Protokoll der Sitzung vom 28.04.2004

Das Weltwirtschaftsforum hat unter den vier wettbewerbsfähigsten Staaten drei skandinavische Länder aufgeführt: Finnland, Schweden und Dänemark. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum es in Dänemark 20 % mehr Arbeitsplätze pro Einwohner gibt als in Deutschland

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Weil Sie da nicht sind!)

und warum in den vergangenen zehn Jahren die Arbeitslosigkeit fast auf die Hälfte gesunken ist, während sie in Deutschland kontinuierlich stieg?

An den niedrigen Steuern kann es nicht liegen, denn die Steuerquote ist in diesen Ländern gegenüber Deutschland fast doppelt so hoch. An den schlechten Sozialsystemen kann es auch nicht liegen, denn die Sozialausgaben dieser Länder liegen erheblich über denen, die das deutsche Sozialversicherungssystem bereitstellt. An der niedrigen Staatsquote kann es auch nicht liegen, denn die Staatsquote liegt in diesen drei Ländern deutlich über 50 %, in Dänemark bei 55 %, im Durchschnitt also um circa 10 % höher als in Deutschland. Woran liegt es dann?

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Die Grünen ha- ben da nichts zu sagen!)

Sie kennen meine Antwort: Das Geheimnis liegt in der niedrigen Belastung der Einkommen, und zwar

nicht bei den Steuern, sondern bei den Sozialversicherungsbeiträgen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

In Dänemark betragen die Sozialversicherungsbeiträge nur 8 %, in Deutschland über 42 %. Das ist entscheidend. Denn Menschen mit niedrigem Einkommen zahlen kaum Steuern, sie zahlen aber Sozialversicherungsbeiträge. Diese wirken wie Strafsteuern auf einfache Arbeit und verhindern die Entstehung von Millionen Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich.

Deshalb ist es nahe liegend, dass ausgerechnet die nördlichste Regierung in Deutschland, nämlich im Bundesland Schleswig-Holstein, ein eigenes Steuermodell vorlegt. Es ist auch kein Wunder, dass sich ausgerechnet die Präsidenten der Handwerkskammern in Schleswig-Holstein für die Senkung der Lohnnebenkosten durch Erhöhung der Verbrauchsteuern aussprechen. Denn sie erfahren täglich, dass ein dänischer Handwerker seine Firma erheblich weniger kostet und trotzdem mehr in der Tasche hat.

Es ist auch kein Wunder, dass sich ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende der CDU in Schleswig-Holstein für eine Erhöhung der Verbrauchsteuern ausgesprochen hat.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Und wenn seine eigene Partei ihn noch so sehr dafür verprügelt: Der Mann hat Recht und ich werde ihn immer verteidigen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und vereinzelt bei der SPD)

Denn unsere mittelständische Wirtschaft leidet unter den hohen Lohnnebenkosten. Es ist kein Wunder, dass sich ausgerechnet die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein für eine Mehrwertsteuererhöhung ausgesprochen hat. Auch wenn ihre eigene Parteispitze sie in dieser Frage noch rügt, hier im Lande weiß jeder: Die Frau hat Recht. Und was richtig ist, muss auch gesagt werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie die skandinavischen Länder es schaffen, wesentlich mehr Geld in Bildung und in Zukunftstechnologien zu stecken? Stimmt es wirklich, wie immer behauptet wird, dass wir Steuern senken müssen, um international wettbewerbsfähig zu sein? - Ich denke nicht.

(Karl-Martin Hentschel)

Tatsächlich künden unsere Außenhandelszahlen davon, dass wir so wettbewerbsfähig sind wie noch nie zuvor. Die Außenhandelsüberschüsse haben im letzten Jahr erneut alle Rekorde übertroffen. Unser Problem ist nicht der mangelnde Export. Unser Problem ist die mangelnde Binnenkonjunktur. Unser Problem ist nicht die Exportfähigkeit, sondern die hohe Belastung der Arbeit, die dazu führt, dass arbeitsintensive Tätigkeiten ins Ausland verlagert werden.

Deshalb ist es richtig, dass diese Landesregierung allen Haushaltsengen zum Trotz die Zahl der Lehrerstellen erhöht hat, während Hessen und Niedersachsen diese gerade abbauen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist es richtig, dass anstelle von Steuersenkungen lieber mehr Geld in Bildung und in Zukunftstechnologien gesteckt wird. Deshalb begrüße ich die klare Aussage des Steuerkonzepts von SchleswigHolstein: Es gibt keinen Spielraum für weitergehende allgemeine Steuersenkungen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie kommt es, dass in anderen Ländern bereits ein Wachstum von 1 % ausreicht, um neue Arbeitsplätze zu schaffen? Haben Sie sich einmal angeschaut, wo in den USA und in Skandinavien Millionen neuer Arbeitsplätze entstanden sind?

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Diese Länder haben nicht mehr Arbeitsplätze in der Industrie und auch nicht in der Exportwirtschaft; sie haben Millionen mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich.

Im Export technologischer Spitzengüter sind wir Spitze. Dort wird das Geld verdient. Arbeitsplätze aber entstehen nur, wenn dieses Geld in Dienstleistungen umgesetzt wird. Wenn der VW-Arbeiter zum Friseur geht, der Friseur ins Restaurant geht, der Kellner anschließend den Handwerker bestellt und der Handwerker sein Geld für Lebensmittel zu einem Preis ausgibt, von dem der Verkäufer und der Bauer leben können, und der Verkäufer und der Bauer dann zu VW oder Mercedes gehen und einen Wagen kaufen, entsteht Vollbeschäftigung.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit der Vollbeschäftigung entsteht Binnenkonjunktur. Es werden Steuern gezahlt, die Sozialkassen bekommen Einnahmen, die Beiträge können gesenkt werden und die Konjunktur bekommt einen weiteren Impuls.

Mit unseren hohen Lohnnebenkosten wird genau diese Zirkulation der Einkommen verhindert. Der VW-Arbeiter geht seltener zum Friseur, wenn der Friseur das Doppelte kostet. Der Friseur geht seltener ins Restaurant, wenn der Kellner das Doppelte kostet. Der Kellner gibt dem Handwerker keinen Auftrag. Der Handwerker kauft nur die billigste Wurst bei Aldi. Der Verkäufer und der Bauer fahren ihren VW oder Mercedes noch zwei Jahre länger. So wird in Deutschland die Konjunktur systematisch abgewürgt.

Unser System ist optimal auf die Bedürfnisse der großen Industrie ausgerichtet. Die große Industrie kann nämlich mit immer weniger Beschäftigten immer noch Außenhandelsrekorde einfahren. Aber die kleinen Betriebe in Schleswig-Holstein können das nicht. Die Handwerker, die Softwareschmieden, die Beratungsfirmen, das Hotel- und Gaststättengewerbe, die Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen - wenn es nicht feste Gebühren gäbe, wären auch die Rechtsanwälte betroffen -, alle diese kleinen Firmen, die für Schleswig-Holstein so typisch sind, können das nicht. Während die Großindustrie Personalkosten oft von unter 20 % hat, haben unsere kleinen Dienstleister in Schleswig-Holstein Personalkostenanteile von weit über 50 %. Sie sind es, die unter unserem System leiden und ächzen, auch wenn noch so viel Außenhandelsüberschüsse erwirtschaftet werden.

Deshalb ist es kein Zufall, dass ausgerechnet die rotgrüne Regierung in Schleswig-Holstein ein eigenes Steuerkonzept vorgelegt hat. Es ist keine spleenige Idee der Ministerpräsidentin. Nein, Frau Simonis vertritt mit diesem Steuerkonzept die ureigensten Interessen unseres Landes,

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

eines Landes, dessen Wirtschaft durch kleine Dienstleister, Handwerker und Softwareschmieden geprägt wird.

Haben Sie sich schon einmal gefragt

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Warum haben wir so viele Arbeitslose? - Zuruf des Abgeordne- ten Wolfgang Kubicki [FDP])

- Herr Kubicki, Ihr Problem ist, dass Sie überhaupt keine Fragen stellen; das ist Ihr Problem -, warum in anderen Industriestaaten die Erwerbsquote von Frauen deutlich höher liegt als in Deutschland, warum nicht nur in den skandinavischen Ländern, sondern auch in den USA und in England erheblich mehr Frauen in Spitzenpositionen zu finden sind? Könnte es sein, dass das etwas damit zu tun hat, dass in ande

(Karl-Martin Hentschel)

ren Ländern nicht der Trauschein, sondern die Kinder gefördert werden?

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich glaube, auch das ist kein Zufall. Es ist längst an der Zeit, dass endlich ein Steuerkonzept auf den Tisch gelegt wird, das das Ehegattensplitting abschafft und das alle Kinder gleich behandelt.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube auch, dass es kein Zufall ist, dass dieses Konzept ausgerechnet von einer Landesregierung vorgelegt wird, in der die Hälfte der Kabinettsmitglieder Frauen sind.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Botschaft dieses Steuerkonzeptes lautet: Familie ist dort, wo Kinder sind, egal, ob mit oder ohne Trauschein.

Es wird endlich Zeit, dass die Potenziale von Millionen gut ausgebildeter Frauen in Deutschland nicht länger brachliegen, weil wir ein falsches Steuersystem haben.

Ich habe noch mehr Fragen. Eine weitere Frage: Warum stehen Länder, die die höchsten Ökosteuersätze haben, in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit an der Spitze? Das ist doch erstaunlich. Warum ist die US-Autoindustrie trotz niedrigster Steuern auf PKW und Benzin international nicht konkurrenzfähig? Das ist doch auch erstaunlich. Ist das ein Zufall?

Wer ökologisch negative Auswirkungen nicht mit Kosten belegt und sogar noch belohnt, sorgt dafür, umweltschädliche Verhaltensweisen mit Milliarden Folgekosten durch den Steuerzahler zu subventionieren. Deswegen ist es richtig, dass die Eigenheimzulage und die Entfernungspauschale schrittweise abgebaut werden.

Ich bedanke mich an dieser Stelle ausgerechnet bei der CDU. Sie können jetzt einmal zuhören, auch wenn Sie sonst gern weghören. Auf Bundesebene hat die CDU diesen grünen Weg tatsächlich konsequent unterstützt, sogar gegen den ökologisch kurzsichtigen Populismus ihrer bayerischen Schwesterpartei. Ich bedaure allerdings, dass sich die schleswig-holsteinischen CDU-Parlamentarier - so ist das in allen Diskussionen, die ich hier erlebe - weit hinter dieser Position zurück sind und die Subventionen in diesen Bereichen immer wieder verteidigen.

Ich würde mich freuen, wenn es den konsequenten Steuerpolitikern und den Umweltpolitikern aller Parteien gelänge, sich in dieser Frage durchzusetzen und

den Abbau von umweltschädlichen Subventionen noch schneller voranzubringen.