Dennoch bleibt noch viel zu tun: Es gibt nach wie vor Bedarf für weitere Forschung, wie zum Beispiel über die Diskriminierung und Verfolgung von homosexuell und lesbisch lebenden Frauen. Die langen Nachwirkungen des NSUnrechts zeigen sich aber auch darin, dass im Jahr 1990 die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität zwar von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen hat.
Aber erst jetzt, dreißig lange Jahre später, hat das Bundeskabinett einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der künftig in Deutschland sogenannte Konversionstherapien, bei denen die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität von Minderjährigen unterdrückt werden soll, verbietet. Diese angeblichen Therapien führen nachweislich zu Ängsten, Depressionen, bis hin zum Suizid. Unter anderem daran sieht man, dass wir noch lange nicht am Ende sind. Es ist klar, es gibt noch einiges zu tun.
Meine Damen und Herren, dass nach den Gräueln des NS-Regimes der deutsche Staat jahrzehntelang bestimmte Gruppen weiter ausgegrenzt und sogar strafrechtlich
verfolgt hat, erscheint uns heute schwer erträglich und auch schwer begreiflich. Wie kann es sein, dass solch ein Unrecht so lange weiterläuft, ohne dass es zu einem Aufschrei in der Gesellschaft kommt? Welchen Einfluss hatten diskriminierende Denkweisen auf das Handeln von Behörden und Justiz?
Dieses Phänomen des Verdrängens existiert auf beiden Seiten: Das Vertuschen bei den Tätern. Die Sprachlosigkeit bei den Opfern. Die Sprachlosigkeit über all das, was man gesehen und erlebt hat. Eine Sprachlosigkeit über das Unsagbare.
Menschen berichten immer wieder davon, dass sie erst Jahrzehnte später über das Geschehene sprechen konnten, wenn es ihnen überhaupt gelungen ist, und erst Jahrzehnte später all das psychologisch aufgearbeitet werden kann. Wir Menschen besitzen offensichtlich die Fähigkeit, Erlebnisse tief in uns zu vergraben, bis zu einem Punkt, wo nichts mehr geht, wo man sich allem Widerfahrenen stellen muss, wo sich das Unterbewusstsein vehement zu Wort meldet, wo man sich unweigerlich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen muss.
Das ist der Moment, wo die Sprachlosigkeit durchbrochen wird. Doch wie funktionieren solche Verdrängungsmechanismen in unserer Gesellschaft genau? Wie kann man eine Fassade über Jahrzehnte hinweg aufrechterhalten?
Ich bin der Meinung, genau das sollte tiefer aufgearbeitet werden. Jahrzehntelang wurde über solche Kontinuitäten auch in den rheinland-pfälzischen Amtsstuben geschwiegen. Ich werde mich persönlich dafür einsetzen, dass wir weiter untersuchen, welche Mechanismen des Verdrängens dem zugrunde lagen. Das ist ein Instrument, um die Erinnerungskultur fortzuentwickeln. Zeitzeugen aus der NS-Zeit werden bald nicht mehr sprechen können. Wir als Zeitzeugen der Zeit des Verdrängens und Vertuschens müssen sprechen lernen.
Beispielhaft kann hier ein Blick in unser Partnerland Ruanda geworfen werden. Herr Minister Lewentz hat oft darüber berichtet. Dort leben Täter und Opfer des Genozids Tür an Tür. Wie hat es diese Gesellschaft geschafft, die Spaltung zu überwinden und wieder friedlich zusammenzuleben? Wie hat man dort die Sprachlosigkeit und das Verdrängen hinter sich gelassen? Wie so oft lohnt ein Dialog miteinander, den ich anstoßen und begleiten möchte.
Generell gilt doch: Das dahinter stehende Denken – das Denkmuster, dass als minderwertig gilt, wer nicht in das Schema passt, wer anders ist als die Mehrheit, wer nicht konform geht mit einer sogenannten Leitkultur –, dieses Denken muss aufgebrochen und als das entlarvt werden, was es ist: zum Teil menschenverachtend, diskriminierend und undemokratisch.
Ich bin der Überzeugung, im Erinnern und Gedenken liegt die Kraft unserer Gegenwart. Das Erinnern vermag uns wachsam zu machen, sensibel für Schwarzweißdenken, Ausgrenzung und Hetze. Wir erleben, wie Hemmschwellen fallen. Stehen wir gerade deshalb ein für unser freies, offenes, demokratisches Miteinander: wachsam, wehrhaft und solidarisch!
„Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht zu Ende.“ Homosexuelle Menschen unter der NS-Diktatur – und der lange Weg der Ausgrenzung
Sehr geehrter Herr Präsident, zunächst einmal herzlichen Dank für Ihre einfühlsamen Worte zum heutigen Thema.
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, sehr geehrte Vertreter der Opfer der NS-Diktatur, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte Ihnen zunächst herzlich meinen ganz persönlichen Dank für die Ehre aussprechen, heute an diesem besonderen Tag vor Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich möchte Ihnen auch sehr danken für die Kraft der Erinnerung, die uns heute über etwas nachsinnen lässt, das aus unserer deutschen Erinnerungskultur lange ausgeschlossen worden ist – die Verfolgung und Diskriminierung homosexueller Menschen durch die nationalsozialistische Diktatur. Wer aber – Herr Präsident Hering hat es auch schon deutlich werden lassen – von der NSHomosexuellenverfolgung reden will, darf über die Verfolgung vor 1933 und die Verfolgung nach 1945 nicht schweigen. All dies war nicht dasselbe, aber all dies gehört eben doch untrennbar zusammen.
Im Jahre 1963 schrieb ein Mann aus Dortmund einen Leserbrief, bei dem nur die Initialen seines Namens abgedruckt wurden – bezeichnend genug – und in dem es hieß – ich zitiere –: Im Jahre 1936/37 wurde ich zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, wegen widernatürlicher Unzucht. Ich war damals 21 Jahre alt. Wissen Sie, was es heißt, ein Jahr lang im Gefängnis zu sein, nicht einmal richtig zu wissen, wofür und warum? Obwohl bis heute 26 Jahre vergangen sind, verfolgt mich meine Strafe auf Schritt und Tritt. Ich habe heute eine sehr verantwortungsvolle Position, aber in dem Moment, wo man erfahren würde, was mit mir los ist – ich würde unbedingt der Verachtung anheimfallen und wäre ohne jede Hilfe und Existenz. –
„Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht zu Ende.“ Treffend, trotz der darin enthaltenen Überspitzung, ist dieses bittere Zeugnis, das der Historiker Hans-Joachim Schoeps im selben Jahre, 1963, der bundesrepublikanischen Demokratie ausstellte. Überspitzt ist dieses Urteil insofern, als die schlimmsten Formen nationalsozialistischer Verfolgung – Folter und Morde in Konzentrationslagern – 1945 glücklicherweise für immer beendet waren.
Im Kern dennoch zutreffend ist der Hinweis auf eine weitreichende Kontinuität, wenn man Strafrecht und darauf gründende Strafverfolgung in den Blick nimmt. Denn anders als in der DDR, die beim § 175 des Strafgesetzbuchs zu dessen milderer Weimarer Fassung zurückkehrte, blieb das vom NS-Regime 1935 extrem verschärfte Homosexuellenstrafrecht in der Bundesrepublik völlig unverändert zwei lange Jahrzehnte lang in Kraft. Das hatte zur Folge, dass in unserer Demokratie rund 50.000 Männer wegen homosexueller Handlungen auf der Grundlage von Nazi
Die Gesamtzahl der unter der Hitler-Diktatur verurteilten Homosexuellen dürfte aber noch höher liegen, da insbesondere weibliche Homosexuelle nicht nach diesem § 175, sondern nach Ersatzparagraphen zur Prostitution oder als sogenannte „Asoziale“ verurteilt wurden. Nicht wenige lesbische Frauen wurden außerdem Opfer von KZ-Haft, in der sie allerdings diversen anderen Häftlingskategorien zugeordnet und nur selten als Lesben in den SS-Akten vermerkt wurden.
Besonders schlimm traf es jene rund 5.000 bis 6.000 Männer, die ausdrücklich als Homosexuelle in den Lagern inhaftiert wurden. Diese eigens mit einem „Rosa Winkel“ stigmatisierten Häftlinge stellten im Lagersystem der NSDiktatur nur eine winzige Minderheit dar, doch gerade diese Tatsache trug zu einer erhöhten Lebensgefahr für jeden Einzelnen bei: Die besonders prekäre Lage der als homosexuell gekennzeichneten KZ-Häftlinge erklärte sich nicht nur aus der Brutalität der SS-Wachmannschaften, sondern ebenso aus den Ressentiments innerhalb der Lagergesellschaft, in der Mithäftlinge ihnen das Leben oft genug zur Hölle machten. Die geringe Zahl der Homosexuellen machte Schutz durch Gruppenzusammenhalt unmöglich.
Infolgedessen überlebten viele die KZ-Haft nicht, ihre Todesrate wird auf über 50 %, zuweilen sogar auf 80 % geschätzt. Der ehemalige KZ-Häftling Eugen Kogon schrieb kurz nach seiner Befreiung über „Die Behandlung der Homosexuellen“ im KZ Buchenwald, diese hätten – ich zitiere ihn – „gerade in den schwersten Jahren der niedrigsten Kaste des Lagers“ angehört und seien dadurch fortwährend akuter tödlicher Bedrohung ausgesetzt worden. Ich zitiere ihn weiter: „Bei Transporten in Vernichtungslager“ hätten Homosexuelle „im Verhältnis zu ihrer Anzahl den höchsten Prozentsatz aller Häftlinge gestellt, da das Lager immer die verständliche [!] Tendenz hatte, weniger wichtige und wertvolle oder als nicht wertvoll angesehene Teile abzuschieben“. Die verständliche Tendenz!
Obwohl sie somit eindeutig zu den Verfolgten der NSDiktatur zählten, gehörten homosexuelle Menschen in Deutschland nach 1945 lange zu den systematisch missachteten Opfern. Denn – ich zitiere –: „So wie es in der NS-Zeit Häftlingshierarchien gegeben hatte, gab es nach dem Krieg Überlebenden-Hierarchien“, so stellt es der Historiker Nikolaus Wachsmann fest. Gesellschaftliche Außenseiter wie Homosexuelle, die schon in den Lagern ganz unten eingestuft worden wären, seien auch nach 1945 wieder nach ganz unten gedrückt worden.
Im Opfer-Gedenken der früheren Häftlingsgemeinschaften ist es in der Tat erst nach Jahrzehnten zu einer schrittweisen Öffnung gekommen, die ein Sichtbarwerden bislang diskriminierter Häftlingsgruppen ermöglichte: In der KZGedenkstätte Mauthausen wurde erst 1984 ein Mahnmal für Homosexuelle errichtet, dem 1994 eines für Roma und Sinti und 1998 eines für Zeugen Jehovas folgte. Das Beispiel machte langsam in anderen Gedenkstätten Schule. Zuvor jedoch, daran erinnert der Historiker Klaus Müller, stieß „in den 1970er- und 1980er-Jahren des 20. Jahrhunderts (... ) die Teilnahme von homosexuellen Gruppen an
Es geht also nicht um schlicht „vergessene Opfer“, als welche die homosexuellen NS-Verfolgten dennoch oft bezeichnet werden; diese Opfer wurden, wie der Historiker Günter Grau treffend bemerkt – ich zitiere – „weder totgeschwiegen, noch waren sie vergessen worden“, sie wurden vielmehr „in beiden deutschen Nachkriegsstaaten (... ) politisch bewusst ausgegrenzt“. Das Verhalten der ehemaligen Mithäftlinge war nur ein Spiegel der Gesamtgesellschaft: Es dominierte die Überzeugung, den vom NS-Regime verfolgten Homosexuellen sei gar kein spezifisches NS-Unrecht angetan worden, ihre Verfolgung sei vielmehr zu Recht erfolgt.
Infolgedessen gelang es ehemaligen KZ-Häftlingen nur in seltenen Fällen, Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Jahrzehntelang grundsätzlich von Rehabilitierung und Entschädigung ausgeschlossen blieben alle 50.000 nach NS-Strafrecht Verurteilten und alle 6.000 bis 7.000 von der Wehrmachtjustiz Verurteilten. Diese Menschen wurden sämtlich nach 1945 weiterhin als vorbestrafte Kriminelle betrachtet und behandelt. Ähnliches gilt auch für die 400 bis 800 homosexuellen Kastrationsopfer des NS-Regimes. Und vielleicht schlimmer noch: Es wurde in der Bundesrepublik weiter erniedrigt, weiter verfolgt.
Ein Beamter des Koblenzer Polizeipräsidiums schilderte den Forschern des von Ihrem Landtag 2012 in Auftrag gegebenen Forschungsprojekts zu Rheinland-Pfalz als Zeuge der Zeit um 1960 – ich zitiere ihn –: „Generell kann man sagen: In Polizeikreisen, auch in Justizkreisen, waren homosexuelle Straftäter oder überhaupt Homosexuelle ganz unten (... ). Auch die Behandlung der Homosexuellen auf den Revieren war teilweise (... ) nicht menschenwürdig. Der Ton war rau, es gab Beschimpfungen, Demütigungen.“ Entsprechend groß war die ständige Angst vor Entdeckung, Bloßstellung, Verurteilung und sozialem Absturz, über die Betroffene in den 1960er-Jahren allmählich öffentlich zu sprechen wagten.
Erst 1985 nahm Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner bekannten Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs, den er retrospektiv als Tag der Befreiung auch für uns Deutsche deutete, die Homosexuellen in seine Liste der NS-Opfer auf. Damit erfolgte immer noch keine generelle Anerkennung, denn explizit wurden nur die getöteten Homosexuellen erwähnt, also die Mehrzahl der KZ-Häftlinge, nicht aber die viel zahlreicheren Verfolgten insgesamt. Auch eine Distanzierung vom NS-Homosexuellenstrafrecht erfolgte nicht. Dieses war damals bekanntlich erst 16 Jahre zuvor abgeschafft worden.
Es dauerte bis 2018, dass mit Frank-Walter Steinmeier ein deutscher Bundespräsident die richtigen, umfassenden Worte fand: Er erinnerte „an die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen“, an die „vielen zehntausend Menschen, deren Privatheit, deren Leben, deren Liebe, und (... ) deren Würde auf niederträchtigste Weise angetastet, geleugnet und verletzt“ worden sei, von denen Tausende ums Leben gekommen seien. Er gedachte auch all jener Verfolgten oder Diskriminierten, die eine lesbische, intersexuelle oder transsexuelle Orientierung gehabt hätten. Und er bezog die Zeit nach 1945 mit ein, denn – so
der Bundespräsident: „Die neue freiheitliche Ordnung in unserem Land, sie blieb über viele Jahre für viele noch unvollkommen. Die Würde von Homosexuellen, sie blieb antastbar. Zu lange hat es gedauert, bis auch ihre Würde etwas gezählt hat in Deutschland.“
Dass sich an Verfolgung und Diskriminierung in Deutschland allmählich etwas änderte, hat mit vielen dafür engagierten Menschen zu tun: Mit wortmächtigen Befürwortern einer liberalen Reform des NS-Strafrechts innerhalb der Wissenschaften, zu denen auch einige Jura-Professoren der Mainzer Universität zählen, etwa Karl Siegfried Bader, Ulrich Klug, Ernst-Joachim Lampe, Peter Noll und der aus Luxemburg stammende Armand Mergen. Ferner mit liberal gesonnenen Strafrechtsreformern in der Politik, zu denen etwa der rheinland-pfälzische SPD-Abgeordnete Adolf Müller-Emmert zählte, der im Bundestag mit dem CDU-Abgeordneten und früheren Generalbundesanwalt Max Güde zusammenwirkte. Und mit etlichen mutigen homosexuellen Männern und Frauen, die sich vor der Öffentlichkeit nicht mehr versteckten und stattdessen begannen, ihre Interessen in unserer Demokratie selbstbewusst zu vertreten.
Dennoch dauerte es bis zum Jahre 2002, bis der Bundestag sich dazu durchringen konnte, die NS-Urteile gegen Homosexuelle größtenteils als Unrecht zu betrachten. Erst 2017 wurden auch die meisten der in der Bundesrepublik Verurteilten rehabilitiert und geringfügig entschädigt. Eine vollständige Wiedergutmachung ist aber bis heute nicht erfolgt und kann vermutlich gar nicht erfolgen.
Abgesehen von jener kleinen Minderheit, die auch aus heutiger Sicht zu Recht verurteilt wurde, hat dies vor allem damit zu tun, dass die Verfolgung sich nicht nur auf Verurteilte und Inhaftierte erstreckte. Sie erfasste durch Ermittlungen und Anklagen erheblich mehr Betroffene, die mit Bloßstellung, Erniedrigung und Einschüchterung davonkamen, aber womöglich soziale Diskriminierungen bis hin zum Arbeitsplatzverlust oder dem Abbruch familiärer Bindungen erlitten.
Darüber hinaus bezweckte die Verfolgung von einigen stets die Einschüchterung und Unsichtbarmachung aller – nicht nur der Männer, auch der Frauen. Diese allgemeine Bedrohung erzeugte Angst vor Bloßstellung und Strafverfolgung, aber auch innere Scham- und Schuldgefühle, sie verursachte nicht zuletzt eine unbekannte Zahl verzweifelter Selbstmorde. Für all das gibt es keine Wiedergutmachung. Hier kann es nur Scham geben und Trauer über so viele beeinträchtigte, verletzte und teilweise zerstörte Menschenleben.
Was waren die Ursachen für die heute nur schwer begreiflichen Verfolgungskontinuitäten zwischen Diktatur und Demokratie? Ein wichtiger Aspekt ist die starke personelle Kontinuität in Polizei und Justiz der Bundesrepublik. Gegen Ende der 50er-Jahre – auf dem Höhepunkt der Nachkriegshomosexuellenverfolgung – waren etwa die Präsidenten der Landeskriminalämter in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, Georg Heuser und Oskar Wenzky, ehemalige NS-Kriminalisten und SS-Führer. Heuser wurde wegen seiner Beteiligung an NS-Verbrechen 1959 spektakulär verhaftet – immer noch im Amt bis dahin – und spä
ter in Koblenz verurteilt. Sein Kollege Wenzky hingegen blieb von der deutschen Justiz unbehelligt. Im Gegenteil: Er hatte – damals noch Leiter der Kölner Kriminalpolizei – sogar als Gutachter des Bundesverfassungsgerichts fungieren und dazu beitragen dürfen, dass 1957 das NSHomosexuellenstrafrecht für grundgesetzkonform erklärt wurde.
Ein maßgeblicher Gegner einer Entkriminalisierung homosexueller Handlungen war auch der aus dem Westerwald stammende Senatspräsident am Bundesgerichtshof Paulheinz Baldus, zugleich der oberste Disziplinarrichter über alle Bundesbeamten und Soldaten. Baldus hatte seine Juristenkarriere nach 1933 im Reichsjustizministerium und in der sogenannten „Kanzlei des Führers“ begonnen. Mitte der 60er-Jahre warf der Mainzer Professor Armand Mergen diesem mächtigen Spitzenjuristen eine grundsätzlich homophobe Haltung vor und stellte öffentlich die Frage – ich zitiere –, „ob der Homosexuelle, der keinen Schaden anrichtet und kein Rechtsgut verletzt, in Deutschland unwidersprochen zum Gegenstand öffentlicher und offizieller Anprangerungen gemacht werden kann, ob man ihm die Würde absprechen will. Hat man vor [so Mergen], eine Minderheit der Verachtung und der Verfolgung zu überantworten?“
Bei alledem waren personelle NS-Kontinuitäten jedoch nicht der einzige Grund für die erschreckende inhaltliche Kontinuität im Strafrecht. Ehemalige Nazis gab es auch aufseiten der Befürworter einer Entkriminalisierung, wo sie übrigens mit prominenten früheren NS-Verfolgten wie Fritz Bauer oder Theodor W. Adorno zusammenwirkten. So wichtig ehemalige Nationalsozialisten in Polizei und Justiz für die Beibehaltung der Verfolgungsintensität gewesen sein dürften, so entscheidend waren für die Aufrechterhaltung der rechtlichen Grundlagen letztlich andere Personenkreise in der Politik – in erster Linie Vertreter einer christlichen Neuausrichtung der Nachkriegsgesellschaft in der Kanzlerpartei der Adenauer-Ära. Hier waren auch aus Rheinland-Pfalz stammende CDU-Politiker wie Adolf Süsterhenn und Franz-Josef Würmeling ein Vierteljahrhundert lang wirkmächtig.
Es kam zu der paradoxen Situation, dass christliche Politiker, die sich in vielem von der NS-Diktatur bewusst abgrenzten, auf dem Gebiet des Homosexuellenstrafrechts NS-Kontinuitäten gesichert haben. Dies erklärt sich dadurch, dass die NS-Verfolgung nur die Extremform einer homophoben Grundhaltung gewesen ist, die auf diversen und oft viel älteren Voraussetzungen aufbaute – von der kirchlichen Sündenlehre über ein verabsolutiertes, heteronormatives Geschlechterbild und medizinische Krankheitsdiagnosen bis zur weit zurückreichenden Geschichte homophoben Strafrechts. Diese Strukturmuster konnten auch ohne NS-Ideologie existieren und repressiv fortwirken – auch in den Köpfen vieler Betroffener selbst.
In einer 1949 durchgeführten „Umfrage in der Intimsphäre“, wie man das nannte, wurde Homosexualität von 48 % der befragten Männer als „Laster“ eingestuft, also religiösmoralisch verurteilt, während 39 % dieselbe als „Krankheit“ betrachteten. 15 % erblickten darin nur eine „Angewohnheit“, was freilich für Verführungshypothesen Raum ließ. Ganze 4 % sahen darin eine „natürliche Sache“. Inter
essant ist die Diskrepanz zwischen Erfahrungen und Einstellungen. Denn 6 % der Männer und 5 % der Frauen gaben an, ihre erste sexuelle Erfahrung mit einer Person desselben Geschlechts gemacht zu haben. Die Frage, ob man später einmal in Berührung mit homosexuellen Erlebnissen gekommen sei, wurde nur vier Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur sogar von 23 % der Männer bejaht. Frauen wurde diese Frage bezeichnenderweise gar nicht gestellt.
Es gab folglich in der deutschen Gesellschaft der 40erJahre diverse, meist aber wenig günstige Wertungen homosexuellen Verhaltens, doch entscheidend für dessen Verfolgung war das Strafrecht. Das 1871/72 in Kraft gesetzte einheitliche deutsche Strafgesetzbuch stellte homosexuelle Handlungen unter Männern als „widernatürliche Unzucht“ unter Strafe und folgte darin dem preußischen Strafrecht von 1851. Die tiefe Verbindung zwischen religiöser Moral und diesem Strafrecht wird schon im Grundsatz der damaligen preußischen Regierung greifbar, wonach der Staat die Pflicht zur Aufrechterhaltung des Prinzips der Sittlichkeit habe und daher, weil Homosexualität diese Sittlichkeit gefährde, homosexuelle Handlungen unbedingt bestrafen müsse, selbst wenn durch diese Handlungen kein bestimmtes Recht einer anderen Person verletzt würde.
Erst über einhundert Jahre später kehrte sich Deutschland 1969 von diesem Moralstrafrecht wieder ab. Die Frage, wer denn den Sittlichkeitsmaßstab für Strafwürdigkeit konkret festzulegen berechtigt sei, hatte zuvor das Bundesverfassungsgericht 1957 klar beantwortet: Weder das persönliche sittliche Gefühl des Richters noch die Auffassung einzelner Volksteile könne hier maßgebend sein, sehr wohl aber die Morallehren der christlichen Kirchen, denen große Teile des Volkes hierin folgten.
Die Alternative stellten die Philosophie der Aufklärung und ein darauf aufbauendes liberales Strafrecht dar. Seit 1791 wurden in Frankreich homosexuelle Handlungen nicht mehr kriminalisiert. Der napoleonische Code pénal, Strafgesetzbuch, von 1810 stellte nur noch Angriffe auf die Ehre, Freiheit oder Unversehrtheit konkreter Personen unter Strafe, nicht mehr abweichende sexuelle Handlungen an sich. Durch die napoleonischen Eroberungen hatte dieses Strafrecht auch in den westlichen und südlichen Teilen Deutschlands Fuß gefasst.
Nach dem Sturz Napoleons wehrten sich Volksvertreter dieser Regionen lange erfolgreich gegen die von Preußen ausgehende erneute Kriminalisierung. So lehnten es die Provinzialstände der preußischen Rheinprovinz 1843 entschieden ab (Hauptstadt: Koblenz) – ich zitiere –, „die widernatürliche Unzucht als solche“ zu bestrafen, und begründeten dies mit dem „im Code pénal festgehaltenen Grundsatz (... ), daß das sexuelle Begehren im Prinzip unantastbare Privatangelegenheit sei“ und nur dann kriminalisiert werden dürfe, wenn konkrete „Rechte Dritter“ verletzt würden.
Der Bayerische Landtag votierte noch 1865 gegen den Antrag der Münchner Regierung, die homophoben neuen preußischen Bestimmungen zu übernehmen. Die erstrebte Rechtsangleichung, so die auch für die damals bayerische
Pfalz sprechende Landtagsmehrheit in München, könne auch anders erreicht werden – nämlich dadurch, dass Staaten wie Preußen eine Bestrafung abschafften, für die ein Rechtsgrund nicht vorhanden sei. Der große Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hat in den 1960er-Jahren bewusst an diese liberale Vorgeschichte erinnert, um deutlich zu machen, dass homophobes Strafrecht keineswegs alternativlos war.
Eine einheitliche Zeit der Strafverfolgung hat es somit im modernen Deutschland erst seit 1872 gegeben, und für viele Deutsche stellte sie einen gravierenden Rückschritt dar. Doch auch seither gestaltete sich die Intensität der Verfolgung sehr unterschiedlich, und es wäre zu fragen, ob hierbei nicht auch regionale Unterschiede weiterhin eine Rolle spielten. Jedenfalls stellte die Art und Weise der NSVerfolgung eine bis dahin in Deutschland nie gesehene Radikalisierung dar.