Protokoll der Sitzung vom 18.02.2004

Die CDU hat es einmal mehr geschafft, eine anständige Modernisierung der Versorgungsstrukturen zu verhindern.

(Lars Harms [SSW]: Hört! Hört!)

Die Kosten treibende Rolle der Kassenärztlichen Vereinigungen ist unangetastet geblieben. Vergessen scheint die Erkenntnis des Sachverständigenrates bezüglich der konzertierten Aktion im Gesundheitswesen, dass den im internationalen Vergleich hohen Ausgaben in Deutschland nur mittelmäßige Leistungen gegenüberstehen. Die festgestellten Über-, Unter- und Fehlversorgungen werden durch eine einseitige

(Silke Hinrichsen)

Belastung der Versicherten nicht wesentlich angetastet.

Die gesetzliche Krankenversicherung leidet wie alle anderen Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland unter den hoffnungslos zersplitterten Strukturen, durch die die Kosten unnötig in die Höhe getrieben werden. Dabei muss man sich auch die Frage stellen, ob es richtig ist, dass es Millionen von gut situierten Bürgerinnen und Bürgern möglich ist, sich zu besseren Konditionen und niedrigeren Beiträgen bei einer privaten Krankenkasse zu versichern.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Rest der Bevölkerung muss zu vorgeschriebenen Konditionen und häufig höheren Beiträgen Mitglied in einer gesetzlichen Krankenkasse sein. Ansonsten wird er auf eine zusätzliche private Vorsorge verwiesen.

(Veronika Kolb [FDP]: Völlig unrichtig!)

Wir geben der CDU zwar Recht, dass es richtig ist, beispielsweise Sozialhilfeempfänger in die solidarische Krankenversicherung einzubeziehen. Wir meinen aber, dass dies auch für Beamte, Selbstständige und Abgeordnete gelten muss und dass die Beiträge auf alle Einkommensarten erhoben werden müssen.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bürgerversicherung könnte dazu beitragen, die Lohnnebenkosten zu senken, die Beitragssätze herabzusetzen und die Einnahmen der Krankenversicherungen besser gegen Konjunktureinflüsse zu sichern.

(Veronika Kolb [FDP]: Das möchte ich aber sehen! - Zuruf von der CDU: Wer sagt das denn? Beitragssenkungen? Niemals!)

Aber: Wir sollten uns auch - die Kollegin Birk sagte das vorhin ebenfalls - über neue Systeme unterhalten. Insofern muss man wirklich darauf hinweisen, wie es in Dänemark läuft.

Leider sieht es momentan so aus, dass sich die Berliner Parteien frühestens nach der Bundestagswahl 2006 mit einer zukunftweisenden Reform des Gesundheitssystems befassen und sie bis dahin weiter am bestehenden System herumwursteln wollen. Daher gilt es kurzfristig, zumindest die schlimmsten Übel zu beseitigen. Hierbei gibt es leider eine sehr lange Liste.

Das Chaos und die Verwirrung, die Anfang des Jahres in den Arztpraxen der Republik herrschten, darf

man nicht nur der Bundesregierung und der CDU/CSU anlasten. Die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen haben auch durch eigene Versäumnisse zur Unübersichtlichkeit und zu fehlenden Klarstellungen

(Veronika Kolb [FDP]: Das ist ja unglaub- lich!)

bei der Gesundheitsreform - zum Beispiel hinsichtlich der Definition von chronisch Kranken - beigetragen. Alle Beteiligten hatten nach Verabschiedung der Gesetze im Bundestag und im Bundesrat Zeit, um die vielen Details der Reform zu klären.

(Veronika Kolb [FDP]: Wie viel Zeit denn?)

Diese Zeit wurde aber offensichtlich nicht genutzt. Man fragt sich manchmal, ob gewisse Verbandsvertreter diese Chaossituation bewusst herbeigeführt haben, um wieder einmal nur ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es bleibt jetzt zu hoffen, dass man die größten Ungereimtheiten geregelt hat, damit zumindest die Patienten wissen, woran sie sind. Zentral bleibt aus unserer Sicht aber die Frage, ob es wirklich Sinn macht, die Praxisgebühr von 10 € pro Quartal obligatorisch zu erheben. Nicht nur der Verwaltungsaufwand ist hierbei problematisch, sondern auch die negativen finanziellen Folgen für sozial Schwache, auf Sozialhilfe angewiesene Bewohner von Alten-, Pflege- und Behinderteneinrichtungen, die nur noch ein Taschengeld erhalten, und chronisch Kranke.

(Veronika Kolb [FDP]: Wer ist chronisch krank?)

Diese werden auch noch durch zusätzliche Zuzahlungen belastet. Dies ist kritikwürdig. Auch die Erhebung der Praxisgebühr von Obdachlosen ist äußerst schwierig.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Frau Abgeordnete, einen Moment bitte. - Meine Damen und Herren, es werden zahlreiche Pläuschchen geführt. Davor habe ich zwar großen Respekt, führen Sie diese aber bitte in der Cafeteria.

Dies ist einem solidarischen Gesundheitswesen nicht würdig. Wie bereits gesagt: Hinzu kommen für diese Personengruppen auch noch die erheblichen Zuzahlungen.

Dies muss nochmals auf den Prüfstand gehoben werden; denn die auch von uns empfundenen Ungerechtigkeiten können nicht durch den Hinweis beiseite geschoben werden, alle würden rechtlich gleich behandelt. Selbstverständlich macht es Sinn, beim Verbraucher das Bewusstsein dafür zu schärfen, welche Kosten durch die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens verursacht werden.

Es bekannt, dass die Deutschen durch besonders häufige Arztbesuche aufgefallen sind. Durch die Praxisgebühr lassen sich aber nicht unbedingt jene abschrecken, die regelmäßig unnötigerweise zum Arzt laufen. Im Gegenteil: Dies könnte leicht einen unbeabsichtigten Effekt verursachen. Menschen mit niedrigem Einkommen werden trotz Krankheit durch die Gebühr abgeschreckt und lassen sich nicht behandeln, was langfristig eher zu höheren Ausgaben führen wird. Die obligatorische Gebühr von 10 € pro Quartal ist also falsch und sollte daher schnellstmöglich abgeschafft werden.

Ein Weg, um die größten Probleme, die mit der Kassen- beziehungsweise Praxisgebühr verbunden sind, kurzfristig zu mildern, wäre es sicherlich, wenn sich die Krankenkassen dazu durchringen könnten, das Hausarztmodell flächendeckend einzuführen.

(Beifall bei SSW und SPD)

Also: Die Gebühr sollte nur zur Steuerung hinsichtlich einer primären hausärztlichen Versorgung genutzt werden, so, wie es die Bundesgesundheitsministerin ursprünglich angedacht hatte. Sie soll als Anstoß dazu dienen, zuerst den Hausarzt zu konsultieren, statt aufgrund einer eigenen Diagnose gleich den Facharzt aufzusuchen.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

So würden auch die Patienten einen Anreiz dazu bekommen, durch ihr eigenes Verhalten die Praxisgebühr zu vermeiden. Auch das so genannte Ärztehopping würde eingeschränkt.

Leider ist sehr deutlich geworden, dass durch die beschlossenen Reformen zurzeit nur sehr wenig zur Beitragssenkung der Krankenkassen beigetragen wird. Die meisten Kassen haben bisher keine Beitragssenkungen vorgenommen. Dabei nützt es aber nichts, die Krankenkassen zu kritisieren; denn sie sind

dazu verpflichtet, zunächst einmal ihre Schulden zu tilgen, bevor sie ihre Beiträge senken können.

(Veronika Kolb [FDP]: Mehrbelastungen für die Patienten, aber die Kassen sollen Schul- den tilgen!)

Die durch die Hintertür eingeführten Erhöhungen der Krankenkassenbeiträge bei Betriebsrenten oder Direktversicherungen sind bei den Betroffenen natürlich auf sehr viel Widerstand gestoßen und werden zu Recht als eine Abzockerei empfunden.

Insgesamt bleibt das Fazit, dass die Gesundheitsreform sozial unausgewogen ist und dass durch sie die Zielsetzungen der Bundesregierung hinsichtlich der Kostendämpfung und der Beitragssenkung bisher kaum erreicht werden konnten. Deshalb fordern wir eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens. Die Struktur von Leistungsanbietern und Kostenträgern muss neu geordnet werden, und zwar unter anderem durch die Einführung einer Positivliste für Arzneimittel, die Ermöglichung neuer Versorgungsstrukturen im ambulanten Bereich, die Stärkung der Hausärzte als Vermittler zu den Fachärzten und die Verringerung der Verwaltungskosten bei den Krankenkassen.

(Veronika Kolb [FDP]: Sie weiß nicht, wo- von sie redet!)

Eine Bürgerversicherung, zu der alle Bürgerinnen und Bürger gemäß ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit beitragen, wäre vielleicht ein erster richtiger Schritt auf dem Weg hin zu einem solidarischen Gesundheitssystem.

(Beifall beim SSW und vereinzelt bei der SPD)

Eine Privatisierung der Gesundheitsvorsorge lehnen wir ab. Die Absicherung von grundlegenden Lebenslagen und Risiken wie Krankheit, Alter, Behinderung und Unfällen muss Aufgabe der Solidargemeinschaft bleiben.

(Beifall beim SSW und vereinzelt bei der SPD)

Es geht in der Gesundheitspolitik nicht nur um die Frage, was wir mit unserem heutigen Gesundheitswesen leisten und wie wir die Lohnnebenkosten senken können. Dies sind zwar zentrale Anliegen, aber die große Herausforderung in der Gesundheitspolitik liegt vor allem in der Beantwortung der Frage, wie das Gesundheitswesen gestaltet sein muss, um die Solidarität zu erhalten.

(Veronika Kolb [FDP]: Ja!)

(Silke Hinrichsen)

Kaum jemand stellt noch offen die Frage, wie viel uns allen die solidarische Verantwortung für die Gesundheit und das Schicksal aller wert ist. Über die Jahre hinweg und nicht zuletzt durch das Zutun der Berliner Opposition lautet die Maxime in der Gesundheitspolitik zurzeit zunehmend: Jeder ist sich selbst am nächsten.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu einem Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Garg das Wort.