der einst blühenden jüdischen Gemeinde von Buttenhausen.

Ein Bauer, eingeheiratet in das Dorf – ein „Reingeschmeckter“ also –, hatte Fotos und Dokumente der Juden von Buttenhausen auf Dachböden entdeckt, hatte ihre Geschichte aufgeschrieben und dann, heftigen Widerstand auch von seiner Ehefrau überwindend, in dem kleinen Schloss von Buttenhausen ausgestellt. Zu der Ausstellung und einem Treffen danach mit Bewohnern von Buttenhausen waren auch drei Amerikanerinnen und ein Amerikaner eingeladen. Eine Frau, die Jüdin, hatte wohlweislich zwei Nichten aus Amerika zu ihrem seelischen Schutz mitgebracht. Der Jude aus Buttenhausen, der auch rechtzeitig nach Amerika ins Exil geflohen war, war mit dabei. Ich hatte mich mit dem Bauern darauf verständigt – ich hatte ein Kamerateam dabei –, dass ich bei diesem Treffen dabei sein durfte.

Das Treffen mit den alten Dorfbewohnern verlief zunächst harmonisch, fast herzlich. Austausch von Erinnerungen:

Weißt du noch? Ja, weißt du noch? – Ja, sie wussten noch. Bis die Rede auf das Haus der aus Amerika angereisten Jüdin kam, in dem nun eine alte Frau aus Buttenhausen immer noch wohnte, die bei diesem Treffen dabei war. Was sie eigentlich für das Haus bezahlt hatte, wollte ich wissen. Natürlich kam heraus: fast nichts.

Ich fragte dann aber weiter‚ wie sich denn die Menschen von Buttenhausen von ihren jüdischen Nachbarn verabschiedet hätten, als diese in die Busse steigen mussten. Ich hoffte, so schöne Geschichten zu hören, wie ich sie in Belgien gehört hatte oder in Italien, in Norwegen, in Bulgarien. Nein, hier, das erzählte nun die Jüdin, und ihr liefen dabei die Tränen über die Wangen, hätten die Nachbarn nur nach dem Mobiliar und dem Silber gefragt. „Ne wahr, Simone, dös brauchst doch eh nit mehr.“ In der Tat, Simone und die anderen Juden brauchten ihr Silber, ihre Betten, ihre Sofas, ihre Sessel wirklich nicht mehr. Der Bauer hakte noch einmal nach: „Weschhalb brauchte sie das nit mehr?“ Die alte Dorfbewohnerin: „Na, weil sie doch eh verschossen würde!“ Der Bauer ein bisschen fassungslos: „Ja, dös habe Sie gewuscht?“ „Ja, freili, dös habe mir gwuscht.“ Stille in der Runde. Die Jüdin zerdrückt ihr Taschentuch in den Händen, greift den Arm ihrer Nichte.

Aber dann ging es erst richtig los: von ihrem mutigen Eintreten für die körperlich und geistig Behinderten, die nahe Buttenhausen, in der Euthanasieanstalt Grafeneck, einem wunderschönen kleinen ockergelben Schloss, hoch gelegen, nur sechs Kilometer entfernt, vergast und verbrannt wurden, davon erzählten sie nun mit Leidenschaft. Sie zogen aus ihren Handtaschen, gut vorbereitet, die Protestbriefe hervor, die sie geschrieben hatten, als sie gewahr wurden, dass ihre Angehörigen in Grafeneck eben nicht an einer Lungenentzündung oder Ähnlichem „verstorben“ waren, wie man ihnen vorgelogen hatte. Sie lasen die Briefe vor. Diese Protestbriefe waren drohend, unverschämt und deutlich. Ich lobte sie sehr für diese Briefe. Dann fragte ich sie: „Weshalb haben Sie nicht solche Briefe geschrieben, als ihre jüdischen Nachbarn abgeholt wurden, mit denen sie doch in Buttenhausen dreihundert Jahre lang zusammen gewohnt und gelebt haben, in Frieden, in Eintracht? Warum also nicht auch für sie?“ Und wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: „Die Juden, das sind doch die Anderen.“

Ich habe seit Jahrzehnten über Verfolgung und Rettung von Juden, über den Mord an den europäischen Juden, über Kollaboration in den europäischen Ländern und über die Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Nazis gearbeitet und geforscht. Aber diese Szene, dieser Satz in Buttenhausen hat mir die Augen geöffnet, durch diesen Satz habe ich endlich begriffen, weshalb in Deutschland so wenig Protest, so wenig Hilfe für die Bedrängten gewesen war: „Die Juden, das sind doch die Anderen“.

Also die Andersgläubigen. Dreihundert Jahre Nachbarschaft hin oder her, sie waren eben nicht das eigene Fleisch und Blut. In den Ländern – es waren sieben Länder, in denen viele Bedrängte versteckt, gerettet wurden –, waren die Juden eben nicht „die Anderen“, sondern „die Eigenen“: in Belgien, Bulgarien, Dänemark, Finnland, Frankreich (trotz Petain und Lavalle), Italien, Norwegen. Dort waren die Juden für die Bevölkerung eben „unsere Juden,

die wir uns nicht wegnehmen lassen“. Ich habe einen solchen Satz in Deutschland nie gehört. In Österreich auch nicht, aber dort kenne mich nicht ganz so gut aus.

Warum gab es bei uns in Deutschland so wenig Hilfe, so wenig Solidarität mit den Juden? Das macht die Hilfe derer, die in Deutschland Juden versteckt haben, gewiss nicht klein. Und die, die geholfen haben, sind wirklich Heldinnen und Helden. Denn die Hilfe war immer mit dem Risiko für das eigene Leben und das der eigenen Familie verbunden. Aber wie und warum sind in Italien unter den Augen der deutschen Besatzer 26.000 Juden den Deutschen entkommen? In Dänemark, auch von Deutschland besetzt, mit Hilfe von Deutschen, einer Rettungsaktion der dänischen Bevölkerung, mehr als 7.000? In Frankreich – ich sage nochmals: trotz Petain und Lavalle – 250.000, in Belgien 25.000, in Norwegen die Hälfte der dortigen Judenheit, in Bulgarien, durch die Hilfe der Bevölkerung und der orthodoxen bulgarischen Kirche, die gesamte jüdische Bevölkerung: 48.000 Menschen, ebenso die in Finnland, obwohl mit Hitler alliiert.

In Bulgarien war es so, dass die Vertreter der orthodoxen bulgarischen Kirche zu den Juden, die schon auf den Bahnhöfen, wo die Züge präpariert waren, gestanden und auf ihre Deportation gewartet haben, hingegangen sind und gesagt haben: Wir gehen mit euch, in vollem Ornat. Wir gehen mit euch in das Vernichtungslager Treblinka. Wir werden aber vorher protestieren, und wir wissen, die Kirche ist eine starke Macht. – Daraufhin wurden die Juden eben nicht deportiert. So kann Hilfe eben auch sein.

Bei uns, in Deutschland, waren es 5.000, in Österreich 2.000! Und das bei einer Jahrhunderte währenden Anwesenheit und Dazugehörigkeit.

Hannah Arendt, diese kluge und rigorose Frau, schrieb dazu: Wenn die Deutschen, als ihre jüdischen Nachbarn abgeholt wurden, die Tür aufgemacht und gefragt hätten, wohin sie ihre Nachbarn bringen, und wenn sie gar angedroht hätten, diese zu begleiten, um zu sehen, wohin sie gebracht würden, dann, sagt Hannah Arendt, wäre unsere Geschichte und die unserer Jüdinnen und Juden nicht so entsetzlich, nicht so tödlich verlaufen. Ich bin ganz überzeugt, dass Hannah Arendt recht hatte mit dem, was sie schrieb. Aber bei uns waren die Juden eben „die Anderen“. Und das über Jahrhunderte hinweg. Luthers Antisemitismus und sein „Zündet ihnen ihre Synagogen an“ hatte bei uns eben einen langen, tief sitzenden Nachhall.

Hitler und seine Mordgesellen haben immer genau registriert, wie die Reaktionen auf ihre Verbrechen waren. Haben die Deutschen reagiert? Wenn ja, worauf, und wie? Als der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, im Juli und August 1941 offen gegen die „Vernichtung unwerten Lebens“, also gegen die Euthanasie, predigte, führte das wenigstens vorübergehend zu einer Einstellung dieses Mordprogramms. Aber das war die Ausnahme. Die Schandtaten der Nazis konnten alles in allem ohne nennenswerten Widerstand verübt werden. Um nur einige wenige Eckdaten aufzuzählen: 1933: Verhaftung und Ermordung der Kommunisten – zuerst die Kommunisten –, der schreckliche Köpenicker Blutsonntag. Dann: Verfolgung, Verhaftung von Sozialdemokraten. Zerschlagung

der Gewerkschaften als mögliche Widerstandsorganisation. 1933: Boykott der jüdischen Geschäfte. 1935: Erlass der Rassegesetze. 1938: Pogromnacht, Verbrennung und Plünderung der Synagogen, offene Ermordung von Jüdinnen und Juden. Ab 1939: Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen. 18. Oktober 1941: Beginn der systematischen Deportationen aus dem „Altreich“. Der Zug verließ Berlin in Richtung Lodz. Das Ziel war das Ghetto Lodz.

In diesem 1. Transport, der Berlin in Richtung Lodz verließ, waren fast tausend Jüdinnen und Juden. Und immer, wenn Nachschub kam, „neues Menschenmaterial“, wurde das Ghetto „geräumt“. „Das Ghetto räumen“ hieß: die Menschen aus ihren Häusern hinaustreiben auf die Straßen, wer sich versteckt hatte, unter den Stiegen, hervorzerren, auch diese dann hinaustreiben auf die Straßen, erschlagen, erschießen. Was sich im Osten Europas, in Polen seit 1939, in der Sowjetunion seit Juni 1941, abgespielt hatte, waren Mordorgien. Mordorgien, wie Richter Musmanno, um Fassung ringend, bei seiner Urteilsbegründung im Nürnberger Einsatzgruppenprozess 1947/48 gesagt hatte: Dantes Inferno hatte nicht schlimmer sein können als das, was sich in den Ghettos, bei der Räumung der Ghettos und an den Erschießungsgruben in der Sowjetunion abgespielt hatte. 800.000 Menschen kamen in den Ghettos ums Leben. 1.300.000 waren unter freiem Himmel, an den Erschießungsgruben, mit Äxten erschlagen worden oder durch Erschießungen umgekommen.

Im Wald von Rumbula, bei Riga, waren es 30.000 Menschen, die an zwei Tagen, in zwei Erschießungsaktionen, ermordet wurden. Viele mussten im Freien, bei bis zu minus 18 Grad, eine Woche auf ihre Erschießung warten. Männer, Frauen, Greise, Kinder. Mir wurde berichtet, dass das Haar von Müttern, die ihr Kind auf dem Arm zur Erschießungsgrube tragen mussten, auf dem Weg dorthin schlohweiß wurde. Bei Kiew, in der Schlucht von Babi Jar, wurden mehr als 32.000 Menschen erschossen. Die Erde in den Gruben, in die die Ärmsten hinabgestoßen wurden, bebte noch eine Zeit lang. Denn die, auf die mit Kugeln geschossen wurden, waren nicht alle gleich tot. Sie lebten noch, sie atmeten noch, sie versuchten, wieder aus der Grube herauszuklettern, bis sie von anderen auf sie fallenden Leibern endgültig zugedeckt und erstickt wurden. Oder bis sie, wenn sie immer noch stöhnten, von deutschen SS-Männern oder deutschen Wehrmachtssoldaten, die alle mitgemacht haben und die in die Grube hinabgestiegen waren, mit gezielten Pistolenschüssen erschossen wurden. Bis sie eben nicht mehr stöhnten, in der Grube von Babi Jar.

So etwas hatte es in der Menschheitsgeschichte bis dahin nicht gegeben. Es gab kein Vorbild für den Umfang und die Ausführung eines solchen Mordprogramms. Der Mord an den sechs Millionen Jüdinnen und Juden ist einzigartig in der Menschheitsgeschichte. Einzigartig in mehrfacher Hinsicht: Der Mord widerfuhr nicht nur der Bevölkerung des eigenen Herrschaftsbereichs, sondern es war ein Mord vor allem an Ausländern, überwiegend an osteuropäischen Juden: an polnischen, russischen, rumänischen, ungarischen Juden.

2 bis 3 % aller Opfer waren deutsche Jüdinnen und Juden. Das heißt: 97 bis 98 % waren nichtdeutsche Juden, sie

kamen aus 17 europäischen Ländern. Noch nie zuvor hatte ein Herrscher beschlossen, eine bestimmte Minderheit aus so vielen Ländern, von Nord bis Süd, von West bis Ost, zusammenzutreiben, ausschließlich, um sie zu ermorden. Und zwar nicht in seinem eigenen Herrschaftsgebiet, sondern in Ländern, die er erst erobern und besetzen musste: in Westeuropa, in Osteuropa. Dort vor allem die Sowjetunion und Polen. In Polen wurden dafür eigens Vernichtungsstationen errichtet.

Der Mord an den Juden Europas ist auch deshalb so einzigartig in der Geschichte, weil viele Opfer Hunderte von Kilometern bis zu ihren Mordstationen zurücklegen mussten. Die Juden sind nicht, wie aus der Geschichte bekannt, Pogromen zum Opfer gefallen, also Mord an Ort und Stelle, von einer aufgebrachten Menschenmenge. Die Juden Europas wurden auf Befehl einer fremden Regierung zusammengetrieben und dann zu den Orten ihrer Vernichtung spediert – wie jemand sagte –, dort mit Kohlenmonoxyd und Zyklon B erstickt und dann verbrannt. Die Flammen und der Rauch stiegen hoch über die Baumwipfel. Und es roch nach verbranntem Menschenfleisch, so wurde mir erzählt, sodass man in der Nähe von Treblinka zum Beispiel beim Abendessen die Fenster schließen musste.

Es gab in Polen sechs solcher Stationen, nicht Lager, sondern Vernichtungsstationen; denn hier wurde auch gar nicht gelagert. Vier reine Vernichtungsstationen, wie Raul Hilberg sie in seinem Standardwerk „The Destruction of the European Jews“ nannte: Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka. Hier wurde nicht „gelagert“, sondern vernichtet, Leben ausgelöscht. Das hieß: ankommen morgens um 8, vergast um 10, verbrannt um 12. Kein Entkommen. Baracken gab es nur für die Mörder und ihre Helfer, nicht für die Opfer. In dem Mischlager Lublin-Majdanek, vormals ein Lager für die russischen Kriegsgefangenen, gab es sogenannte Wohnbaracken, aber die Chance, zu überleben, war dennoch sehr gering. Etwas größer war sie in dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, weil die Häftlinge dort für die deutsche Rüstungsindustrie zur Gewinnung von Benzin und Gummi schuften mussten. Allerdings zu so schrecklichen Bedingungen, dass sie durch Arbeit vernichtet wurden. So hieß auch das Programm: „Vernichtung durch Arbeit“. Das bedeutete, dass die Häftlinge immer weniger, immer weniger und noch weniger Nahrung bekamen, bis sie, bei schwerster Arbeit, so abgemagert waren, dass es sich nicht länger lohnte, sie leben zu lassen. Dann wurden sie vergast.

Einzigartig aber war der Mord an den europäischen Juden auch deshalb, weil Juden keine Chance hatten, ihrer Ermordung zu entgehen. Sie sollten alle restlos getötet werden. Alle. Frauen, Männer, Greise, Kinder, Babys.

Dafür ein Beispiel aus Westerbork, dem Sammel- und Durchgangslager für die Juden aus den Niederlanden: Eines Tages kam ein Transport mit einer Wöchnerin. Sie hatte eine Frühgeburt in einem anderen Lager gehabt. Das Baby war in Decken gewickelt. Es war ganz klein, wog nur dreieinhalb Pfund. Es wurde ins Krankenhaus gebracht, und der Lagerleiter – er hieß Gemmeker – hatte sich persönlich darum bemüht, einen Brutkasten aus einem anderen Krankenhaus zu bekommen. Das Kind wurde nun in den Brutkasten gelegt, und ein Kinderarzt wurde