Protokoll der Sitzung vom 03.05.2017

Die Populistinnen und Populisten sind auf dem Vormarsch, weil sie neben der Demokratie auch die Europäische Union zur Disposition stellen. In Frankreich hat es die rechtspopulistische Marine Le Pen in die Stichwahl ums Präsidentenamt geschafft. Ungarn bewegt sich mit seiner Flüchtlingspolitik fernab von freiheitlich demokratischen Grundsätzen.

Großbritannien organisiert gerade seinen Ausstieg aus der Europäischen Union.

(Zurufe der Abg. Michael Frisch und Uwe Junge, AfD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich beobachte diese Entwicklung mit großer Sorge; denn ich bin mit Leib und Seele Europäerin. Daher freue ich mich auch, dass sich gleichzeitig an vielen Stellen in Europa, jetzt zum Beispiel über Bewegungen wie „Pulse of Europe“, Menschen verbinden, die für den europäischen Gedanken einstehen.

Meine Damen und Herren, die Populistinnen und Populisten treiben Keile in die Gesellschaft. Erdogan ist das nicht nur in der Türkei gelungen, sondern auch unter den türkischen und türkischstämmigen Menschen, die hier in Deutschland leben. Dabei ist es falsch zu behaupten, dass die Mehrheit der Deutschtürkinnen und Deutschtürken Erdogans Plänen zur Demontage demokratischer Strukturen zugestimmt hat. Die folgenden Zahlen belegen das auch; denn in Deutschland leben laut Angaben des Statistischen Bundesamtes 2,9 Millionen türkischstämmige Menschen,

(Unruhe im Hause)

und knapp die Hälfte von ihnen, nämlich 1,43 Millionen Menschen, haben die türkische Staatsangehörigkeit und waren damit beim Referendum am 16. April wahlberechtigt.

(Unruhe im Hause)

Die Wahlberechtigung lag bei unter 50 %,

(Zurufe von der AFD)

mit Ja haben etwa 416.000 Menschen gestimmt.

Meine Damen und Herren, damit haben 14,3 % der in Deutschland lebenden türkischstämmigen Menschen der Verfassungsänderung zugestimmt,

(Zurufe von der AfD)

und das ist nicht die Mehrheit der Community, meine Damen und Herren.

(Weitere Zurufe von der AfD)

Trotzdem stellt sich die Frage, was diese Menschen dazu gebracht hat, einem autokratischen System zuzustimmen, das sich sehr von unserer Demokratie und unserem Rechtsstaat unterscheidet. Dabei kann man es sich nicht so einfach machen wie die antragstellende Fraktion, deren zu kurz greifende und nicht zutreffende Pseudoanalyse schon in den Titel einer Aktuellen Stunde passt. Stattdes

sen müssen wir kritisch auf die Integration in den vergangenen Jahrzehnten zurückblicken.

Auf den Punkt gebracht könnte man sagen, die Integration ist weitgehend gelungen.

(Zurufe von AfD und CDU)

Das heißt, die Deutschtürkinnen und Deutschtürken leben und arbeiten hier, sie haben in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt.

(Zuruf des Abg. Michael Frisch, AfD – Zuruf des Abg. Christian Baldauf, CDU)

Sie haben hier ihre Familien, sie tragen zu unser aller Wohlstand bei, und sie partizipieren an der Gesellschaft. Ein Großteil der Deutschtürkinnen und Deutschtürken schätzt und stützt unsere demokratische Grundordnung.

Aber es ist offenbar nicht gelungen, dass sich alle türkischstämmigen Menschen mit Deutschland bzw. unseren Grundhaltungen und Werten auch emotional identifizieren.

(Abg. Dr. Jan Bollinger, AfD: Deshalb brauchen sie eine Leitkultur!)

Deutschland hat sich über lange Jahre wenig offen gezeigt. Es fehlte ein ehrliches Bemühen, Zugewanderten mit türkischen Wurzeln das Gefühl zu geben, ihr gehört zu uns.

Wir müssen uns nicht nur über eine fehlende Identifikation wundern, wenn Deutschland immer wieder als Teil des christlichen Abendlandes dargestellt wird, zu dem Musliminnen und Muslime nicht dazugehören.

(Zurufe von der AfD)

So erstaunt es nicht, dass die plakativen Versprechungen von Präsident Erdogan auf fruchtbaren Boden fallen. Erdogan hat mit einer anti-deutschen Kampagne Unzufriedenheit für sich genutzt, – –

(Glocke des Präsidenten)

Entschuldigung, Frau Spiegel! Dauerzwischenrufe sind einfach störend. Hören Sie bitte aufmerksam zu, Sie können sich gleich zu Wort melden.

Bitte, Frau Spiegel, Sie haben das Wort.

indem er behauptet hat, Menschen türkischer Abstammung seien bei uns nicht willkommen und würden ausgegrenzt. Hier, meine Damen und Herren, sind wir gefordert; denn für uns bedeutet Integration, konkrete und nachhaltige Angebote zu machen. Integration bedeutet für uns auch, dass wir in politisch schwierigen Zeiten im Dialog bleiben, wie wir es beispielsweise regelmäßig am Runden Tisch Islam tun, wir den Gesprächsfaden eben nicht abreißen lassen und wir keinen Zweifel daran aufkommen

lassen, dass Deutschtürkinnen und Deutschtürken zu unserer Gesellschaft gehören; denn natürlich tun sie das, meine Damen und Herren.

Meine Damen und Herren, wir möchten die bei uns lebenden türkischstämmigen Menschen – ganz gleich, ob mit türkischer oder deutscher Staatsangehörigkeit – nicht verlieren an einen demokratiefeindlichen Populismus. Mir ist es wichtig, dass wir unsere Demokratie und unser Europa entschieden gegen alle verteidigen, die diese ablehnen und gefährden.

Herzlichen Dank.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Für die SPD-Fraktion spricht Frau Abgeordnete Rauschkolb.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir uns darüber streiten, wie viele Stimmen es am Ende gewesen sind, möchte ich noch einmal betonen, ich glaube, dass wir uns in diesem Hause darüber einig sein können, dass jede Stimme, die mit Ja abgegeben wurde, eine Stimme zu viel ist.

(Beifall der SPD, der FDP, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU)

Ich glaube, darüber können wir uns doch einmal einig sein.

Ich möchte auch Frau Becker unterstützen, die angeboten hat, dass wir uns gemeinsam darum kümmern – wie wir es auch schon tun –, wie bei uns Integration gelingt und wie wir diejenigen mitnehmen können, die vielleicht schon lange in Deutschland leben, aber unsere Sprache nicht sprechen, die vielleicht auch Schwierigkeiten haben, die alltäglichen Dinge zu erledigen. Es muss uns doch wichtig sein, diese Menschen – ob sie nun abgestimmt haben oder nicht – nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern sie mitzunehmen.

Die Frage ist: Wie schaffen wir Angebote für diejenigen, die wir im Moment vielleicht nicht dazu bewegen können, bei uns zu partizipieren? Wie schaffen wir Angebote, unser Demokratieverständnis, unsere Mitbestimmung dorthin zu transportieren, wo es vielleicht schwierig ist hinzukommen?

Ich glaube, dass wir uns zusammen aufstellen müssen. Ich weiß nicht, ob es in Ihrer aller Sinne ist, über das Thema „Integration“ zu reden; aber ich glaube auch, es ist eine Schlüsselfrage, die auch die nächsten Generationen begleitet. Auch die Kinder dieser Menschen haben es verdient, dass wir uns gemeinsam darum kümmern.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die AfD-Fraktion spricht Herr Abgeordneter Paul.

Liebe Kollegen! Frau Becker, ich lade Sie gern einmal in die Straßenzüge ein, dorthin, wo die letzten Deutschen wohnen.

(Zurufe von der SPD: Oh! Nein!)

Ja, die gibt es. Natürlich, die gibt es!

(Abg. Kathrin Anklam-Trapp, SPD: Ich fasse es ja nicht!)

Da wohnen Sie nicht, das ist klar.