Protokoll der Sitzung vom 27.01.2020

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Gedenkansprache

„Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht zu Ende.“ Homosexuelle Menschen unter der NS

Diktatur – und der lange Weg der Ausgrenzung 6513

Professor Dr. Michael Schwartz, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin:.... 6513

Ansprache.................. 6518

Ministerpräsidentin Malu Dreyer:..... 6518

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97. Plenarsitzung des Landtags Rheinland-Pfalz am 27.01.2020

B e g i n n d e r S i t z u n g : 1 0 : 0 2 U h r

Musik Ilse Weber „Ich wandre durch Theresienstadt“

Begrüßung und Ansprache

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste! Wir kommen heute, am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, hier in der Gedenkstätte KZ Osthofen zusammen. Osthofen war mit Dachau das früheste Konzentrationslager im Dritten Reich und hat von Frühjahr 1933 bis Sommer 1934 existiert. Heute ist an diesem Ort eine von zwei staatlichen Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, die wir in Rheinland-Pfalz haben.

Auch wenn hier noch kein Mensch zu Tode gekommen ist, was in Osthofen begann, mündete in millionenfachem Leid und der Vernichtung im nationalsozialistischen Lagersystem. Der Schriftzug „Konzentrationslager – Osthofen“ – er stand in großen Lettern zwischen zwei Hakenkreuzen an der Außenwand dieses Raumes – war unübersehbar, dies bereits 1933.

Zu dieser Plenarsitzung möchte ich zunächst unsere Gäste begrüßen. Als Vertreter der Opfergruppen den Vorsitzenden des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz, Herrn Avadislav Avadiev und die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Mainz, Frau Anna Kirschner. Außerdem ist Herr Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky bei uns. Seien Sie uns willkommen! Für den Landesverband der Sinti und Roma begrüße ich den Vorsitzenden, Herrn Jacques Delfeld, sowie Herrn Heinrich Django Reinhardt.

Ich freue mich darüber, dass als Vertreter der Lesben, Schwulen, bisexuellen, transidenten und intersexuellen Menschen unter anderem der Sprecher des Vereins QueerNet Rheinland-Pfalz, Herr Joachim Schulte, bei uns ist. Herzlich willkommen! Ich begrüße den Landesbeauftragten für die Belange behinderter Menschen, Herrn Matthias Rösch, sowie den Landesbeauftragten für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen, Herrn Dieter Burgard.

Für die christlichen Kirchen begrüße ich Herrn Oberkirchenrat Dr. Thomas Posern und Herrn Ordinariatsdirektor Dieter Skala. Ich begrüße die Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes, Frau Dagmar Wünsch, unsere Bürgerbeauftragte, Frau Barbara Schleicher-Rothmund, und den Präsidenten des Landesrechnungshofs, Herrn Jörg Berres.

Für den rheinland-pfälzischen Landtag begrüße ich die Abgeordneten, namentlich die Fraktionsvorsitzenden Herrn Alexander Schweitzer, Herrn Christian Baldauf, Herrn Uwe Junge, Frau Cornelia Willius-Senzer und Herrn Dr. Bern

hard Braun, außerdem die Vizepräsidenten Astrid Schmitt und Hans-Josef Bracht.

Ich freue mich, dass mit den Mitgliedern der Regierung Ministerpräsidentin Malu Dreyer bei uns ist. Ich darf auch den ehemaligen Ministerpräsidenten, Herrn Kurt Beck, begrüßen. Für die kommunale Familie darf ich stellvertretend den Bürgermeister der Verbandsgemeinde Wonnegau, Herrn Walter Wagner, ganz herzlich begrüßen.

Meine Damen und Herren, keine 100 Meter von hier entfernt, in der Häftlingshalle, hielten die Nationalsozialisten damals ihre politischen Gegner gefangen: Mitglieder der KPD, der SPD und Gewerkschafter, aber auch der Zentrumspartei, des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Juden, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma und andere. Mindestens 3.000 Männer und Frauen wurden hier festgehalten. Die Gefangenen litten unter ständigem Terror, sie wurden gedemütigt und misshandelt. Viele wurden nach der Schließung des Lagers weiter verfolgt, in andere Lager verschleppt und später ermordet.

In den Folgejahren überzog die nationalsozialistische Diktatur ganz Europa mit Terror und Gewalt: Millionen Menschen wurde die Würde genommen, sie wurden gefoltert, gehetzt und schließlich ermordet. Durch ihren Tod sollte nach den rassistischen Wahnvorstellungen der Nationalsozialisten mit Gewalt eine homogene Bevölkerung, ein sogenannter „Volkskörper“ geschaffen werden.

Ich darf Sie bitten, sich im Gedenken an die Opfer von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen)

Wir denken an Millionen Menschen, an Frauen, Männer und Kinder, die ihr Leben lassen mussten. Sie waren Juden, Sinti und Roma, Angehörige slawischer Völker und anderer Minderheiten. Sie waren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, politische Gefangene, überzeugte Christen oder Zeugen Jehovas. Sie waren körperlich oder geistig Behinderte, psychisch Kranke oder sogenannte Asoziale. Wir denken an geraubte Kinder, die ihren Familien entrissen wurden.

Wir denken an die Kriegsgefangenen und an unzählige Menschen, die nicht mehr leben durften, weil sie in den Augen ihrer Mörder, die verblendet waren vom Gift einer mörderischen Ideologie, als „minderwertig“ galten. In unser Gedenken schließen wir die Opfer von Halle ein, die uns die Kontinuität dieser Ideologie vor Augen führt, die uns entsetzt und fassungslos macht.

Besonders denken wollen wir an die verfolgten Homosexuellen. Ihr Leidensweg war mit dem Kriegsende vor 75 Jahren nicht zu Ende.

Unsere Gedanken sind bei ihnen, denn noch jahrzehntelang wurden sie in der Bundesrepublik unter anderem strafrechtlich weiter verfolgt.

(Stilles Gedenken)

Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

Meine Damen und Herren, die Gedenkstätte an diesem Ort besteht seit 1996. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte, dass wir heute hier sein können. Mein Dank geht stellvertretend an den Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, Herrn Bernhard Kukatzki. Für die musikalische Gestaltung sorgen Schülerinnen und Schüler des Musik-Leistungskurses der Klasse 11 des Gymnasiums am Römerkastell Alzey unter der Leitung von Christian Follmann. Vielen Dank dafür!

Wir wenden uns heute, 85 Jahre nach der Verschärfung der §§ 175 und 175 a StGB, erstmals einer Opfergruppe zu, die in der perfiden Hierarchie, die im nationalsozialistischen Lagersystem herrschte, ganz unten stand: den verfolgten Homosexuellen. Es waren mehr als 50.000 Männer, die nach dem nationalsozialistisch verschärften Strafrecht in der NS-Diktatur verfolgt wurden. Sie wurden verhaftet. Sie wurden bloßgestellt. Ihre Existenz wurde vernichtet. Sie mussten in den Lagern den „Rosa Winkel“ tragen. Sie waren verfolgt der Liebe wegen – ein falscher Blick schon konnte genügen, um denunziert zu werden, in Gefängnisse, Zuchthäuser oder ins KZ verschleppt zu werden. Tausende dieser Männer kamen ums Leben.

Da war zum Beispiel Otto Scheuerbrand. Der Stolperstein, der an ihn erinnert, ist hinter mir zu sehen. Er befindet sich in Ludwigshafen vor der Maxstraße 52. Otto Scheuerbrand erlebte ab 1942 eine grausame Odyssee durch drei Konzentrationslager. Dem voraus ging seine Zwangssterilisierung im Alter von 17 Jahren und eine Gerichtsverhandlung, in der er wegen sogenannter „Erregung geschlechtlichen Ärgernisses“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde.

Im Anschluss an diese Strafe wurde Otter Scheuerbrand wegen sogenannter „Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit“ zunächst in das KZ Dachau eingewiesen. Im Juni 1943 schrieb sein Vater einen mutigen und hilfesuchenden Brief an die Lagerleitung und bat darum, dass sein Sohn freigelassen und wieder in die Heimat entlassen werde. Er brauche dringend seine Mithilfe für den Unterhalt der Eltern und seiner vier Schwestern – vergebens. Otto Scheuerbrand starb im Alter von 27 Jahren im KZ Mauthausen. Nach Kriegsende – 1946 – versuchte der Vater, seinen Sohn als Opfer des Faschismus anerkennen zu lassen. Erneut vergebens.

Dass wir heute so viel über Otto Scheuerbrands Schicksal wissen, ist dem Verein „Ludwigshafen setzt Stolpersteine“ zu verdanken. Zwei Vertreter des Vereins sind heute bei uns. Herr Graßl und Frau Kleinschnitger, Ihnen beiden möchte ich stellvertretend danken, stellvertretend für das große Engagement der vielen Ehrenamtlichen im Land, die heute hier sind. Aber mein Dank geht auch an diejenigen, die nicht hier sein können, weil sie an ihrem Heimatort heute eine Gedenkveranstaltung haben. Ihre Arbeit ist ungemein wichtig gegen das Vergessen, und damit auch unschätzbar wertvoll für unsere Demokratie!

Meine Damen und Herren, das Schicksal Otto Scheuerbrands zeigt: Die unerbittlichen Moralvorstellungen, das konforme Familien- und Weltbild der Nationalsozialisten, dies alles wirkte auch nach 1945 allzu lange fort.

„Doch die Würde der Homosexuellen, sie blieb antastbar.“ So hat dies Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor zwei Jahren am Mahnmal für die verfolgten Homosexuellen in Berlin formuliert. Homosexuelle Opfer der NS-Diktatur haben lange Zeit keine Stimme gehabt. Das Unrecht, das ihnen geschah, hat lange überdauert. Die junge Bundesrepublik hat das Verbot sexueller Handlungen unter Männern in der verschärften Version des NS-Regimes unverändert übernommen.

Wir können deshalb, wenn wir an die Verfolgung der Homosexuellen erinnern, den Blick nicht auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 verengen, sondern müssen ihn vielmehr ausweiten, bis weit hinein in die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die §§ 175 und 175 a StGB galten in der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung nach Ende der NS-Diktatur in der Bundesrepublik 24 Jahre lang fort. § 175 StGB wurde erst 1969 reformiert, galt bis 1973 aber weiter für Männer unter 21 Jahren, § 175 a StGB wurde gestrichen. Doch auch nach 1973 konnten sexuelle Handlungen unter minderjährigen Männern noch mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden. Erst 1994 wurde § 175 endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen!

Wir haben kritisch zu fragen: Wie kann es sein, dass nach den Gräueln der NS-Zeit ganze Gruppen von Menschen weiter verfolgt und ausgegrenzt wurden? Wieso wurde das Unrecht nicht gestoppt? Welche Mechanismen wirkten da fort? Wer hatte ein Interesse daran? Und wie konnte es dazu kommen, dass die „Zweite Schuld“, wie Ralph Giordano das 1987 in seinem Buch nannte, sich so lange bei uns verfestigt hat?

Die Nachwirkungen spüren wir teilweise bis heute. Zur strafrechtlichen Verfolgung kam die gesellschaftliche Ausgrenzung der Homosexuellen – auch in der Sprache. Viele von uns werden sich noch an eine Zeit erinnern, in der über Homosexualität nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde und auf den Schulhöfen „Du bist wohl schwul!“ als Schimpfwort zu hören war. Es kommt auch heute noch vor. Dieses Unsichtbar-Bleiben-Müssen ist etwas, das viele schwule Männer jahrzehntelang als schwere Bürde zu tragen hatten.

Einer, der diese Last tragen musste und dessen Lebenspläne durch das Unrecht des § 175 StGB in der Nachkriegszeit zerbrochen sind, ist heute hier. Ich begrüße sehr herzlich Herrn Gerd Eid aus Mainz. Wir freuen uns sehr, dass Sie bei uns sind! Vielen Dank dafür, dass Sie Ihre Lebensgeschichte vor laufender Kamera erzählt haben. Sie alle können das Interview nach dieser Sitzung in der Ausstellung „Verschweigen – Verurteilen“ in der ehemaligen Häftlingshalle ansehen oder ab morgen im Foyer des Abgeordnetenhauses.

Meine Damen und Herren, die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihre Nachwirkungen sind nach wie vor unvollständig aufgearbeitet. Doch es ist eine der mächtigen Stärken unserer Demokratie, sich wandeln zu können, sich nötigenfalls zu korrigieren und, ja, auch sich zu entschuldigen! Der Landtag Rheinland-Pfalz hat dies im Jahr 2012 getan.

Ich gebe zu, wir waren spät dran damit, uns ehrlich zu erinnern. Es war ein langer Weg bis zur heutigen Gedenksitzung. Doch wir haben dazugelernt.

2012 hat der Landtag die Landesregierung mit einer Studie beauftragt, die Verfolgung der Homosexuellen von 1946 bis 1969 bzw. 1973 wissenschaftlich untersuchen zu lassen.

Und es waren Bürger, es waren Initiativen wie QueerNet Rheinland-Pfalz, die den Landtag auf diese Spur gesetzt haben. Manche der Initiatoren der ersten Stunde sind heute bei uns. Vielen Dank dafür! Auch einer der beiden Autoren der Studie ist heute bei uns: Herr Dr. Günter Grau. Herzlich willkommen! Er und Herr Schulte werden im Anschluss in der Ausstellung, die aus der Studie hervorgegangen ist, als Ansprechpartner zur Verfügung stehen,

Einer der beiden Leiter dieser Studie ist Professor Dr. Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Sehr geehrter Herr Professor Schwartz, willkommen und danke, dass Sie nach der langen wissenschaftlichen Beschäftigung mit unserem Land heute aus Berlin als Gedenkredner zu uns gekommen sind!

Meine Damen und Herren, ein erster Schritt zur Gleichstellung homosexueller Paare war das Lebenspartnerschaftsgesetz, das nach langen politischen Diskussionen am 1. August 2001 in Kraft getreten ist. Die Lebenspartner hatten nun zwar dieselben Verpflichtungen wie Ehegatten, aber zunächst kaum Rechte. In den folgenden 16 Jahren fand sich für die gleichgeschlechtliche Ehe trotz zahlreicher Anläufe keine politische Mehrheit.

Es war nicht die politische Mehrheit in Parlamenten, es war das Bundesverfassungsgericht, das schrittweise zwischen den Jahren 2009 und 2013 die maßgeblichen Etappen der Gleichstellung herbeigeführt hat, so zum Beispiel das Adoptionsrecht und die rechtliche Anerkennung als Familie. Seit dem 1. Oktober 2017 haben wir die Ehe für alle. Sie beruht auf einem Gesetzentwurf des Bundesrats aus Rheinland-Pfalz, den der Bundestag unverändert verabschiedet hat.

Dennoch bleibt noch viel zu tun: Es gibt nach wie vor Bedarf für weitere Forschung, wie zum Beispiel über die Diskriminierung und Verfolgung von homosexuell und lesbisch lebenden Frauen. Die langen Nachwirkungen des NSUnrechts zeigen sich aber auch darin, dass im Jahr 1990 die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität zwar von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen hat.