Protokoll der Sitzung vom 18.06.2004

ganz Europa. Sie bedeutet andererseits aber auch eine Zunahme der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten innerhalb der Europäischen Union. Europa muss deshalb in einem schwierigen Umfeld für fast alle Länder einen Weg finden, um einen Ausgleich zwischen Haushaltszwängen und dem Gebot der Solidarität zu schaffen.

Unterstützung für die schwachen Regionen in den Beitrittsländern wird oberste Priorität bei einer neuen Kohäsionspolitik haben. Dennoch müssen auch weiterhin die Regionen in der bisherigen Europäischen Union Unterstützung erhalten, die den wirtschaftlichen Aufholprozess noch nicht abgeschlossen haben. Darüber hinaus beanspruchen die alten und neuen Grenzregionen besondere Förderung, da sie die Hauptanpassungslast der Erweiterung zu tragen haben.

Der 3. Kohäsionsbericht der Europäischen Kommission vom 18. Februar 2004 umfasst etwas mehr als 200 Seiten. Er beinhaltet Vorschläge zur Finanzierung und Verteilung der Mittel für den Zeitraum von 2007 bis 2013. Allerdings gibt es für die nächste Förderperiode bis 2013 noch keine belastbaren Ergebnisse. Gesicherte Schlussfolgerungen für SchleswigHolstein und für die Regionalpolitik sind deshalb noch nicht möglich. Ein Versuch der Landesregierung, erste konkrete Aussagen zu machen, wäre aber schon bedeutend gewesen. Sie sind doch sonst nicht so sparsam mit Prognosen. Ich erinnere nur an das Wirtschaftsstrategiepapier für den Zeitraum bis 2020. Dieses Papier ist zwar nicht bedeutend, aber ich hätte schon erwartet, dass hier in Bezug auf die Regionalpolitik ein erster Versuch gestartet wird.

Welches sind nun die Hauptaufgaben und welches die Grundlagen für die Gestaltung eine Kohäsionspolitik, wie sie in dem Bericht beschrieben ist? Im März 2000 - die Frau Ministerpräsidentin erwähnte das bereits - setzte sich die Europäische Union beim Gipfeltreffen in Lissabon dafür ein, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Die europäische Kohäsionspolitik will dazu einen wichtigen Beitrag leisten, fordert aber von den Ländern und Regionen selbst einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Rahmenbedingungen. Die Landesregierung müsste sich jetzt darauf konzentrieren, diese Rahmenbedingungen schon einmal zu verbessern.

Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitglieder hat das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt um 12,5 % gesenkt. Das bedeutet, dass einige Regionen, die bisher zum Ziel-1-Gebiet gehören, nun in das Ziel-2-Gebiet kommen, andere wiederum aus dem Ziel-2-Gebiet in das Ziel-3-Gebiet. Zu

(Manfred Ritzek)

den Ziel-2-Regionen gehören auch viele schleswigholsteinische Fördergebiete.

Es ist unzweifelhaft, dass die Regionen in den neuen EU-Ländern gefördert werden müssen. Die Ziel-1- und die Ziel-2-Gebiete der bisherigen 15 Mitgliedstaaten dürfen aber nicht von jeder Förderung ausgeschlossen werden, insbesondere dann nicht, wenn der Ausschluss nur auf den statistischen Effekt der Erweiterung zurückzuführen ist. Eine solche Verschiebung der EU-Fördermittel von West nach Ost, ein Rückzug der Europäischen Union aus der Raumentwicklungs- und Regionalpolitik sowie aus Gemeinschaftsinitiativen wie INTERREG III, URBAN II, LEADER und EQUAL hätte fatale Folgen für städtische Gebiete, ländliche Regionen und vor allem für Grenzregionen auch in Schleswig-Holstein.

(Beifall bei der CDU)

Woher aber sollen in welcher Höhe die Finanzmittel kommen? Klar ist, dass eine unveränderte Fortschreibung des jetzigen Finanzierungssystems auf die neuen EU-Mitgliedsländer bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage fast aller Regionen unfinanzierbar ist. Nach den Vorstellungen der Kommission sollen die realen Ausgaben der EU-Mitglieder im Durchschnitt 1,4 % des Bruttoinlandsprodukts betragen. Die sechs Geberländer - darunter Deutschland als größter Nettozahler - fordern, dass das EUAusgabevolumen auf 1 % des Bruttoinlandsprodukts begrenzt wird. Deutschland, Großbritannien und Österreich haben erklärt, dass ihre Vorstellung über die Finanzierung nicht verhandelbar sei. Das wäre katastrophal für Schleswig-Holstein, denn gerade die Marge zwischen 1 und 1,4 % macht den Betrag aus, der für die Fortsetzung der regionalen Förderprogramme entscheidend ist.

Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Kommissions- und Länderinteressen ist noch riesengroß. Die europäische Kohäsionspolitik ist Ausdruck der Solidarität zwischen den Ländern und Regionen Europas. Wir in Schleswig-Holstein haben die Aufgabe, einen angemessenen Anteil der Mittel für unsere Regionen zu sichern. Das ist primäre Aufgabe der Landesregierung. Wir erwarten ihren Einsatz dafür.

Ich beantrage Kenntnisnahme des Berichtes.

(Beifall bei CDU und FDP)

Ich erteile der Frau Abgeordneten Rodust das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem 3. Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der EU, dem Kohäsionsbericht, tritt die Diskussion über die Zukunft der Strukturfonds in eine neue Phase ein. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass wir uns heute mit diesem Thema beschäftigen, um Möglichkeiten der politischen Willensbildung und Einflussnahme auszuloten. Was wir in diesem Jahr nicht auf den Weg gebracht haben, hat kaum eine Chance auf Berücksichtigung. Im Jahre 2005 wird alles festgezurrt sein.

Die europäische Strukturpolitik baut Entwicklungsrückstände ab und fördert die Wettbewerbsfähigkeit rückständiger Regionen. Wir stehen deshalb uneingeschränkt hinter dieser Politik.

Wenn wir für die Regionalpolitik künftig 0,41 % des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union verwenden, ist es auch richtig, davon 78 % für das Ziel1-Gebiet und 4 % für URBAN zur Verfügung zu stellen. Die übrigen 18 % sind für weitere Förderungen im Rahmen der Ziel-2-Förderung erforderlich. Auch das gehört zur solidarischen Entwicklung in der Europäischen Union: Wir können nicht nur ein Interesse daran haben, dass die Schwachen stark werden, sondern wir müssen auch ein Interesse daran haben, dass die Starken stark bleiben.

(Beifall bei SPD und SSW)

Wir haben in den vergangenen Monaten deutlich gemacht - ich im AdR in Brüssel, die Regierung in Berlin und auch in der Diskussion im Europaausschuss -, dass wir weiterhin, und zwar nicht allein, sondern zusammen mit den anderen europäischen Ziel-2-Regionen auf eine besondere Strukturförderung durch die Europäische Union angewiesen sind. Gerade für Schleswig-Holstein kommt der europäischen Strukturpolitik eine besondere Bedeutung zu, denn die schleswig-holsteinischen Ziel-2- und Ziel-3Programme haben den Handlungsspielraum unserer regionalen Struktur- und Arbeitsmarktpolitik sowohl quantitativ als auch qualitativ erheblich erweitert. Ich erinnere daran, dass wir in der Förderperiode 2000 bis 2006 aus den Strukturfonds bisher circa 650 Millionen €, die im Rahmen der Landesinitiative ziel - Zukunft im eigenen Land - eingesetzt werden, erhalten haben. Dazu kommen im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative noch weitere Strukturfondsmittel in Höhe von circa 31 Millionen €.

Wie übereinstimmenden Äußerungen auf Europa-, Bundes- und Landesebene zu entnehmen ist, soll von den Gemeinschaftsinitiativen zumindest das INTERREG-Programm aufgrund des eindeutigen euro

(Ulrike Rodust)

päischen Mehrwerts weitergeführt werden. Die Diskussion über das mögliche Nachfolgeprogramm für INTERREG muss im Zusammenhang mit der Debatte über die Sicherung der Zukunft der Euregios gesehen werden. Es ist daher sehr wichtig, den Diskussionsprozess zu beobachten, um gegebenenfalls frühzeitig reagieren zu können. Es ist noch nicht endgültig geklärt, ob sich die Förderung weiterhin auf die Binnengrenzen oder ab 2007 nur noch auf die alten beziehungsweise die neuen EU-Außengrenzen beziehen soll. Hier muss sich das Land klar positionieren. Es gilt auch dem Versuch entgegenzuwirken, europäische Fördermittel zukünftig nur zentral zu verteilen, da dies die Grenzregionen - zumal jene mit Binnengrenzen - benachteiligen würde.

Zeitgleich mit dem Kohäsionsbericht hat die Kommission ihre Vorschläge für den künftigen Finanzrahmen für 2007 bis 2013 vorgelegt. Danach würde, wie die Ministerpräsidentin berichtete, das durchschnittliche Volumen der Gesamtausgaben der erweiterten EU in dieser Periode bei 1,14 % des Bruttonationaleinkommens liegen. Hier ist sicher Vorsicht geboten. Einerseits sind die Bundesregierung und die Regierungen fünf weiterer Staaten nicht bereit, mehr als 1 % des Bruttonationaleinkommens zu zahlen, da die Nationalhaushalte der Nettozahler im Moment nichts anderes mehr hergeben; andererseits sind die Aufgaben durch die Erweiterung für die EU vehement gewachsen. Kommissarin Schreyer schlägt vor, die ostdeutschen Länder aus der Ziel-1-Förderung zu entlassen. Die Bundesregierung denkt laut über eine Ziel-2-Förderung in Höhe von 5 bis 10 % nach.

Wir in Schleswig-Holstein benötigen dringend diese 18 %. Die Bundesregierung wird, wenn sie 1,14 % zahlen soll, die Differenz von den Ländern zurückholen. Das Problem ist: Der Bund ist Nettozahler, die Länder sind Nettoempfänger. Wir haben es also mit ganz andere Interessen zu tun. Außerdem gibt es zwischen den Ländern Differenzen zwischen Arm und Reich und zwischen Rot und Schwarz.

Ich möchte an dieser Stelle vor Streit warnen. Wir, die Länder, müssen genau aufpassen, dass wir am Ende nicht die Verlierer sind. Deshalb sollten wir dieses Thema nicht aus den Augen verlieren und im Europaausschuss weiter beraten, um am Ende eine Einigkeit zu erzielen.

Zusammenfassung: Um eine realistische und zukunftweisende Position zur Reform der Strukturpolitik

(Glocke des Präsidenten)

zu erarbeiten, muss eine Balance zwischen drei berechtigten Interessen gefunden werden. Das Interesse

Schleswig-Holsteins ist darauf gerichtet, auch weiter in einigen Teilen unseres Landes den schwierigen und langwierigen wirtschaftlichen Entwicklungsprozess, der durch die Strukturfonds unterstützt wird, nicht vorzeitig abzubrechen. Unser bundesdeutsches Interesse muss unter anderem darauf zielen, eine zusätzliche Verschlechterung der Nettozahlerposition zu verhindern. Unser europäisches Interesse schließlich zielt darauf, das Instrument

(Glocke des Präsidenten)

- ich komme zum letzten Satz - der Europäischen Strukturfonds auf die antizipierte künftige Entwicklung auszurichten und bewährte Ziele, Strukturen und Verfahren beizubehalten beziehungsweise effizienter zu gestalten. Darum bitte ich, dass wir im Europaausschuss weiter diskutieren.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich erteile Frau Abgeordneter Kolb das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anfang Mai sind der Europäischen Union zehn neue Staaten beigetreten. Wir alle sind froh darüber. In Europa wächst wieder zusammen, was der Totalitarismus getrennt hatte, obwohl es zusammengehörte. Um das Zusammenwachsen zu beschleunigen, wird die Europäische Union den neuen Teil des Europäischen Gartens kräftig düngen - mit Geld aus dem älteren, reicheren Teil Europas. Auf Europäisch heißt das Kohäsion, das Ziel Konvergenz und bezahlt wird es aus dem Strukturfonds. Es wird lange dauern, es wird viel Geld kosten, aber es ist den Preis wert. Genauso wie bei der deutschen Einheit.

Lange dauern heißt Jahrzehnte: Bei einer angenommenen Konvergenzgeschwindigkeit der Pro-KopfEinkommen von 1,5 % pro Jahr dauert es durchschnittlich 46 Jahre, bis die Hälfte des Rückstandes der Beitrittsländer abgebaut ist. Und dann nähern sie sich erst der Grenze von zwei Dritteln des EUDurchschnittes. Selbstverständlich wird es in einigen Regionen und Ländern schneller gehen - umso besser. Und es ist schneller als in Deutschland, denn zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es derzeit keine.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Schleswig-Holstein könnte sich freuen. Durch den Beitritt gehören wir in Europa nicht mehr zu den Rückständigen. Bei fast allen Indikatoren, die im Kohäsionsbericht bewertet

(Veronika Kolb)

werden, liegen wir jetzt am oder über dem EUDurchschnitt. Das ist toll.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Das Beste aller Ostländer!)

Es gibt nur ein kleines Problem: Bei uns ist nichts besser geworden - nur die Maßstäbe wurden verrückt. Das ist der gleiche Effekt, als wenn Bill Gates in eine volle Kneipe geht: Rechnerisch sind dann alle Gäste vielfache Millionäre - ohne dass einer einen Cent mehr hat als vorher.

Aber da wir jetzt überdurchschnittlich sind, bräuchte die EU die Konvergenz Schleswig-Holsteins zum europäischen Durchschnitt nicht mehr zu fördern. Diese absehbare Tendenz wird durch die Bundesregierung verstärkt. Sie will nicht mehr Geld nach Brüssel zahlen. Auch deshalb wird die Europäische Union sich noch stärker darauf konzentrieren,

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Müssen!)

ihr Geld dort zu investieren, wo es den höchsten Ertrag abwirft. Und das ist sicher nicht in SchleswigHolstein. Hier ist das neue europäische Klassenziel ja schon erreicht.

Da sind sie wieder, die drei Probleme von Rot-Grün in Kiel: kein Geld, kein Konzept und keine Ahnung, wie es weitergeht!

(Beifall bei FDP und CDU)

Erstens. Rot-Grün hat kein Geld. Deutschland will nicht mehr an Brüssel zahlen, Brüssel aber mehr an die Beitrittsländer. Das heißt, Schleswig-Holstein bekommt auf jeden Fall weniger, wahrscheinlich kaum noch etwas oder vielleicht sogar gar nichts - unabhängig von allen rot-grünen Beteuerungen.

Zweitens. Rot-Grün hat kein Konzept. Eigene Ideen, um Schleswig-Holstein nach vorn zu bringen, lässt Frau Simonis seit 1988 vermissen. Der Chef von Björn Engholms Denkfabrik, heute Wirtschaftsminister, fantasiert nur noch von Haufen, die Erklärung für seine Cluster. Wenn sich bei uns strukturpolitisch überhaupt etwas bewegt, dann bezahlt entweder Berlin oder Brüssel. Die gesamte strukturpolitische Strategie von Rot-Grün ist auf Ländersozialhilfe der Bundesrepublik oder der EU ausgerichtet.

Nun hat Rot-Grün auch noch den Bund ruiniert. Nicht einmal für die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur ist noch Geld da. Wie gesagt, nach Brüssel wollen Schröder, Eichel und Co. nicht mehr als bisher zahlen. Also wird Brüssel auch nur noch sehr wenig Geld nach SchleswigHolstein überweisen können. Außerdem werden die meisten Menschen einsehen, dass es sinnvoller ist,

zunächst einen Großteil der Haushalte in den osteuropäischen Beitrittsländern mit Warmwasser und Toiletten zu versorgen, als bei uns Strandpromenaden zu erneuern. Folge: Der letzte Rest der strukturpolitischen Versuchsreihe bricht zusammen.

Drittens. Rot-Grün hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll.

(Ursula Kähler [SPD]: Sie machen auch kei- ne Vorschläge!)